Wie die Zunge als Display blinden Menschen beim „Sehen“ helfen kann

Die Zunge verdient mehr Aufmerksamkeit. Das findet jedenfalls der britische Psychologe Mike Richardson, der erforscht, ob und wie die Zunge auch Aufgaben übernehmen kann, für die eigentlich andere Sinnesorgane zuständig sind. Sehen, zum Beispiel. Klingt verrückt, hat aber großes Potential, um blinden Menschen zu helfen. Wir freuen uns daher, diesen Artikel von Mike veröffentlichen zu dürfen.

Ein Gastbeitrag von Mike Richardson

Habt ihr euch jemals gefragt, warum sich Küssen besser anfühlt als Händchenhalten? Weil die Zunge, obwohl sie wegen ihrer Lage im Mund ziemlich schwer zu erforschen ist, ein unglaubliches Instrument ist! Sie eröffnet uns nicht nur den Zugang zur wunderbaren Welt des Geschmacks, sondern ist darüber hinaus für Berührungen empfindlicher als eine Fingerspitze. Ohne Zunge können wir außerdem nicht sprechen, nicht singen, nicht richtig atmen oder leckere Getränke genießen.

Warum also nutzen wir sie nicht noch intensiver? In meiner neuen Studie wird untersucht, wie man dieses seltsame Organ optimal nutzen könnte – vielleicht sogar als Schnittstelle, die Menschen mit Sehbehinderungen bei der Navigation durch die Welt und sogar beim Sport hilft. Das klingt erstmal seltsam, ich weiß. Aber habt ein bisschen Geduld, ich erkläre euch, warum das so ist.

Meine Forschung ist Teil eines interdisziplinären Bereichs, der als Sensory Substitution, also als „sensorische Substitution“ bekannt ist und Psychologie, Neurowissenschaften, Informatik und Ingenieurswissenschaften kombiniert, um Sensory Substitution Devices, abgekürzt: SSDs, zu entwickeln. SSDs sind Geräte, die sensorische Informationen von einem Sinn in einen anderen umwandeln. Wird ein Gerät beispielsweise für eine Person mit einer Sehbehinderung entwickelt, bedeutet dies in der Regel, dass visuelle Informationen aus einem Video in Töne oder Berührungen umgewandelt werden.

Mit Elektroden lassen sich Bilder auf die Zunge malen

BrainPort, erstmals 1998 entwickelt, ist ein Gerät, das diese Art von Technologie repräsentiert. Es wandelt das Videobild einer Kamera in bewegte Muster elektrischer Stimulation auf der Zungenoberfläche um. Das „Zungen-Display“, ein kleines Gerät in Form eines Lutschers, besteht aus 400 winzigen Elektroden, wobei jede Elektrode einem Pixel aus dem Videobild einer Kamera entspricht.

BrainPort erzeugt damit eine niedrig auflösende taktile Anzeige auf der Zunge, die mit der Ausgabe der Kamera übereinstimmt. Die Technologie kann beispielsweise eingesetzt werden, um Schlaganfallopfern zu helfen, ihren Gleichgewichtssinn zu erhalten. 2015 genehmigte die US Food and Drug Administration außerdem ihre Verwendung als Hilfsmittel für Sehbehinderte.

Stellt euch also vor, ihr haltet eure Hand vor eine Kamera und spürt, wie gleichzeitig eine winzige Hand auf eurer Zungenspitze erscheint. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde jemand mit Knallbrause Bilder auf eure Zunge malen.

Obwohl es BrainPort schon seit Jahren gibt und es zehnmal billiger ist als ein Netzhautimplantat, hat sich das Gerät nie richtig durchgesetzt. Ich will – mithilfe von BrainPort – daher noch genauer herausfinden, wie die menschliche Aufmerksamkeit auf der Oberfläche der Zunge funktioniert und ob sich diese Art der Wahrnehmung so stark von anderen Arten unterscheidet, dass das ein Grund für den ausbleibenden Durchbruch der Technologie sein könnte.

Wie gehe ich dabei vor? In der psychologischen Forschung gibt es eine berühmte Methode zur Prüfung der Aufmerksamkeit, das so genannte Posner-Cueing-Paradigma, benannt nach dem amerikanischen Psychologen Mike Posner, der es in den 1980er Jahren zur Messung der visuellen Aufmerksamkeit entwickelte.

Wenn ich von Aufmerksamkeit spreche, meine ich also nicht die „Aufmerksamkeitsspanne“. Aufmerksamkeit bezieht sich auf die Gesamtheit der Prozesse, die Dinge aus der Umwelt in unser Bewusstsein bringen. Posner fand heraus, dass unsere Aufmerksamkeit durch visuelle Reize ausgelöst werden kann.

Wenn wir etwas, das sich bewegt, kurz aus dem Augenwinkel sehen, richtet sich unsere Aufmerksamkeit sofort auf diesen Bereich. Wahrscheinlich haben wir uns so entwickelt, um schnell auf gefährliche Schlangen zu reagieren, die hinter den nächsten Ecken oder am Rande unseres Gesichtsfelds lauern.

Dieser Prozess findet auch zwischen den Sinnen statt. Wenn ihr schon einmal im Sommer in einem Biergarten gesessen und das gefürchtete Brummen einer Wespe auf einem Ohr gehört habt, wurde eure Aufmerksamkeit sehr schnell auf diese Seite eures Körpers gelenkt.

Das Geräusch der Wespe lenkt eure auditive Aufmerksamkeit dabei auf den ungefähren Standort der potenziell ankommenden Wespe, so dass das Gehirn sofort die visuelle Aufmerksamkeit auf den genauen Standort der Wespe und die taktile Aufmerksamkeit auf das schnelle Zupacken oder Wegducken vor der Wespe lenken kann. Das ist das, was wir cross-modale Aufmerksamkeit nennen. Sehen ist eine Art der Wahrnehmung, Hören eine andere. Dinge, die mit einem Sinn wahrgenommen werden, können also auch andere Sinne beeinflussen.

Was tun gegen die Reizüberflutung der Zunge?

Meine Kollegen und ich haben eine Variation des Posner-Cueing-Paradigmas entwickelt, um herauszufinden, ob das Gehirn die taktile Aufmerksamkeit auf der Zungenoberfläche auf die gleiche Weise zuordnen kann wie die der Hände oder andere Arten der Aufmerksamkeit. Denn wir wissen war bereits eine Menge über visuelle Aufmerksamkeit und über taktile Aufmerksamkeit an den Händen und anderen Körperteilen, aber wir wissen nicht, ob sich dieses Wissen auf die Zunge übertragen lässt.

Das herauszufinden ist wichtig, denn BrainPort wurde entwickelt, gebaut und verkauft, um Menschen dabei zu helfen, mit der Zunge zu sehen . Doch wir müssen zunächst verstehen, ob das Sehen mit der Zunge überhaupt vergleichbar ist mit dem Sehen mit den Augen.

Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es, wie bei fast allen Fragen im Leben, allerdings nicht. Die Sache ist kompliziert. Zwar reagiert die Zunge auf die gleichen Informationen wie die Hände oder die Augen, doch trotz der unglaublichen Empfindlichkeit der Zunge sind ihre Aufmerksamkeitsprozesse im Vergleich zu den anderen Sinnen etwas eingeschränkt. Es ist nämlich sehr leicht, die Zunge zu überstimulieren – was zu einer Reizüberflutung führt, die es schwer machen kann, zu spüren, was vor sich geht. Eins-zu-eins lässt sich das Sehen also nicht auf die Zunge übertragen.

Allerdings fanden wir auch heraus, dass Aufmerksamkeitsprozesse auf der Zunge durch Geräusche beeinflusst werden können. Hört ein BrainPort-Benutzer zum Beispiel ein Geräusch auf der linken Seite, kann er Informationen auf der linken Seite seiner Zunge leichter erkennen. Dies könnte dazu beitragen, die Aufmerksamkeit zu lenken und die Reizüberflutung mit dem BrainPort zu verringern, wenn es mit einer auditiven Schnittstelle kombiniert wird.

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In Bezug auf den praktischen Einsatz des BrainPort bedeutet dies, die Komplexität der visuellen Informationen, die durch Empfinden auf der Zunge ersetzt werden sollen, müssen gesteuert werden und, wenn möglich, sollte zusätzlich ein anderer Sinn eingesetzt werden, um einen Teil der sensorischen Aufgaben zu übernehmen. Die alleinige Verwendung des BrainPort könnte zu stimulierend sein, um verlässliche Informationen zu liefern, und könnte möglicherweise durch den parallelen Einsatz anderer Hilfsmittel verbessert werden, wie z. B. dem vOICe-Algorithmus, der optische Eindrücke in Geräusche übersetzt.

Klettern trotz Seheinschränkung mit Zungen-Feedback und Geräuschen

Wir nutzen all diese Erkenntnisse nun, um ein Gerät zu entwickeln, das Kletterern mit Sehbehinderungen die Navigation beim Klettern erleichtert. Um eine Informationsüberflutung zu vermeiden, setzen wir maschinelles Lernen ein, um Klettergriffe zu identifizieren und weniger relevante Informationen herauszufiltern. Wir erforschen auch die Möglichkeit, mit Hilfe von Geräuschen Hinweise auf den nächsten Griff zu geben und dann das Feedback auf der Zunge zu nutzen, um den Griff genau zu lokalisieren.

Mit einigen Verbesserungen könnte diese Technologie schließlich zu einem zuverlässigeren Instrument werden, das blinden, tauben oder sehbehinderten Menschen bei der Navigation hilft. Sie könnte sogar querschnittsgelähmten Menschen, die ihre Hände nicht benutzen können, helfen, effizienter zu navigieren oder zu kommunizieren.

Mike Richardson gehört zum Crossmodal Cognition Lab an der Universität Bath. Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich auf Empfindung und Wahrnehmung und insbesondere auf die sensorische Substitution. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit dem Einsatz dieser Technologie, um sehbehinderten Menschen einen besseren Zugang zum Sport zu ermöglichen. Außerdem produziert er Inhalte für die Wissenschaftskommunikations-Plattform SENSE(LESS).

Dieser Artikel erschien zunächst unter einer Creative Commons Lizenz auf Englisch bei The Conversation. Die Übersetzung stammt von 1E9.

Titelbild: Shutterstock

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