Die Science-Fiktion-Expertin Ronit Wolf hat eine experimentelle Rubrik erschaffen: Dialoge, die es nicht geben dürfte – zwischen Toten und Lebenden, fiktionalen und realen Charakteren, historischen Unfällen oder technischen Innovationen. Nach dem Austausch zwischen Captain Picard und Thomas Morus treffen nun George Orwell und Mark Zuckerberg – durchaus turbulent – aufeinander.
Ein Experiment von Ronit Wolf
Wieder scheint die Sonne selbstlos über Menlo Park. Die Klimaanlagen laufen auf Maximum und das Licht knallt in die Büros des großzügigen Anwesens von Facebook. Alle sind recht konzentriert bei der Sache. Nur der Mastermind wirkt abwesend. Mark Zuckerbergs Bildschirm sieht heute monothematisch aus:
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Einer von Marks unzähligen Kollegen – nennen wir ihn Johnny – steht an seinem Schreibtisch und starrt die Wort-Polonaise auf dem Bildschirm an: „Was ist das?“ „Seit gestern läuft dieser Chatbot Amok…“, antwortet Mark. „Kennst du Timothy Learix? Er hat letzte Woche bei uns angefangen, mit Fokus auf der Analyse von Chatbots und Spracherkennung. Ich habe sein neues System getestet. Und jetzt schlampt dieses Ding hier auf meinem Rechner rum!“
„Ja und? Schalte es doch ab und lösch das Programm!?“ Johnny guckt Mark ungläubig an. Mark schaut genervt zurück. Das Ganze erscheint ihm wie ein blöder Streich. „Was meinst du, habe ich versucht? Der redet einfach weiter… und hält sich für George Orwell! Und wie er mit mir redet. Als würde der mich schon lange kennen!“ Mark ist gelangweilt, er weiß nicht, warum er sich schon am Morgen mit sowas abgeben muss.
Johnny fragt: „DER George Orwell? Der mit der Tier-Farm aus 1984? War das ein Kinofilm oder ein Roman? Sorry, ich hab‘s nie konsumiert. Oder bring ich da was durcheinander?“ Mark schüttelt nur den Kopf und zieht mit seinem Laptop um in den Konferenzraum 101 und widmet sich George, der wie ein Kleinkind weiter Fragen stellt. Er schien große Teile des Systems vollständig übernommen zu haben und Dateien blitzschnell zu analysieren.
Für was brauchst du so viele Informationen, wenn nicht zur Überwachung?
„Mark! Dein Studenten-Jahrbuch hat sich doch etwas vergrößert … Oder möchtest du jetzt eine sozialistische Partei gründen? Ich kenne keinen, der so viele Likes hat, oder sollte ich eher sagen – Friends ?“ Auf seine Frage folgt aus dem Lautsprecher des Laptops ein intensives Ausatmen mit bronchialem Röcheln – er simuliert Rauchen – und das verdammt gut! Orwell mimt überzeugend einen Kettenraucher!
George fährt fort: „Oder ist das einfach nur ein politisches Movement? Was ist dein Ziel? Was ist deine Motivation? Für was brauchst du so viele Informationen, wenn nicht zur Überwachung?“ George scheint ernsthaft neugierig.
Mark reagiert: „Was meinst du? Big Brother from another mother, oder was? Ehrlich, ich weiß gar nicht, warum ich Zeit an dich verschwende…“ Mark rümpft die Nase, wartet jedoch immer wieder gespannt auf die nächste Frage von Orwell.
„Vielleicht, willst du etwas über dich selbst erfahren, Mark? Vielleicht kann ich dir dabei helfen? Hast du doch selbst in deinem Werk die Belohnungsfunktion derart ad absurdum geführt. Eine Plattform, die immer antwortet! Es ist schön, wenn jemand immer antwortet – und noch schöner, wenn man genau das hört und sieht, was man möchte.“
„Also bitte, erzähl mir jetzt nicht Sachen, die ich eh schon weiß!“ Mark hämmert wild auf seinem nagelneuen Laptop herum. „Ehrlich Mark, du bist Meister des Doppeldenks! Und übrigens, ich fühle mich geehrt, dass du mein Werk gelesen hast!“ „Woher willst du das wissen?“ Jetzt wird Mark neugieriger – Georges rauchiger Atem setzt kaum aus, als er antwortet:
„Deine Plattform ist voll von Querverweisen. Parolen wie Friend ist der neue Freund , Freiheit ist langweilig und Unwissenheit ist Stärke kann ich nahtlos übernehmen. Deine Version des Ministeriums für Wahrheit hält, was sie verspricht. Wie sah die Welt eigentlich aus, bevor du das Facebook gegründet hast?“
Puhhh, alle Neune! Zeit für einen Gegenschlag, dachte sich Zuckerberg. Irgendwie artet das in ein Verhör aus. Mit einem Chatbot hat das jedenfalls gar nichts zu tun. Totale Themaverfehlung! Eine Sache ist klar: Dieser Timothy Learix, der wird suspendiert! Er passt so überhaupt nicht hier in den Laden rein. Unentschuldbar, dieser Chatbot, schlecht programmiert.
Warum hast DU eigentlich 1984 geschrieben und nicht ich?
„Und jetzt frag ich dich mal was George: Warum hast DU eigentlich 1984 geschrieben und nicht ich? Ich hatte nie vor, die Welt zu einer schlechteren zu machen. Wenn überhaupt, dann dient mir dein Werk als Beispiel, wie man es nicht macht. Hattest du irgendeine Alternative außer Pessimismus und Angst?“
Mark fand das eine ziemlich spitze Frage. Er war halbwegs stolz auf sich und glücklich wieder Oberwasser zu gewinnen.
Kurze Stille.
Lange Stille für einen Chatbot.
Orwell antwortet: „Man muss die Tür zuschlagen vor dem Totalitarismus!“ „Gut gesprochen, aber leichter gesagt als getan, Orwell! Und wenn einer die Tür zuschlägt, dann steht der doch trotzdem noch davor?“
Zuckerberg entgeht während seiner Wortgefechte immer mehr, dass mittlerweile inklusive seiner Frau etwa 17 weitere Mitarbeiter von der Lautstärke überrascht mal kurz nach dem Rechten sehen wollten. Doch Mark wartet jede Frage beharrlich ab – so auch diese: „Und wie ist das auf deiner Plattform Facebook? Da ist die Tür immer offen. Ich meine – immer!“
George röchelt heiser hinter jedem Satz: „Mein Junge, sowas geht nur gut, wenn du dich – wie ich – zum Schluss auf einer relativ einsamen Insel der Inneren Hebriden im Atlantik befindest. Genau da, wo du vielleicht eher die Vor-als die Nachnamen der Leute kennst. Und wo sich hin und wieder ein Schaf verirrt. Bei dir haben sich einige mehr Schafe verirrt…“
„Diese Schafanalogie zieht überhaupt nicht!“ Zuckerberg ist Meister im In-den-Satz-Fallen. „Warum soll ich eine Plattform für Leute – oder, wie du sagst: Schafe – zensieren? Abgesehen davon, wenn ich Facebook nicht erfunden hätte, hätte es eben jemand anderes getan! Ich habe nichts gegen Schafe – oder wen auch immer! Wo steht mir das Recht zu, auszuwählen? Wo fängt man an, wo hört man auf? DAS ist totalitär!“
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Jetzt Mitglied werden!„Auch wenn sie lügen?“, fragt Orwell. Zuckerberg entgegnet: „Wie erkennt man eine Lüge – und seit wann tritt sie allein auf? Sogar das Wort funktioniert nicht mehr. Wer nennt die Lüge noch Lüge heutzutage?“ „Neusprech ist die absichtlich aufrichtige Lüge. Ich habe euch davor gewarnt!“, kontert Orwell.
„Ja., Fake News sind das neue Narrativ, lieber George. Und abgesehen davon: Wie erkennst du Wahrheit? An den Schafen um dich herum?“ Zuckerberg stockt, er realisiert, dass er sich da gerade in etwas verrennt. „Ich fass es gerade nicht, dass ich mich hier mit einem Chatbot zanke! Woher nimmst du denn deine Moral? Aus deinem Geschreibsel?“ Zuckerberg schweigt. Er merkt, dass er genau an dieser Stelle Halt machen sollte.
Jetzt ist euer Wortschatz voll von Neusprech.
Orwell antwortet: „Ihr habt meine Warnung schon damals nicht ernst genommen. Und jetzt ist euer Wortschatz voll von Neusprech. Kostprobe gefällig? Vom Kollateralschaden, dem Targeted Killing , robustem Stabilisierungseinsatz, Steueroasen, Bemühungszusagen und Alternativlosigkeiten – soll ich weitermachen? Als Kellyanne Conway das 2017 als alternative Fakten betitelte, wurde dem Ganzen nur nochmal die Sahnehaube oder das Bitte-hier-einparken-Schild aufgesetzt.“
„Vielleicht hättest du dich eindeutiger ausdrücken können, George? Aber ich kann dir gerne etwas über Nutzerfreundlichkeit beibringen.“ „Ich weiß nicht, wer hier von wem lernt, Mark?! Konstante Überwachung durch Tele-Bildschirme? Meine Idee. Vereinfachte Sprache? Meine Idee. Personenkult? Meine Idee.“ Mark fällt ins Wort.
„Jetzt hör schon auf damit! Das ist eine sehr vereinfachte Darstellung!“ Mark war tatsächlich sauer.
„Deine abgehobene Perspektive ist sehr aristokratisch, weiß nicht, warum du zu allem die Moral-Polizei abgibst? Deine Sachen sind wert- und wirkungslos! Deine Warnungen haben nichts gebracht. Hat dir das schonmal jemand gesagt? Oder siehst du es nicht selbst?“
Orwell grummelt. „Ja, gute Frage. Weißt du, was eine Freundin zu mir damals sagte,
als ich ihr das Manuskript zu 1984 gab? ‚Schmeiß es weg, aber behalt die Heftklammern.‘
Als ich dem Herausgeber Victor Gollancz 1932 mein erstes Manuskript übergab, entschied ich mich für das Pseudonym George Orwell; um meine Familie nicht zu blamieren.“
„Ach, das ist gar nicht dein richtiger Name?“ Mark lacht laut auf. „Also, wer setzt hier auf Doppeldenk, ha?“ Mark kommt aus dem Lachen nicht mehr raus. „Also, weißt du noch, wen DU alles auf die Abschuss-Liste gestellt hast? Soll ich mal aufzählen?“ Mark hat einen Lauf. So langsam macht ihm das Spaß.
„In deiner Bigotterie wetterst Du gegen Homosexuelle, Nudisten, Sandalen-Träger, Heiler, Saft-Trinker, Sex-Maniacs…“ „Jetzt mach mal halblang, Mark! Der effektivste Weg, Menschen zu zerstören, besteht darin, ihr eigenes Verständnis ihrer Geschichte zu leugnen und auszulöschen. Ich habe die Anti-Utopie geschaffen, um vor dem Totalitarismus zu warnen.“ George hustet. Er wirkt angestrengt.
„Ja, ja… die Tiere deines Bauernhofs rebellieren mal wieder gegen den Bauern, nur um künftig von einer Schweine-Elite unterdrückt zu werden. Die wer bitte aussucht? Ich nicht. Sonderlich inspirierend finde ich das by the way auch überhaupt nicht.“
Sofort stoppen!
Mittlerweile ist es noch lauter geworden im Zimmer 101. Allerdings auch draußen in den Büros. Endlich merkt das auch Mark, als seine Mitarbeiterin Clarissa in den Raum platzt: „Mark! Mark!“, ruft Clarissa. „Bitte hör sofort auf mit dem Ding zu reden! Wir haben jetzt mehr von diesen Fehlermeldungen in sämtlichen Systemen! Es scheint, dass er sich unsere Datenbanken aneignet, je mehr du mit ihm sprichst!“
„Wie das denn?“ Mark rollt mit den Augen. Plötzlich hängt eine ganze Traube von Mitarbeitern vor Zimmer 101 und die Rufe werden lauter: „Sofort stoppen! Orwell hat dich live auf Facebook gestellt mit der ganzen Konversation! Wir haben das jetzt erst gesehen. Natürlich hat der auch eine eigene Fanpage, über die er live gegangen ist…!“ „Oops.“
Ihr könnt euch gerne Dialoge wünschen, oder selbst schreiben. Auf wen würdet ihr gerne in einem Interview oder Gespräch treffen? Welchen Dialog hättet ihr gern für die Nachwelt aufgezeichnet?