Warum der Ex-VW-Chef Herbert Diess optimistisch ist: „Wir können den Klimawandel aufhalten“

Noch vor einem Jahr lenkte er Europas größten Autobauer Volkswagen, jetzt ist Herbert Diess Aufsichtsratschef des Chipherstellers Infineon. Vor allem aber leistet er Überzeugungsarbeit. Beim Festival der Zukunft von 1E9 und Deutschem Museum verbreitet er Optimismus. Der Klimawandel sei noch zu stoppen – und das mit vorhandenen Technologien und ohne dramatische Einschnitte. Gelingen könne dies aber nur, wenn sich die Regierungen für eine offene Welt einsetzen.

Von Wolfgang Kerler

„Don’t think about molecules, think about electrons!”, also: „Denkt nicht an Moleküle, denkt an Elektronen.“ Ein kurzer und ohne den Kontext vielleicht nicht sofort nachvollziehbarer Satz, der doch die zentrale Aussage von Herbert Diess beim Festival der Zukunft von 1E9 und Deutschem Museum ist.

Was Diess damit meint? Nach den vielen Jahrzehnten, in denen sich in Energiefragen fast alles um Moleküle drehte – vor allem um die von fossilen Brennstoffen wie Öl, Gas, Kohle –, sollte die Welt endlich umdenken und Mobilität, Heizen, Industrie elektrifizieren. Mit grünem Strom natürlich und, wo immer es geht, mit Batterien. „Das ist einfach viel effizienter“ – als Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe, auf die gerade in Deutschland viele hoffen.

Doch der Reihe nach. Denn bevor er über winzige Moleküle und Elektronen spricht, ordnet Diess mit Grafiken und Statistiken ein, wo die Welt steht im Kampf gegen den Klimawandel. Und das tut er nicht etwa panisch oder belehrend wegen der vielen Versäumnisse, sondern optimistisch – mit einem Fokus auf dem, was schon erreicht wurde, und auf den vielen Möglichkeiten, die es zu nutzen gibt.

Seit ungefähr drei Jahren schaue er sich regelmäßig die Electricity Maps an – im Browser oder als App –, die in Echtzeit verraten, wieviel Kohlendioxid bei der Stromerzeugung in einzelnen Ländern in die Atmosphäre ausgestoßen wird. „Das Gute ist: Es wird wirklich kontinuierlich besser.“ Deutschland, zum Beispiel, liegt an diesem Donnerstag Anfang Juli 2023 bei 290 Gramm pro Kilowattstunde. „Und man sieht viel Solarkraft, viel Windkraft und, ja, auch Kohle, was ein Problem ist.“ Doch vor zwei Jahren lag der deutsche Durschnitt noch bei 500 Gramm CO2 pro Kilowattstunde.

Was man auf der Weltkarte ebenfalls sehen kann: Erstaunlich viele Länder sind – anders als Deutschland, das orange eingefärbt ist – bereits grün gekennzeichnet. „Es gibt einige Länder, die Energie schon CO2-neutral oder CO2-frei produzieren können.“ Vor allem die Länder in Nordeuropa, die nahezu komplett auf Ökostrom setzen. In diesen sieht Diess ein Vorbild für Deutschland.

Beispiel Schweden: Weniger CO2-Ausstoß, aber hoher Lebensstandard.

Um das zu verdeutlichen, zeigt Diess ein Diagramm, dass den CO2-Ausstoß pro Kopf in mehreren Ländern im Jahr 2021 darstellt. Mit etwas über acht Tonnen liegt Deutschland im Mittelfeld. Schweden kommt hingegen nur auf etwa 3,5 Tonnen. Das habe vor allem zwei Gründe: „Wir nutzen immer noch Kohle, Schweden nutzt Erneuerbare.“ Und: „Schweden hat eine CO2-Steuer von rund 100 Euro (pro Tonne), was CO2-intensive Produkte etwas teurer macht.“

Aber, das ist Diess wichtig, nicht so teuer, dass es den Lebensstandard beeinträchtigen würde. „Schweden ist ein Industrieland. Die Schweden reisen viel, sie essen immer noch Fleisch und sie heizen ihre Häuser.“ Schweden habe im Gegensatz zu Deutschland eben seine Hausaufgaben gemacht – bei der Primärenergie mit erneuerbaren statt fossilen Energielieferanten und bei der CO2-Bepreisung. Genau daraus könne Deutschland lernen: „Wenn wir auch unsere Hausaufgaben machen, können wir als Industrieland ebenfalls 3,5 Tonnen (CO2-Ausstoß pro Kopf) schaffen.“ Ohne dabei an Lebensstandard zu verlieren.

Aber was ist mit dem Rest, den 3,5 Tonnen? Will Deutschland seine Klimaziele erreichen, müssten auch diese Emissionen noch weg. „Dafür müssen wir über Carbon Capturing nachdenken“, meint Diess. Zu Deutsch: über CO2-Abscheidung und -Speicherung. Dafür werde insbesondere durch Start-ups an verschiedenen Verfahren gearbeitet – Filteranlagen, Landwirtschaft, Chemie. „Ich bin mir sicher, dass es für 100 Euro (pro Tonne CO2) gemacht werden kann. Die 3,5 Tonnen pro Kopf würden also 350 Euro kosten.“

Ungefähr ein Euro pro Tag und pro Person, um das CO2 aus der Atmosphäre zu holen, dessen Emissionen sich vorerst nicht vermeiden lassen, das könne sich Deutschland leisten, so Diess. Zumal reiche Menschen, die viel reisen und konsumieren, deutlich mehr zahlen müssten als weniger privilegierte Menschen. „Es wäre eine Form der sozialen Besteuerung.“

Durch die Wende zu erneuerbaren Energien, die Elektrifizierung des Verkehrs, die Umstellung energieintensiver Industrien auf grünen Wasserstoff – dafür hält Diess Wasserstoff, anders als für Mobilität, für unerlässlich –, die konsequente Bepreisung von CO2-Emissionen sowie den Einsatz von Technologien zur Speicherung von CO2 hält Diess es also für möglich, sogar für wahrscheinlich, dass die globale Erwärmung auf 1,5 bis zwei Grad Celsius begrenzt werden kann.

Grüner Strom und Energiespeicher werden billig.

„Quasi jede Nation möchte jetzt zum Champion bei Klimatechnologien werden“, sagt Diess. Die USA, China, die EU, Japan und andere Länder – alle legten Programme auf, um erneuerbare Energien und Klimaschutz zu fördern. Und das im Umfang von Hunderten Milliarden von Euro. „Ich glaube allerdings nicht, dass die Länder das tun, um die Welt zu retten“, meint der frühere Top-Manager. „Ich denke, die Überlegung dahinter ist eher, Technologien zu entwickeln, zu skalieren und dann an alle anderen zu verkaufen.“

Die größten Erfolgsaussichten rechnet er China aus. Das Land sei bei vielen der entscheidenden Technologien schon jetzt dominant, wie eine weitere Grafik zeigt, die Diess mitgebracht hat. Von Windkraftwerken über die Komponenten von Solaranlagen bis zu Batterien: Chinas beherrscht die Märkte. „China versorgt im Grunde die gesamte Welt.“ Könnte das für Länder wie Deutschland nicht zum Problem werden? Nicht unbedingt. Schließlich baue man auch Autos mit Verbrennungsmotor, ohne eigenes Öl zu haben.

„Solange die Welt offen bleibt, ist es kein Problem, wenn man Solarpaneele woanders billig einkauft und dafür hierzulande die besten Anwendungen entwickelt. Wir müssen in Europa nicht alles selbst machen“, so Diess. „Wenn wir allerdings in unseren Entscheidungen unabhängig bleiben wollen, sollten wir eine gewisse Industrie hierzulande haben.“ Zumal die Solarindustrie zwischen 2030 und 2035 größer als die Automobilindustrie werden könnte.

Doch unabhängig davon, wo genau Wind- und Solarkraftanlagen, aber auch Energiespeicher hergestellt werden: Die Preise dafür fallen seit Jahren. Deswegen ist „billig“ auch eines der häufigsten Worte im Vortrag von Herbert Diess. Der Preis für Solarstrom sei in zehn Jahren um 90 Prozent gesunken und werde weiter fallen. Auch die großen Stromspeicher, die für die Energiewende gebraucht werden, um Schwankungen von Solar- und Windkraft zu überbrücken, würden immer erschwinglicher.

Die fallenden Preise könnten erstaunliche Folgen hab. Diess erklärt sie am Beispiel eines fiktiven Hausbesitzers, der in Bayern auf dem Land wohnt. Er lädt sein Elektroauto, das auch als Energiespeicher fungiert, mit dem Solarstrom, den die Anlage auf dem eigenen Dach erzeugt. Die Kosten pro Kilowattstunde würden nur fünf Cent betragen, hundert Kilometer Fahrt mit dem E-Auto kosteten dann lediglich einen Euro. „Das ist zehnmal billiger als mit einem aktuellen Verbrenner.“

„Nehmen wir an, dass Solarstrom sogar noch billig wird. Sobald die eigene Solaranlage auf dem Dach dann abgeschrieben ist, ist deine Energie dann kostenlos. Du kannst also kostenlos fahren“, sagt Diess. „Das macht das private Auto wirklich konkurrenzfähig. Mit diesem Preisniveau und diesem CO2-Niveau zu konkurrieren, wird für den Öffentlichen Nahverkehr also sehr hart.“

Seine größte Sorge? Das Ende einer offenen Weltwirtschaft.

Diess beendet seine Keynote genauso optimistisch, wie er sie begann. „Alles in allem bin ich davon überzeugt, dass wir es schaffen können“, sagt er. „Und höchstwahrscheinlich werden wir es auch schaffen.“ Doch gewisse Zweifel bleiben ihm.

Einerseits für Deutschland, vor allem wegen des hiesigen Drangs zur Überregulierung, der sich zuletzt in der Debatte um das Heizungsgesetz gezeigt habe. Sektor für Sektor wolle man hierzulande regeln – Heizen, Verkehr, Industrie. „Aber das ist die falsche Herangehensweise“, meint Diess. „Man sollte auf den Markt setzen, denn der Markt funktioniert. Schweden beweist das.“ Daher plädiert er dafür, dass CO2 „ein Preisschild bekommt“ – in Form eines CO2-Preises von mindestens 100 Euro pro Tonne. „Danach macht die Industrie ihren Job.“ Was bedeute, dass sich die effizientesten Lösungen durchsetzen.

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Auch müsse der Bau von leistungsfähigen Stromleitungen endlich vorankommen, was angesichts der Diskussionen über Wasserstoff-Infrastruktur für Diess zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. „Wasserstoff-Pipelines, alles schön und gut, aber das eigentliche Thema sind Hochspannungs-Gleichstrom-Leitungen, denn sie sind enorm effizient“, sagt er. Mit ihnen könne man Energie über tausend Kilometer mit nur 3,5 Prozent Verlust transportieren. „Das ist einfach der beste Weg.“

Viel größere Sorgen als die Diskussionen in Deutschland bereiten ihm aber die weltweiten Kriege und das angespannte Verhältnis zwischen den USA und China. „Wenn sich die USA und China wirklich voneinander entkoppeln, wird das [den Fortschritt] verlangsamen“, warnt er. Auch werde eine wirtschaftliche Entkopplung der beiden Weltmächte zu dauerhafter Inflation und damit zu dauerhaft hohen Zinsen führen. Das erschwere die Finanzierung von Start-ups und der gewaltigen Investitionen, die zum Umbau der Wirtschaft nötig sind.

„Doch technisch gesehen können wir es schaffen“, sagt Diess. „Daher sollten wir unsere Politiker darum bitten, zu verhindern, dass wir in eine bipolare, geteilte Welt geraten. Haltet die Welt offen!“

Titelbild: Herbert Diess beim Festival der Zukunft 2023 von 1E9 und Deutschem Museum, Sebastian Huber für 1E9.

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