Deutschland – das Land der Dichter und Denker, des Fortschritts und der Innovation? Wenn es um die Digitalisierung geht, scheint das Land ins Hintertreffen zu geraten. Während andere Länder in der digitalen Welt immer schneller voranschreiten, arbeitet die deutsche Verwaltung mit Faxgeräten und Papierformularen. Der neue GovTech Campus in Berlin soll die Digitalisierung der Behörden voranbringen, damit Bürger:innen alle Dienstleistungen des Staates auch digital beantragen und nutzen können. Wir haben mit dem GovTech Campus und der Arbeitsgruppe Nachhaltige Digitalisierung AGND gesprochen, um mehr darüber zu erfahren, wie das klappen soll.
Von Joanne Arkless
Die nächste Steuererklärung steht vor der Türe. Im letzten Jahr haben über 60 Millionen Menschen in Deutschland ihren Bescheid elektronisch eingereicht, doch dieser Prozess verlief nicht immer fehlerlos. Das digitale Elster-Portal, das die Steuererklärung auf Papier ablösen soll, war vollkommen überfordert mit den tausenden Anträgen. Schließlich stürzten die Server ab.
Besonders deutlich zeigte die Corona-Pandemie einige Lücken in der staatlichen Digitalisierung in Deutschland auf, vor allem im Gesundheitssystem. Im Blindflug versuchten Gesundheitsämter, mit Hilfe von Faxgeräten Kontakte nachzuverfolgen. Und in Baden-Württemberg standen Menschen mitten in der Nacht auf, um telefonisch einen Impftermin zu vereinbaren. Oft erfolglos.
Nach diesen Schwierigkeiten wollten Bund und Länder eigentlich bis Ende 2022 so ziemlich alle staatlichen Dienstleistungen elektronisch anbieten, wie es das Onlinezugangsgesetz (OZG) vorschreibt. Das heißt, dass man etwa 575 Verwaltungsdienstleistungen von zu Hause aus mit nur wenigen Klicks erledigt können sollte. Schließlich ist das Ziel eine zukunftsfähige, digitale Verwaltung für alle Nutzerinnen und Nutzer. Kein lästiges Warten mehr, um Anträge auf Personalausweis, Führerschein oder Geburtsurkunde stellen zu dürfen.
Das Fazit fällt jedoch ernüchternd aus. Laut einem Bericht des Handelsblatts konnten bis zum Ende der Umsetzungsphase im Oktober 2022 nämlich nur 33 Leistungen flächendeckend digitalisiert werden. Über 500 fehlen also noch, was vielen schon aufgefallen sein dürfte.
Warum GovTech notwendig ist
Der deutsche Staat hat also noch viel Arbeit vor sich, um in Sachen Digitalisierung aufzuschließen. Fast alle Bereiche müssen angegangen werden: Bildung und Verwaltung, das Gesundheitswesen, der öffentliche Verkehr oder auch die Energieversorgung. Lösungen für diese Herausforderungen soll GovTech bieten. GovTech, kurz für Government Technology, umfasst Anwendungen von Technologie in der öffentlichen Verwaltung. Diese sollen die Dienstleistungen des Staates effizienter, effektiver und zugänglicher machen.
Die Nachfrage nach GovTech-Lösungen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Eine Verlangsamung dieses Trends ist nicht in Sicht, zumal der Druck auf Regierungen zunimmt. Das hat zu einem wachsenden GovTech-Markt geführt. Es wird geschätzt, dass dieser inzwischen weltweit ein Volumen von etwa 400 Milliarden US-Dollar hat. Die COVID-19-Pandemie hat das Wachstum noch verstärkt, da Regierungen gezwungen waren, ihre Dienstleistungen und Prozesse schnell auf digitale Kanäle umzustellen.
Der GovTech Campus - eine neue Chance für die staatliche Digitalisierung?
Im März 2022 wurde dann auch der GovTech Campus in Berlin offiziell von der Bundesregierung eröffnet. Er bietet die Plattform, um die öffentliche Verwaltung mit der Technologie- und Gründerszene sowie der Forschung zu verknüpfen. Geplant sind weitere Standorte unter anderem in Hessen, Baden-Württemberg und Hamburg.
Der Mitbegründer des GovTech Campus, Lars Zimmermann, hat mit 1E9 über die Zukunft der Digitalisierung des deutschen Staats gesprochen. „Wir glauben, dass Staaten und Verwaltungen auch Innovations-Ökosysteme brauchen, um etwas zu verändern“, sagt er. Genau dieses Ökosystem will der Campus aufbauen, um Innovationen für Verwaltung und Behörden schneller und besser gemeinsam zu entwickeln, zu konzipieren und zu testen. Der Staat soll offener und technologieaffiner werden – und der Campus die erste Anlaufstelle für Technologie-Projekte im deutschen Staat.
Auf dem Campus in Berlin, der aus über 1000 Quadratmetern Office-Space besteht, sollen Bundesministerien, Länder und Kommunen mit Tech-Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Start-ups und angewandten Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Vertreten sind das Auswärtige Amt, das Bundesfinanzministerium, das Bundesinnenministerium und das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, außerdem neun Bundesländer und eine Reihe von Bundes- und Landesorganisationen sowie Technologieunternehmen wie Aleph Alpha, Element, Edgeless System, aber auch die unternehmerTUM oder das Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme. Doch was soll sich durch den neuen Ansatz konkret ändern?
Wir wollen die Demokratie technologiefähig machen, aber im Interesse der Demokratie, nicht im Interesse der Technologie.
Bisher läuft die Modernisierung und Digitalisierung der Verwaltung oft Schritt-für-Schritt ab. Doch in Deutschland könnte dieser traditionelle iterative Ansatz einer deutlichen Verbesserung im Wege stehen, meint Lars Zimmermann. Gerade in Zeiten, in denen große Technologieunternehmen Staaten immer stärker unter Druck setzen, indem sie sich Themen wie Gesundheit oder Bildung aneignen, sei eine schnelle Modernisierung unerlässlich. Um zu reagieren, brauche der Staat nicht nur organisatorische Veränderungen, sondern auch einen kulturellen Wandel hin zu mehr Agilität und Innovation. In Krisenzeiten ermöglicht das schnelle Lösungen.
„Wir wollen eine Plattform bauen, wo Verwaltung und GovTech-Szene miteinander Innovationsprojekte relativ schnell entwickeln und durchführen können“, erzählt Lars Zimmermann. „Diesen Ort gibt es noch nicht, weil bisher jedes Ministerium für sich gearbeitet hat.“ Es gehe um effektive und sinnvolle Digitalisierung, nicht um Outsourcing von IT und digitalen Themen. „Wir wollen die Demokratie technologiefähig machen, aber im Interesse der Demokratie, nicht im Interesse der Technologie.“ Das heißt, der GovTech Campus übernimmt keine Projekte, in denen Technologie als Selbstzweck angewendet wird oder die keine gesellschaftliche Relevanz haben.
Mit einer digitalisierten Politik soll auch die Umsetzung von politischen Maßnahmen verbessert werden. „Ich bin fest davon überzeugt, dass technologische Fähigkeiten zu einer besseren Sozialpolitik führen können, weil sie zielgenauer werden muss. Dann muss man nicht Leuten, die es vielleicht gar nicht brauchen, auch noch mal 300 Euro schenken“, sagt Lars Zimmermann. Somit soll Bürger:innen in Not besser geholfen werden.
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Jetzt Mitglied werden!Von Bootcamps zu Workshops: Drei Projekte am GovTech Campus
Bereits ein Jahr nach der Eröffnung des GovTech Campus sind zahlreiche Projekte am Laufen. Hier nur drei Beispiele:
Tech-Bootcamps für Mitarbeiter:innen der öffentlichen Verwaltung: Mit der Initiative Low Code/No Code sollen Verwaltungen in die Lage versetzt werden, Software auch selbst zu entwickeln und nicht mehr zwingend auf den Kauf von Programmen angewiesen zu sein.
Estland wurde als Innovationspartner an Bord geholt. Der Staat, der als europäischer Vorreiter der Digitalisierung gilt, bietet kommenden Sommer Einblicke in seine Digital- und Technologieprojekte. In Estland sollen bereits 99,9% aller Verwaltungsdienstleistungen digitalisiert sein, vom Hauskauf bis hin zur Parlamentswahl. Zudem gilt das Land als internationaler Spitzenreiter im Bereich Cybersicherheit. In der Kooperation mit dem GovTech Campus sollen dem Bund und den Ländern konkrete Transferstrategien vorgeschlagen werden, die bereits in Estland erfolgreich sind. Auch die Ukraine ist Innovation Partner des Campus, weitere Länder werden folgen.
Das Auswärtige Amt plant ein, Data Innovation Lab aufzubauen, um datengetriebene Analysen im außenpolitischen Kontext zu ermöglichen. Schon im Vorfeld wurde dafür zwischen dem Auswärtigen Amt und den Vereinten Nationen diskutiert, wie die Nutzung von Daten für Friedens- und Klimaschutzmaßnahmen im Hinblick auf eine bessere multilaterale Entscheidungsfindung beschleunigt werden kann.
Nachhaltig Digitalisieren am GovTech Campus mit IT-Sicherheitsexpert:innen der AGND
Ein weiteres Projekt am Campus beschäftigt sich mit Datensicherheit und nachhaltiger Digitalisierung. Nachhaltige Digitalisierung versteht sich als übergeordnetes Ziel aller Digitalisierungsprojekte am GovTech Campus, so sollen langfristige, sinnvolle und effektive Innovationen entstehen.
Die Arbeitsgruppe für Nachhaltige Digitalisierung (AGND) wurde von den IT-Sicherheitsexperten Caroline Krohn und Manuel Atug gegründet. Caroline Krohn hat bereits mehrere Unternehmen gestartet, ist als Direktkandidatin für die Grünen im Bundestagswahlkampf 2021 angetreten und hat die „European Data Protection Conference“ geleitet. Im Interview mit 1E9 sprach sie über die Entwicklung eines Nachhaltigkeitsstandards, um eine bessere Qualitätsprüfung für staatliche Digitalisierungsprojekte zu ermöglichen.
Das Thema Nachhaltigkeit in der Digitalisierung werde oft auf die Energiefrage reduziert, aber es gehe auch um die Sicherheit von Daten, meint Caroline Krohn. Die AGND betreibt daher Technologiefolgenabschätzung von Digitalisierungsprojekten, vor allem im sozialen Bereich. Sie fordert, dass Unternehmen besser mit den Daten ihrer Nutzer umgehen sollten, um deren Privatsphäre zu schützen. Denn die Nutzer hätten oft keinen Überblick über die potentiellen Risiken, die Plattformen wie Zoom bürgen würden.
Jeder Mensch hat im Durchschnitt 70 Accounts, bei denen Benutzerdaten hinterlegt sind. Allein mit dem Management der Passwörter sind die meisten total überfordert.
Die DSGVO, also die europäische Datenschutzgrundverordnung, sieht sie als zivilisatorische Errungenschaft, auf die man stolz sein könne. Doch auch die DSGVO weise Schlupflöcher auf und so können Unternehmen Daten sammeln, indem sie das als “legitimes Geschäftsinteresse” klassifizieren.
„Ich habe in meinem Leben fünf Unternehmen gegründet. Ich weiß, dass Bürokratie super ätzend ist, ganz klar, aber es ist aus meiner Sicht das geringere Problem. Trotzdem ist es doch populärer, über Bürokratieabbau zu reden als über die Erhöhung des Standards in der Datenverwaltung“, sagt Caroline Krohn. Für eine solche Erhöhung des Standards setzt sich die AGND ein.
Bei den riesigen Datenmengen, die tagtäglich gesammelt werden, gelte es, Kollateralschäden zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass zukünftig keine Kundendaten mehr im Netz geleakt werden. „Im Internet sterben keine Daten. Das heißt auch in 30, 40, 50 Jahren werden diese Datenbestände noch sichtbar sein, die werden sich auswirken auf zukünftige Generationen, weil dann Schlussfolgerung entstehen können, die zukünftige Generation eben auch in Unfreiheit gedeihen lassen“, sagt Caroline Krohn.
Mit dem neuen Standard, den die AGND entwickelt, soll die Technologiefolgenabschätzung besser gelingen. Wenn digitale Lösungen als geeignete Mittel betrachtet werden, muss sichergestellt werden, dass sie secure-by-design sind, also: von vornherein sicher, und dass bei der Datenerhebung das Prinzip der Datenminimierung beachtet wird. Leider scheint das Thema Sicherheit, neben dem „Digital-Glitzer“, wie Caroline Krohn die Welt von Blockchain und KI beschreibt, nicht attraktiv genug zu wirken. „Die Frage ist es, wie es gelingt, Risiko in das allgemeine Bewusstsein zu bringen, ohne dass die Leute die ganze Zeit bedrückt sind.“
In der aktuellen Situation der beschleunigten digitalen Transformation von Verwaltungsorganisationen, die oft zu technischen Schulden führt, also zusätzlichen Kosten, die durch vorschnelle technologische Festlegungen zustande kommen, fehlt es an einem System, um die technische Nachhaltigkeit zu prüfen. Ein transparentes GovTech-Audit-System für Bund, Länder und Kommunen könnte dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit technischer Schulden zu verringern und somit eine nachhaltige Digitalisierung zu fördern, so Caroline Krohn.
GovTech und seine Chancen für die Zukunft
Der GovTech Campus ist nicht nur ein Ort für Innovation im Staat, sondern soll ein Versprechen für eine nachhaltige und gewissenhafte Zukunft sein. Hier werden nicht nur Ideen geboren und entwickelt, sondern auch auf ihre Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft geprüft. Denn nur so kann Innovation wirklich Fortschritt bedeuten.
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