Palmyra ist eine antike Oasenstadt im heutigen Syrien. Für viele Menschen ist sie eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit. Doch vor wenigen Jahren wurde das Weltkulturerbe vom IS weitestgehend zerstört. Menschen wie Zaid Zaim versuchen die verlorenen Tempel, Plätze, Höfe und Straßen wiederauferstehen zu lassen – zumindest digital.
Von Dom Schott
Frühjahr 2017 im Herzen Syriens: Mit Dynamit und Raketenwerfern zerstört die Terrormiliz IS die griechisch-römischen Triumphbögen, Theaterfassaden und Säulengänge der antiken Stadt Palmyra. 2000 Jahre Baugeschichte werden innerhalb von Sekunden zu Staub und Schutt im Wüstenboden. Aber hier ging noch mehr verloren, als nur ein Teil des berühmten UNESCO-Weltkulturerbes. In jenen Tagen wurde auch ein Teil der syrischen Identität zerstört. Palmyra war und ist ein Symbol für die Geschichtsträchtigkeit des vom Krieg gebeutelten Landes, ein wichtiger Erinnerungsort für die Menschen dieser Region.
Zaid Zaim ist einer dieser Menschen, die sich mit der antiken Stadt persönlich verbunden fühlen. Er wuchs in Damaskus auf, einen Tagesausflug von der antiken Kulturstätte entfernt. Als Kind besuchte der heute 19-jährige Syrer mit seinen Eltern die berühmte Siedlung und verbindet bis heute viele schöne Erinnerungen mit Palmyra. Die weitläufige Zerstörung des Ortes durch die Terrormiliz traf Zaid schwer, wie er im Interview mit 1E9 erzählt: „Ich hatte Tränen in den Augen, als ich die Zerstörungen sah. Das war für mich ein sehr emotionaler Moment.“
Die Bilder der Verwüstung begleiten Zaid seine gesamte Kindheit, bis er schließlich einen Weg entdeckte, wie er das verloren gegangene Palmyra wieder auferstehen lassen kann: Als virtuelle Simulation, mit der Besucher interagieren können, als wären sie selbst in der berühmten Oasenstadt und würden das Weltkulturerbe mit eigenen Augen vor sich sehen. Es war der Startschuss für ein ambitioniertes Mixed-Reality-Projekt.
Hier kannst du dir die Folge unseres Podcasts New Realities anhören, in der Zaid Zaim über sein Projekt berichtet. Alternativ kannst du den Podcast auch bei Podigee, Spotify, Deezer und bei Apple Music hören und abonnieren.
Technologie zum Anfassen
Heute lebt Zaid in Deutschland. Jahre nach dem Besuch in Palmyra flohen seine Eltern mit ihm vor dem Krieg aus Syrien nach Berlin, gründeten einen neuen Lebensmittelpunkt. Hier wurde der technikaffine Teenager an der ReDi School of Digital Integration aufgenommen, einer Schule für Geflüchtete, die hier in unterschiedlichen IT-Fachrichtungen ausgebildet werden, um sie besser in die Arbeitswelt zu integrieren. Und hier war auch der Ort, an dem Zaid auf die Idee kam, die Ruinen von Palmyra wieder aufzurichten — und zwar in der virtuellen Welt.
Seine Vision: Interessierte sollen mit Hilfe der HoloLens, einer Mixed-Reality-Brille von Microsoft, die virtuelle Rekonstruktion des antiken Palmyra entdecken und das Weltkulturerbe eingehend studieren, wie es vor der Zerstörung ausgesehen hat. Der HoloLens-Träger sieht ein 3D-Modell der Anlage direkt vor seinen Augen, kann es frei drehen und neigen. Das virtuelle Palmyra soll so nah und greifbar wie nur irgendwie möglich sein.
Die Idee kam ihm über Umwege. Immer wieder sprach Zaid mit seinen Freunden in Deutschland wehmütig über den Verlust Palmyras. Inspiration für sein Projekt fand er aber erst im Gespräch mit dem Microsoft-Mitarbeiter Matthias Buchhorn, der ihn dazu anregte, Palmyra in der virtuellen Welt zu rekonstruieren und seine Erinnerungen an das Weltkulturerbe vor der Zerstörung auch für andere Menschen erfahrbar zu machen: „Mit dieser Technologie können wir in den Köpfen der Menschen ein historisches Bewusstsein erzeugen und sie für diese Stätte begeistern.“
Zaid betont, wie sehr er der ReDi-School und dem Partnerunternehmen Microsoft für die Unterstützung bei seiner Arbeit dankt, ohne die er sein Projekt niemals hätte beginnen können. Im Interview beschreibt er die Begegnung mit Matthias Buchhorn als „allerschönstes Glück“. Interessiert hat den Teenager die virtuelle und augmentierte Welt zwar schon immer — aber es war ihm kaum möglich, sich auf eigene Faust weiterzubilden und näher mit der spannenden Technologie zum Anfassen auseinanderzusetzen. „Vor der ReDi-School habe ich Online-Kurse über Mixed Reality belegt, die die meisten kosten ab der zweiten Woche 400 Euro und mehr“, sagt er. „Das konnte ich mir nicht leisten und war wirklich traurig darüber.“
Ein ständiger Lernprozess
Zaid Zaims Arbeit an seinem Mixed-Reality-Projekt besteht aus zwei großen Teilen. Zum einen programmiert er die 3D-Modelle Palmyras so, dass sie mit der HoloLens als frei bewegliche Objekte im virtuellen Raum betrachtet werden können. Auch den Zerstörungsgrad der antiken Stätte will er visualisieren, um den virtuellen Besuchern zu veranschaulichen, was die Terrormiliz dem Weltkulturerbe angetan hat – aber auch, um transparent zu machen, wie schwer die korrekte Rekonstruktion heute ist.
Für diese Visualisierung greift Zaid auf die Modelle von New Palmyra zurück – eine offene, spendenfinanzierte Datenbank, die 3D-Rekonstruktionen, Fotografien und Pläne von Kulturerbe-Stätten sammelt und verfügbar macht. Auf die Datenbank ist er angewiesen, weil ihm die Ressourcen und technischen Fähigkeiten fehlen, selbst Modelle zu erstellen. Das will er in Zukunft aber ändern: „Mir fehlt ja auch das historische Wissen dafür, deswegen will ich am liebsten einmal mit Historikern zusammenarbeiten, die mir dabei helfen können.“
Zum anderen kümmert sich Zaid intensiv um Networking. Er versucht, Kontakte in der Tech-Branche zu knüpfen, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen und mit ihm Möglichkeiten finden, noch mehr Menschen auf das Projekt aufmerksam zu machen – immerhin geht es ihm ja vor allem darum, möglichst viele Interessierte mit der Geschichte Palmyras vertraut zu machen, die ihm so wichtig ist. Noch ist seine virtuelle Rekonstruktion nicht abgeschlossen, doch er plant bereits eine kleine Ausstellung und will darüber hinaus Museen dafür gewinnen, die HoloLens zeitweise in ihre Exponatesammlung aufzunehmen.
Zaid ist sichtlich begeistert von der Technologie und den Möglichkeiten, die ihm die HoloLens eröffnet. Auf Nachfrage fällt ihm nur ein Nachteil der Mixed-Reality-Technik ein. „Ich bin bisher weder auf technische Probleme, noch auf irgendwelche andere Hürden gestoßen“, sagt er. „Die Brille ist höchstens noch ein bisschen zu schwer, um sie bequem auf dem Kopf zu tragen.“
Palmyra soll nur der Anfang sein
Sobald Zaid seine Arbeit an der Rekonstruktion von Palmyra abgeschlossen hat, will er auch andere Kulturstätten, die entweder zerstört wurden oder nur noch schwer zugänglich sind, ebenfalls virtuell rekonstruieren. Kooperationspartner gäbe es mehr als genug. Längst hat die virtuelle Rekonstruktion auch die archäologischen Wissenschaften und den Denkmalschutz erreicht, die seit Jahrzehnten mit Hilfe von Photogrammetrie und 3D-Modellierung längst vergangene Gebäudekomplexe neu aufbauen.
Ihren Modellen fehlte allerdings bisher die Haptik, die Zaid Zaims Projekt so besonders macht: Antike Stätten wie Palmyra nicht nur zu sehen, sondern auch mit ihnen direkt interagieren, sie drehen, bewegen und sich so auf einer viel tieferen Ebene mit ihnen auseinandersetzen zu können – das ist der Traum von Zaid Zaim, dem er mit jedem Tag und jeder Code-Zeile näher kommt.
Titelbild: Getty Images