Citizen Science, also „Bürgerwissenschaft“, gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert. Bürgerforscher zählen Singvögel, beobachten den Sternenhimmel oder messen Luftverschmutzung, um die Daten anschließend mit der Crowd auszuwerten. Durch das Internet hat Citizen Science noch einmal kräftig an Tempo gewonnen: Plattformen wie buergerschaffenwissen.de bieten viele Mitmachprojekte. Auch Computerspiele eignen sich hervorragend für Citizen Science - das beweist Eve Online gerade mit seinem „Project Discovery“.
Von Achim Fehrenbach
Die Weltraumbehörde Concord wählte deutliche Worte. „New Eden hat es mit einer viralen Bedrohung zu tun, die es so noch nicht gegeben hat“, hieß es in einem Aufruf an die Weltraumpilotinnen und -piloten von Eve Online, die auch als Capsuleers bekannt sind. Die Nachricht: Das Coronavirus breite sich rasch im gesamten Sternenverbund aus, doch man habe bereits ein Forschungsprojekt gestartet – mit dem Ziel, das Virus zu entschlüsseln. Und weiter: „Wir suchen Capsuleers wie dich, die unserem Team von Datenanalysten in diesem Kampf beistehen.“
Eve Online ist ein echter Dauerbrenner unter den Massively Multiplayer Online, kurz: MMO, Games. Das Rollenspiel des isländischen Studios CCP Games hat mittlerweile 17 Jahre auf dem Buckel – und ist berühmt-berüchtigt für seine Komplexität. Die Capsuleers düsen durch mehr als 8000 zusammenhängende Sternensysteme, kabbeln sich um Ressourcen, konstruieren Raumschiffe, treiben Rohstoff- und Ausrüstungshandel, schmieden Allianzen und fechten gewaltige Weltraumschlachten aus. Nebenbei helfen sie auch der ganz realen Wissenschaft. Mit Project Discovery hat CCP ein Projekt zweier Universitäten in das Weltraumspiel eingebaut. Forschungsteams der McGill University Montreal und der Universität Modena und Reggio Emilia wollen herausfinden, wie Zellen des Immunsystems auf das neue Coronavirus reagieren. Mit diesem Wissen lassen sich dann vielleicht Therapien und Impfstoffe entwickeln – oder die bisher geleistete Forschung ergänzen.
Ihre Daten sammeln die Forscherinnen und Forscher mit der sogenannten Durchflusszytometrie. In diesem Verfahren wird Blut durch ein Röhrchen an einem Laser-Scanner vorbeigeleitet. Der Scan liefert mehrdimensionale Punktewolken, die Aufschluss über die Verteilung bestimmter Zelltypen geben. Der Clou: Die Eve-Spieler analysieren zweidimensionale Schnittbilder dieser Scans. Wie das funktioniert? Sie umranden nach Augenmaß die verschiedenen Punktewolken mit der Computermaus. Je exakter sie dabei vorgehen, desto höhere Belohnungen erhalten sie in Eve : Zum Beispiel virtuelle Kisten voller Ausrüstungsgegenstände, die als Upgrade für die Raumschiffe dienen.
Einer der Initiatioren des Projektes ist der Schweizer Attila Szantner, Mitgründer und Leiter von Massively Multiplayer Online Science, kurz: MMOS. Ziel dieser Plattform ist es, Citizen Science und stark frequentierte Computerspiele zusammenzubringen. In Eve beispielsweise sind monatlich rund 300.000 Menschen unterwegs.
„Es geht darum, wissenschaftliche Kleinstaufgaben nahtlos in das Spiel zu integrieren“, sagt Attila Szantner über das Ziel von MMOS. Die Herausforderung sei, diese Aufgaben mit der Lore, also der Erzählung, dem Belohnungssystem, mit Gameplay und Grafik zu verknüpfen. „Dadurch gelingt es uns, Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Citizen-Science-Projekten auch langfristig zu motivieren“, sagt Szantner. „Wir zapfen praktisch unbegrenzte Ressourcen für die wissenschaftliche Forschung an. Das ist unsere Innovation in diesem Bereich.“
MMOS arbeitet auch mit den Machern des Sci-Fi-Titels Borderlands 3 zusammen. In der Spielwelt stehen virtuelle Arcade-Automaten, an denen man Rätsel mit bunten Steinchen lösen kann. Die daraus gewonnenen Daten helfen der Wissenschaft, das Mikrobiom des menschlichen Darms zu entschlüsseln. Rund 700.000 Gamer haben so bereits im ersten Monats 36 Millionen Rätsel gelöst – was einer Spielzeit von 86 realen Jahren entspricht.
Auch bei Boderlands 3 wird geforscht.
Gamification der Wissenschaft? Oder Seriousification von Games?
In Eve Online ist das Covid-19-Projekt bereits die dritte Citizen-Science-Kampagne und damit die dritte Stufe von Project Discovery. 2016 startete der Human Protein Atlas zur Untersuchung menschlicher Zellen. Ab 2018 untersuchten die Capsuleers dann Aufnahmen eines Weltraumteleskops, um Hinweise auf Exoplaneten zu finden. Beide Vorhaben funktionierten hervorragend, hunderttausende Capsuleers forschten mit Begeisterung mit. Auch die dritte Stufe, das Corona-Forschungsprojekt, legte einen Blitzstart hin. Schon nach einer Woche hatten 34.000 Eve -Spielerinnen und Spieler insgesamt 3,8 Millionen Scans analysiert.
Die Kombination von Spielen und Citizen Science ist also eine Erfolgsgeschichte. Und es finden sich immer mehr vergleichbare Projekte, denn immer mehr Bürgerwissenschaftsprojekte gamifizieren ihre Aufgaben: Auf oldweather.org etwa lassen sich alte Schiffslogbücher transkribieren und auf diese Weise historische Wetterdaten rekonstruieren: Wer teilnimmt, geht dabei – virtuell – an Bord berühmter Schiffe wie der HMS Beagle von Charles Darwin.
Bei Old Weather werden historische Wetterdaten spielerisch rekonstruiert.
Das Projekt EyeWire erforscht Verbindungen zwischen den Neuronen in der Netzhaut. Dafür färben Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler die Verbindungen in einem Würfel bunt ein – und werden für besonders schnelles und präzises Arbeiten mit Highscores belohnt.
Auch Citizen-Science-Plattformen wie Bürger schaffen Wissen sehen Games als Chance. Die Koordinatorin Wiebke Brink sagt: „Über den spielerischen Zugang kann Interesse für Themen geweckt werden, die sonst vielleicht nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken würden, weil sie zum Beispiel keinen Bezug zum Alltag der Menschen haben oder sehr fachspezifisch sind.“ Natürlich sei es aber wichtig, bestimmte Prüfmechanismen einzubauen, betont Brink – nur so erhalte man am Ende auch valide Daten. „Das kann zum Beispiel erreicht werden, indem ein Datensatz mehrfach bearbeitet wird oder es Probedatensätze gibt, mit denen man sich qualifiziert, bevor man die richtigen Datensätze bearbeiten kann.“ Ihr Fazit: „Citizen Science mit Games oder Gamification-Elementen zu verknüpfen hat grundsätzlich großes Potenzial.“
Grundsätzlich lohnt es sich aber, genauer hinzuschauen. Ist Project Discovery vielleicht nur ein PR-Stunt? Nur der Versuch, ein kommerzielles Spiel wissenschaftlich zu verbrämen? Wir wollten von den Beteiligten wissen, warum Durchflusszytometrie-Daten nicht von einer Künstlichen Intelligenz analysiert werden können. Ginge das nicht viel schneller, als abertausende Capsuleers mit der Analyse zu beauftragen?
Ryan Brinkman, dessen Bioinformatik-Labor in Vancouver die Daten liefert, gibt bereitwillig Auskunft. „Das Trainieren einer KI für Durchflusszytometrie stellt uns vor große Herausforderungen“, sagt Brinkman. „Diese Daten können bis zu vierzig verschiedene Dimensionen haben.“ Folglich variierten auch die Größe, Form und Verteilung der enthaltenen Immunzellen-Populationen sehr stark. Künstliche Intelligenz habe große Probleme, diese komplexen Strukturen zuverlässig zu erkennen. Um leistungsfähige Algorithmen zu erzeugen, würden zuverlässige Trainingsdaten benötigt – genau solche Daten, wie sie die Capsuleers lieferten. Derzeit seien KI-Algorithmen der menschlichen Wahrnehmung, die auf Jahrmillionen der Evolution beruhe, noch längst nicht ebenbürtig: „Unsere Augen sind extrem gut im Erkennen von Mustern und Formen.“ Aus Brinkmans Sicht kann Project Discovery entscheidend zur Forschung beitragen: „Es wird Daten hervorbringen, mit denen Wissenschaftler noch jahrelang arbeiten können.“
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Jetzt Mitglied werden!Auch Brinkmans Kollege Jérôme Waldispühl betont die Bedeutung des Projekts: „Unser Ziel ist, Punktewolken aus Bildern zu gruppieren. Aber die genauen Grenzen dieser Punktegruppen sind sehr subjektiv“, so der Bioinformatiker von der McGill University. „Es gibt keine universell akzeptierte Bewertungsfunktion für die Qualität eines Clusters – andernfalls hätte man das Problem leicht mit einem entsprechenden Algorithmus lösen können.“ Letztendlich hänge das Auftreten eines Clusters von der übereinstimmenden Meinung mehrerer Menschen ab: „Genau das wollen wir erreichen“, so Waldispühl: „Menschen, die darauf trainiert sind, sollen Cluster definieren – und daraus soll dann eine Konsenslösung berechnet werden.“ Mit den so gewonnenen, händisch kuratierten Daten könnten dann KI-Algorithmen erschaffen werden.
Eine neue Form der Wissenschaftsvermittlung
Attila Szantner sieht Initiativen wie Projekte Discovery aber nicht nur als Datenlieferanten für die Wissenschaft: „Genauso wichtig ist, dass sie eine einzigartige Gelegenheit der Wissenschaftsvermittlung bieten. Die Forscher können die Spieler-Communitys erklären, was sie tun, warum sie es tun und warum das so wichtig ist.“ Szantner ist zuversichtlich: Mit Project Discovery habe das öffentliche Verständnis von Durchflusszytometrie deutlich zugenommen. Und damit auch die Bekanntheit der Coronavirus-Forschung insgesamt.
Titelbild: Dr. Andrea Cossarizza ist Professor für Immunologie an der Universität Modena und Reggio Emilia. Er lieferte Project Discovery wertvolle Daten vom Coronavirus-Ausbruch in Italien. Im Computerspiel Eve Online präsentiert sein Avatar die Forschungsaufgabe. CCP