Von Dominik Schott
Vor rund zwei Jahren begibt sich Julia Bruton auf eine Reise, die ihren Blick auf die Welt grundlegend verändern wird. Ihr Weg führt sie in die Stadt Juchitán im Süden Mexikos. Dort existiert seit Jahrhunderten eine matriarchale Gesellschaft, die nicht nur von Männern, sondern noch stärker von Frauen und Mädchen geprägt wird. Eigentlich will Julia mit Sonja Aufderklamm als Regisseurin einen Dokumentarfilm über diese faszinierende Gesellschaft drehen. Doch aus ihrer Reise nach Mexiko wird schließlich viel mehr entstehen: ein ambitioniertes Virtual-Reality-Projekt, das seine Nutzer mit der Welt des Matriarchats vertraut machen soll – The Matriarx .
Storytelling in der virtuellen Welt
Nach rund einem Monat kehrt Julia aus Juchitán nach Deutschland zurück, aber die Eindrücke der matriarchalen Gemeinschaft bleiben. „Die Frauen dort gehen ganz anders miteinander um, die Ökonomie wird anders gedacht, Konflikte anders gelöst. Als Tourist, der nur auf Durchreise ist, bekommt man davon kaum was mit.“ Im Interview mit 1E9 beschreibt Julia Bruton dieses Gefühl als „Nachhall“, der sie monatelang beschäftigte: „Ich kehrte mit einem viel größeren Selbstverständnis nach Deutschland zurück und fragte mich, was genau mich dort so beeindruckt und meine Wahrnehmung von mir selbst so verändert hat.“
Das Timing stimmt: Während Julia diesen inneren Monolog mit sich selbst führt, fängt sie auch damit an, sich intensiver mit einer aufkommenden Technologie zu beschäftigen: der Virtual Reality. Die Produzentin, die bisher mit ihrem Berliner Studio Sinnema vorwiegend Kurz- und Werbefilme realisiert hat, entdeckt darin eine neue Bühne für ihre Arbeit – und die scheint perfekt dafür geeignet zu sein, andere Menschen mit dem Konzept einer matriarchalen Gesellschaft vertraut zu machen: „Da fing es dann langsam an zu rattern und ich begann zu recherchieren, wie ich meine Eindrücke aus Juchitán in die virtuelle Realität übersetzen könnte“, erinnert sich Julia.
Sie beginnt mit ihrer Arbeit, belegt einen Kurs über Storytelling in der virtuellen Welt in Antwerpen und probiert unterschiedlichste VR-Projekte aus, um ein Gefühl für das neue Medium zu bekommen. Zwei davon beeindrucken sie besonders: Bei einem handelt es sich um eine Simulation, in der sie im Weltall auf zwei Planeten balanciert und versuchen muss, einen Schritt ins Nichts zu machen. „Obwohl ich wusste, dass ich gerade sicher in einem Raum stehe, hat mein Gehirn diesen Schritt nicht zugelassen. Das war mein erster Berührungspunkt mit VR und ich fand faszinierend, was das mit mir gemacht hat.“
Das zweite Projekt, das Julia die Möglichkeiten von VR eindrucksvoll vorführt, ist deutlich verspielter. Der Nutzer selbst steht bei Dear Angelica von den Oculus Story Studios in einem tiefschwarzen Raum und lauscht einer weiblichen Stimme, die aus dem Off die Geschichte einer jungen Frau erzählt. Dabei zeichnet die Stimme einzelne Lebensstationen der Frau in die Luft und verwandelt so den virtuellen Raum, in dem sich der Nutzer aufhält, in ein riesiges Gemälde. Es sind diese beiden Projekte, die in Julia Brutons eigenem VR-Konzept zwei Jahren nach ihrer Mexikoreise die deutlichsten Spuren hinterlassen haben.
„Willkommen in der Matriarx!“
The Matriarx – der Name ist ein Wortspiel aus Matriarchat und der „Matrix“ genannten Parallelwelt aus der gleichnamigen Science-Fiction-Filmreihe – ist eine VR-Erfahrung, die aus drei Abschnitten besteht: eine Art Intro und Einführung in die Matriarx, dann das eigentliche Abenteuer in der virtuellen Welt und schließlich ein Outro, das die Nutzer wieder in die „echte Welt“ entlässt.
Julia Bruton erklärt uns das Konzept hinter den Kapiteln: „Aktuell arbeiten wir an dem ersten Raum, der unsere Welt mit der Matriarx verbindet. Hier wird der Experiencer von Lana empfangen, einem magischen Wesen, das den Nutzer begrüßt und vor eine wichtige Wahl stellt.“ Lana bietet dem VR-Besucher zwei Pillen an, die „Pille danach“ und die klassische Verhütungspille. Gleichzeitig spürt der Experiencer mittels zweier Controller in seinen Händen ein rhythmisches Pulsieren auf Bauchhöhe – eine suggerierte Schwangerschaft.
„Lana fragt dann: ,In der Matriarx geht es darum, Leben zu schützen und zu geben. Ist es also richtig, sich für eine der Pillen zu entscheiden?‘“, sagt Julia. Nur wenn der Experiencer verneint und beide Pillen ablehnt, erhält er Zutritt zu den beiden übrigen Kapiteln, die bisher nur als Konzept existieren: ein Besuch bei einer matriarchal geprägten Familie, die Julias Erfahrungen in Mexiko wiederspiegeln und ein Flug auf einem magischen Drachen, der den VR-Besucher wieder in die „echte Welt“ zurückbringt: „Wenn wir unsere Hand nach diesem Wesen ausstrecken, wird man in der realen Welt tatsächlich etwas spüren, eine Requisite, damit der Experiencer denkt, er habe wirklich etwas angefasst.“
Das verspielte Konzept von Julia Bruton setzt dabei ganz auf die Neugier des Experiencers, der eine fremdartige, fast mystische Welt vor sich hat: So ist er beispielsweise im ersten Kapitel von einer steinzeitlichen Megalithformation umgeben, die von realen Kultplätzen der Megalithkulturen inspiriert sind – die laut einigen Forschern matriarchale Strukturen besaßen. „So kommen Phantasie und Realität zusammen, man soll sich umsehen und staunen, über die Steine, die Welt, aber auch darüber, was man in der Matriarx gerade erlebt.“
In diesem Video könnt ihr bereits Ausschnitte aus The Matriarx sehen – und Julia erklärt noch einmal ausführlicher, warum sie für das Projekt auf Virtual Reality setzt.
Das Matriarchat ist anders, als es sich die meisten vorstellen
Für Julia Bruton ist es wichtig, die Nutzer mit der Matriarx zum Nachdenken zu bringen – ohne allerdings den Finger zu deutlich auf irgendeine Lektion oder Moral zu legen: „Die Experiencer werden wohl zuerst von den magischen Kreaturen beeindruckt sein und erst, wenn sich diese anfängliche Aufregung gelegt hat, über die eigentliche Erfahrung nachdenken; wie es für sie war, eine matriarchale Struktur kennengelernt zu haben.“ Denn die funktioniert anders, als die meisten Experiencer vorher annehmen dürften, meint Julia.
„Viele stellen sich das Matriarchat immer vor wie ein Patriarchat – nur das eben die Frauen in den sogenannten Führungspositionen sind“, sagt sie. „Das stimmt aber nur teilweise – und das möchte ich durch das Projekt zeigen. Es sind zwar die Männer, die Politik betreiben und darüber sprechen. Doch wenn sie Entscheidungen treffen wollen, müssen sie zu den Frauen. Denn die kümmern sich um die Ökonomie.“ Dabei seien sie mehr darauf bedacht, eine Ausgleichsökonomie zu schaffen. „Deswegen ist es nicht so, dass die Frauen über die Köpfe hinweg Entscheidungen treffen. Das passiert tatsächlich zusammen.“ Julia glaubt, dass im Matriarchat Inspirationen liegen könnten, um in unseren heutigen Strukturen etwas anders zu machen. Und in VR sieht sie ein Medium, das eine transformative Kraft haben kann, weil es Menschen etwas selbst erleben lässt.
The Matriarx ist eine spannende Idee, muss bis zur Fertigstellung allerdings noch einige Hürden überwinden. Zum einen liegt das an der Logistik, die mit der Matriarx verbunden ist: Das VR-Projekt ist location based , soll also nicht in jedem Wohnzimmer heruntergeladen und ausprobiert werden können, sondern funktioniert nur als Installation an einem festen Ort, wo Projektmitarbeiter die Nutzer auf die ungewöhnliche Welt der Matriarx vorbereiten können. Solche Räume müssen erst einmal gefunden werden, die ursprünglich geplante Demonstration auf der Netzkonferenz re:publica in Berlin musste wegen der Corona-Krise verschoben werden.
Keine Angst vor Kritik, im Gegenteil
Außerdem muss sich Julia wohl schon jetzt auf inhaltliche Kritik vorbereiten. Vor allem der Entscheidungsmoment zu Beginn der VR-Erfahrung, wenn Experiencer sich gegen die Pillen entscheiden müssen, birgt Potential für Diskussionen – und auch Ablehnung seitens der Nutzer, die das Frauenbild der Matriarx als Quell allen Lebens mit den Ideen des modernen Feminismus im Konflikt sehen könnten. Hier räumt Julia Bruton ein, dass diese Fragen noch durchdacht werden müssen. „Aber irgendwo muss man ja mal anfangen.“
Grundsätzlich fürchtet sich Julia Bruton aber nicht vor heftiger Kritik, im Gegenteil. Wenn die Matriarx zur Diskussion anregen kann, sieht die Produzentin ihr Ziel als erreicht an: „Wenn sich die Leute tierisch darüber aufregen, dann bedeutet das immerhin, dass sie sich damit auseinandergesetzt haben. Da ist es mir lieber, dass es rüttelt und wenn sie sagen, dass es Bullshit ist, solange sie begründen, warum es Bullshit ist.“
Noch befindet sich die Matriarx in der Entwicklungsphase. Nach einer Erstförderung durch das Medienboard Brandenburg bewirbt sich das Team nun um weitere Fördergelder, um ihre Vision vom virtuellen Matriarchat fertigstellen zu können. Wenn alles klappt, wird ein spielbarer, fortgeschrittener Prototyp der Matriarx zeitgleich mit Julias Doku über die Frauen von Juchitán erscheinen. So werden Interessierte die Welt des Matriarchats aus gleich zwei Perspektiven kennenlernen können: als Beobachter – und als Mittelpunkt einer virtuellen, aber nicht gänzlich fiktionalen Welt.
New Realities ist ein gemeinsames Projekt von 1E9 und dem XR HUB Bavaria und wird gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Digitales. Den dazugehörigen Podcast kannst du bei bei Podigee, Spotify, Deezer und bei Apple Music hören und abonnieren. Die Videoserie findest du bei YouTube.Titelbild: Sinnema