Das Internet könnte ein besserer Ort sein, wenn soziale Netzwerke funktionieren würden wie E-Mails. Deren Austausch basiert nämlich auf einheitlichen Standards und Protokollen, was echten Wettbewerb zwischen Anbietern ermöglicht. Wie dieses Prinzip auch bei Twitter & Co. zu besseren Ergebnissen führen könnte, erklärt Felix Sieker von der Bertelsmann Stiftung.
Gastbeitrag von Felix Sieker, Experte für Algorithmenethik bei der Bertelsmann Stiftung
Die kontroversen Diskussionen rund um die mögliche Übernahme von Twitter durch Elon Musk unterstreichen die Vehemenz, mit der über die zukünftige Ausrichtung sozialer Netzwerke gestritten wird. Nicht zuletzt Elon Musk selbst hat dazu besonders beigetragen. Seine vagen Äußerungen, eine sehr unkonkrete Definition von Redefreiheit zur obersten Maxime werden zu lassen, hat die Befürchtung geweckt, Twitter könnte sich zu einem vollkommen unregulierten rechtsfreien Raum entwickeln. In gleicher Weise polarisiert die Vorstellung, dass die Kontrolle einer der weltweit wichtigsten Informationsplattformen in den Händen einer Person liegt.
Unabhängig vom Ausgang des Übernahmeversuchs gilt eine große Machtkonzentration bei sozialen Netzwerken jedoch schon seit Längerem als Problem. Zum einen ist die Bedeutung sozialer Medien wie Twitter für die öffentliche Meinungsbildung inzwischen sehr groß. Soziale Netzwerke sind nicht mehr nur ein begleitendes Informationsmedium, sondern sehr einflussreich beim Setzen von Themen. Der zweite Grund sind die zunehmenden Herausforderungen für die Governance-Strukturen der Anbieter. Soziale Netzwerke haben konkrete Probleme, mit Desinformationen und strafbaren Inhalten umzugehen.
Das wird dadurch erschwert, dass diese Phänomene eng mit dem Geschäftsmodell der Plattformen verbunden sind. Wagniskapitalgeber und andere Investoren sind von dem Interesse geleitet, Aufmerksamkeit zu optimieren und ein möglichst langes Verweilen auf den Plattformen zu garantieren, um die Gewinnmarge durch Werbung zu erhöhen. Das wiederum trägt dazu bei, dass soziale Netzwerke ihre Algorithmen so ausgestalten, dass sie kontroverse, aufmerksamkeitsgenerierende Inhalte präferieren.
Polarisierung der Debatten gefährdet die Demokratie
Immerhin rufen die Praktiken von Twitter und anderen Social-Media-Plattformen verstärkt die Regulierungsbehörden auf den Plan. Besonders prominent ist die europäische Gesetzesinitiative Digital Services Act (DSA), welche kurz vor dem Inkrafttreten steht. Der DSA hat zum Ziel, die Verbreitung von strafbaren Inhalten zu erschweren, indem unter anderem Haftungspflichten für Plattformbetreiber neu geregelt und vereinheitlicht werden. Sobald die Betreiber Kenntnisse von strafbaren Inhalten erhalten, müssen sie dagegen vorgehen, sonst drohen Bußgelder.
Allerdings ändert der DSA durch eine Neuregelung von Haftungspflichten wenig an der bestehenden Logik sozialer Netzwerke. Der Anreiz, aufmerksamkeitsstarke Inhalte zu präferieren und damit maßgeblich zu einer stärkeren Polarisierung öffentlicher Debatten beizutragen, wird kaum adressiert. Dabei birgt gerade diese Polarisierung die Gefahr, den demokratischen Diskurs nicht nur zu stören, sondern – etwa durch Desinformation – auch zu unterwandern und politische Prozesse zu beeinflussen.
Protokolle als Alternative zur jetzigen Architektur sozialer Medien
Wie also lässt sich die Situation verbessern? Die zuletzt vermehrt diskutierte Option, den Algorithmus von sozialen Netzwerken wie Twitter offenzulegen, würde höchstwahrscheinlich nicht viel ändern. Das liegt daran, dass es zum Beispiel im Falle von Twitter nicht den einen Master-Algorithmus gibt. Das Ranking von Inhalten ist vielmehr das Resultat eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Algorithmen mit Daten. Den Code einsehen zu können, erklärt also nur bedingt die Funktionsweise hinter Twitters Empfehlungsalgorithmus.
Eine grundlegende Veränderung wäre stattdessen die Idee eines offenen dezentralen Standards als Alternative zur jetzigen Architektur sozialer Medien. Dahinter steht folgender Gedanke: Macht, die bislang an der Spitze eines sozialen Netzwerks konzentriert ist, soll durch eine gemeinsame, offene Infrastruktur an die Basis des Internets verlagert werden. Eine Schlüsselrolle dabei spielen die (Internet-)Protokolle.
Im Zusammenhang mit den sozialen Medien hat dieses Konzept insbesondere Mike Masnick in einem 2019 erschienen Essay thematisiert. Doch was sind Protokolle eigentlich und welchen Beitrag können sie zu einer stärkeren Demokratisierung sozialer Medien leisten?
Wettbewerb bei E-Mail-Anbietern als Beispiel für den Erfolg offener Protokolle
Ein Protokoll ist die Basis der Netzwerkkommunikation im Internet; eine gemeinsame Sprache, die Computer nutzen, um miteinander kommunizieren zu können. Sie kann also als ein standardisiertes Werk an Regeln für den Austausch von Daten verstanden werden.
In den Anfangsjahren bestand das Internet aus vielen verschiedenen Protokollen, die zum Teil noch heute die Grundlage dafür darstellen, wie wir das Internet nutzen. Beispielsweise ermöglichte das Kommunikationsprotokoll Hypertext Transfer Protocol (HTTP) erst das World Wide Web, wie wir es heute kennen. In gleicher Weise stellt das offene Simple Mail Transfer Protocol (SMTP) die Grundlage für den Austausch von E-Mails dar. Anders als die Standards sozialer Netzwerke sind E-Mail-Standards offen, was eine Reihe von Vorteilen mit sich bringt. So ist es beispielsweise möglich, als Nutzer:in eines Anbieters wie Yahoo E-Mails von einem anderen Anbieter wie Gmail zu empfangen und zu verschicken. Denn die Maildienste nutzen dasselbe unterliegende Protokoll, was wiederum einen Wettbewerb zwischen ihnen ermöglicht.
Nutzer:innen können zwischen den Anbietern wechseln. Dies hat zur Folge, dass die Maildienste über Serverkapazität, Datenschutz oder besondere Funktionen um Nutzer:innen werben müssen. Ein solcher Wettbewerb schafft größere Anreize für Innovationen und verhindert exzessive Marktkonzentration.
Ein vergleichbarer Wettbewerb ist durch die anbietergebundene Infrastruktur, auf der soziale Medien basieren, nicht gegeben. Tatsächlich haben sich in den zurückliegenden Jahren vermehrt Plattformen durchgesetzt und die Idee von offenen Protokollen verdrängt. Auf den ersten Blick funktionieren Protokolle und Plattformen ähnlich. Was ist also der Unterschied zwischen beiden? Beide schaffen einen Standard, auf dessen Basis Dienste wie soziale Medien erst ermöglicht werden. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass Plattformen geschlossen sind und zentral geführt werden. Zudem können sie die Bedingungen, unter denen private Nutzer:innen oder Unternehmen auf der Plattform agieren, einseitig verändern und Wettbewerb sowie von außen kommende Innovationen erschweren.
Vision für die Zukunft: Wahlfreiheit bei Empfehlungs-Algorithmen
Ein dezentrales offenes Protokoll brächte im Falle von sozialen Medien verschiedene Vorteile mit sich. Zunächst braucht es für dezentrale offene Protokolle nicht zwangsläufig eine Blockchain. Zudem müssten sie kein Teil des Web 3.0 sein, dem vorgeworfen wird, nicht zu größerer Dezentralität beizutragen, sondern die bestehenden Machtkonzentrationen unter neuem Namen zu reproduzieren.
Aus Nutzer:innen-Perspektive ist insbesondere die Interoperabilität attraktiv: die Möglichkeit, über soziale Netzwerke hinweg zu kommunizieren, wogegen sich die großen Social-Media-Plattformen bislang wehren. In der Theorie braucht es keine neuen Eingabemasken, um sich über soziale Netzwerke hinweg auszutauschen. Gleichzeitig muss jedoch angemerkt werden, dass Interoperabilität in der Praxis noch vor Herausforderungen steht, da soziale Netzwerke unterschiedliche Standards zur Datenverschlüsselung haben. Hier müsste zunächst eine Vereinheitlichung erfolgen.
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Jetzt Mitglied werden!Besonders relevant in der Debatte um die Moderation von Inhalten ist die Frage nach den Empfehlungs-Algorithmen, die bestimmen, welche Inhalte im sogenannten Nutzerfeed angezeigt werden. Aktuell handelt es sich dabei ausschließlich um Algorithmen, die von den jeweiligen Unternehmen hinter sozialen Netzwerken, wie Twitter und Facebook, entwickelt wurden. Ein dezentrales offenes Protokoll könnte einen Schritt weg davon bedeuten. Dann kämen die Nutzer:innen in den Genuss einer echten Wahlfreiheit hinsichtlich der Inhalte, die ihnen angezeigt werden.
Social-Media-Unternehmen müssten mit Drittanbietern konkurrieren
Offene Protokolle bedeuten, dass theoretisch jede Person sogenannte Interfaces oder Filter – dazu zählen auch Empfehlungsalgorithmen – entwickeln könnte, die sich dann wiederum von allen Nutzer:innen verwenden ließen. In der Praxis ist die Entwicklung solcher Dienste für die allermeisten Privatnutzer:innen nicht von Relevanz, dafür könnten jedoch Drittparteien an Bedeutung gewinnen. Zum Beispiel wäre es denkbar, dass eine Nichtregierungsorganisation (NGO) wie Human Rights Watch einen Empfehlungs-Algorithmus, der besonders sensibel mit potenziell strafbaren Inhalten zum Thema Menschenrechte umgeht, selbst entwickelt und allen Nutzer:innen zur Verfügung stellt.
Die Reputation solcher Drittparteien, zu denen auch andere NGOs wie Greenpeace, die American Civil Liberties Union (ACLU) oder Transparency International gehören könnten, entscheidet wiederum darüber, in welchem Umfang Nutzer:innen diesen Vertrauen schenken. Konkret heißt das: Wer sich zum Beispiel für Tierschutz engagiert, könnte den Empfehlungs-Algorithmus des Umweltschutzbundes abonnieren und so insbesondere Nachrichten zum Artenschutz oder zu Tierpopulationen empfohlen bekommen.
Das Ergebnis wäre ein wirklicher Wettbewerb, in denen die Unternehmen hinter sozialen Netzwerken mit Drittparteien darüber konkurrieren müssten, wer den aus Sicht der Nutzer:innen vorteilhaftesten Empfehlungs-Algorithmus zur Verfügung stellt. Verknüpft mit der Wahlfreiheit ist die Hoffnung auf eine Selbstregulierung sozialer Netzwerke. Der Gedanke dahinter ist, dass sich diejenigen Empfehlungs-Algorithmen durchsetzen, die weniger extreme Inhalte bevorzugen.
Ohne staatliche Regulierung wird es nicht gehen
Es wäre jedoch naiv anzunehmen, dass eine größere Vielfalt an Empfehlungs-Algorithmen Gesetze s pakete wie den Digital Services Act (DSA) ersetzt. Im besten Fall wären dezentrale offene Protokolle die Infrastruktur sozialer Netzwerke. Darauf aufbauend, könnten Entwickler:innen neue Produkte entwerfen, die sich im Einklang mit der geltenden Rechtslage befinden und es einzelnen Nutzer:innen erlauben, Themen stärker im Einklang mit ihren Interessen zu filtern.
Kritisch zu hinterfragen ist die Aussicht darauf, ob sich eine solche Architektur sozialer Netzwerke auch durchsetzen ließe. Zwar unterstützt sogar Twitter die Entwicklung eines dezentralen offenen Standards sozialer Netzwerke, indem es das in diesem Jahr gegründete Projekt Bluesky finanziell fördert. Gleichzeitig ist jedoch zweifelhaft, inwiefern die großen Betreiber sozialer Netzwerke freiwillig ihr äußerst lukratives Geschäftsmodell umstellen.
Für eine effektive Durchsetzung bedarf es vermutlich einer staatlichen Regulierungsinitiative, die in ihrem Ausmaß die bestehenden Vorhaben um Längen überschreitet. Möglich wäre das, wenn soziale Netzwerke auf ähnliche Weise wie Unternehmen im Bereich Wasser, Elektrizität oder Gas als öffentliche Versorgungsunternehmen, das heißt als Infrastruktur für die gesellschaftliche Daseinsvorsorge, betrachtet und entsprechend reguliert werden würden.
Zunächst ist der Ansatz dezentraler offener Protokolle jedoch vor allem eines: ein Impuls für die Debatte darüber, wie das Internet wieder ein inklusiver digitaler Raum werden kann.
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Titelbild: Shutterstock
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