Vor über 25 Jahren erschien der Anime Perfect Blue. Der Film von Satoshi Kon handelt von einer Sängerin, die ihre Band verlässt und plötzlich von ihren vielseitigen Persönlichkeiten verfolgt wird. Sie fürchtet, wahnsinnig zu werden. Heute erscheint der Film wie eine Metapher auf die moderne Social-Media-Welt.
Von Michael Förtsch
Das erste Mal, dass mich jemand fragte, ob „es mich wirklich gibt“, war in meinem zweiten Jahr als freier Journalist. Denn ich arbeitete viel. Oft nachts und fast ausschließlich aus meinem Home Office. Vor allem aber regelte ich fast sämtliche Kommunikation über Chat, E-Mail, Twitter und Facebook. Telefonieren ist nicht meine Stärke und Videochats schon gar nicht. Seitdem kam es immer wieder vor, dass gescherzt wurde, ich sei in Wahrheit ein Chatbot oder eine Künstliche Intelligenz. Ein Scherz, der seit dem Start von ChatGPT neu aufgeflammt ist.
Diese Gedankenspiele konnte ich niemandem verübeln. „Man liest zwar immer wieder und überall von dir. Aber die Beweise für deine biologische Existenz sind rar“, schrieb mir mal eine Redakteurin eines Magazins. Das ist nicht zu bestreiten.
Tatsächlich gab es einige stressige Monate, in denen mich, abgesehen von den Menschen, denen ich zwangsweise begegnen musste, kaum jemand gesehen hat. Lediglich im Netz war ich präsent – und am Leben. Auf Emails antworte ich schnell, auf Facebook-Beiträge und Kommentare oft noch schneller, auf Twitter lief es ähnlich. Und: Wie ich mich dort präsentierte und gab, formte die Vorstellung zahlreicher Menschen über mich – die sicherlich sehr oberflächlich und abstrakt ausfiel: ein Mischmasch aus Popkulturreferenzen, Artikeln, die ich las, und Videos, die mich interessierten; nichts großartig Persönliches oder etwas aus meinem Leben; nichts eben, was nicht auch ein Bot hätte posten können.
Die Mutmaßungen waren für mich einerseits vollkommen okay und irgendwie amüsant. Andererseits fühlte es sich manchmal auch unheimlich und bizarr an – so als würde sich mein Internet- und Chatbot-Ich verselbstständigen und eine Schattenpersönlichkeit etablieren, die nicht mehr viel mit mir selbst zu schaffen hatte, abgesehen von gemeinsamen Interessen und öffentlichen Äußerungen.
Und das erinnerte mich stark an Mima Kirigoe, die Heldin aus dem Anime-Film Perfect Blue.
Alles blau
Perfect Blue ist das 1997 veröffentlichte Debutwerk des genialen Manga- und Animekünstlers Satoshi Kon. Er sollte später noch Anime wie Millennium Actress, Paprika, Tokyo Godfathers und vor allem die Anime-Serie Paranoia Agent verantworten, die allesamt – aufgrund ihrer Themen – ähnlich und dennoch ganz und gar eigen sind. Kon verstarb vereits 2010 im Alter von nur 46 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs – und ließ seinen letzten Anime Dreaming Machine unvollendet.
Für viele, denen Anime lediglich in Gestalt von Naruto, Dragon Ball oder Pokémon begegnen, dürfte Perfect Blue wie ein Sonderling erscheinen. Und das ist der Streifen auch irgendwie. Denn Perfect Blue ist ein düsterer und zuweilen verstörender Psycho-Horror-Thriller, der ohne Mecha-Roboter, Superkräfte und den Gesetzten der Physik trotzenden Kämpfen auskommt. Stattdessen zeichnet er ein hyper-realistisches Tokio, das von Menschen mit natürlichen und diversen Proportionen bevölkert ist, die alltäglichen Erledigungen nachgehen. Wir sprechen also von: normalen Menschen. Die Welt im Film stellt keine Weltfluchtfantasie dar, sondern eine glaubwürdige und authentische Kulisse.
Perfect Blue erweckt dadurch beinahe den Anschein eines Realfilmes, der eher in das Anime-Medium gestolpert ist. Aber genau diesen Eindruck macht sich Satoshi Kon gemeinsam mit den einzigartigen Möglichkeiten der Zeichentrickkunst zunutze, um mit dem Verstand und der Wahrnehmung der Zuschauer zu spielen.
Im Zentrum von Perfect Blue steht die oben erwähnte Mima Kirigoe, eine der Sängerinnen der J-Pop-Girlband CHAM. Sie ist beliebt, begehrt, wird angehimmelt. Aber, wie sie glaubt, führt ihre Karriere nirgendwo hin. Daher entschließt sie sich, die Band zu verlassen, um Schauspielerin zu werden. Tatsächlich ergattert sie schon bald eine charakterstarke Rolle im Krimi Double Bind – ihre große Chance, hofft sie zumindest. Doch ihr Ausstieg bei CHAM schlägt gleichzeitig unerwartet hohe Wellen.
Nachdem sie sich von ihrer Girl-Band verabschiedet hat, erhält Mima finstere Drohbriefe und sogar eine Briefbombe. Außerdem stößt sie auf die Website Mima’s Room, auf der eine fremde Person vorgibt, sie zu sein, ihr Leben und ihre Gedanken niederzuschreiben – und das erschreckend glaubhaft. Sie hat zurecht das Gefühl, verfolgt zu werden. Ein unheimlicher Typ namens Me-Mania, ein Stalker, folgt ihr überall hin, beobachtet sie, will ihr nahekommen.
Auch sonst lässt das erhoffte Lebens- und Karriereglück auf sich warten: Ihre Rolle in Double Bind ist anders als gedacht. Sie muss eine Vergewaltigungsszene durchspielen und sich nackt von einem Fotografen ablichten lassen. Noch dazu schafft ihre frühere Band CHAM plötzlich den großen Durchbruch – ganz ohne sie! In dieser verzweifelten Lage wird ihre Agentin Rumi, eine gescheiterte Ex-Popsängerin, zu ihrer Vertrauten und rät ihr, die Krimirolle zu verweigern, da es nur ihrem Image schade. Mima schlägt diesen Ratschlag aber aus. Und die Website? Die solle sie am besten ignorieren, meint Rumi.
Daraufhin scheint Mimas Leben immer weiter zu zersplittern. Jemand ermordet den Drehbuchautor des Krimis. Dann wird der Fotograf tot aufgefunden, der ihre Nacktaufnahmen machte; jemand hat ihm mit einem Schraubenzieher durch die Augen gestochen. Mima, vollkommen von ihrem Leben und all den bizarren Geschehnissen überfordert, vermutet, dass sie die Mörderin sein könnte. Denn ihr altes Leben und ihr altes Ich als Popsängerin – die Idol Mima – wie auch die Figur aus dem Krimi haften an ihr wie finstere Schatten; parallele Persönlichkeiten, die sie zu vereinnahmen drohen. Jemand – vielleicht sie selbst – scheint den Idol-Mima-Charakter wieder aufgegriffen zu haben und sein Sterben, das Beschädigen des so idealisierten und unschuldigen Charakters, mit Gewalt verhindern zu wollen.
Es fällt Mima zunehmend schwerer, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. Die Krimikulisse Double Bind wird zur Parallelwelt; spiegelt auf Mima zurück. Als ihr enthüllt wird, dass ihr Charakter in der Show unter einer Geisteskrankheit leidet, ist sie überzeugt, sie selbst – ihr wahres Ich – könnte unter derselben leiden. Sie scheint letztlich vollkommen die Kontrolle über sich und ihre Identität zu verlieren. Und in gewisser Weise ist dem auch so. Auch wenn letztlich alles irgendwie anders ist als erwartet.
Irritation und Illusion
Satoshi Kon ist in Perfect Blue permanent bestrebt, Verwirrung und Irritation zu erzeugen – und das über die Einbildung und Halluzinationen hinaus, die er Mima durchleben lässt. Von Beginn an, aber vor allem im letzten Drittel des Filmes verwischt die Grenze zwischen einer scheinbaren Realität, psychotischen Wahrnehmungsfehlern, fiktiven Geschehnissen und geschickten Täuschungen. In einer Szene ist eine Sirene eines Polizeiautos zu sehen, die auf ein Verbrechen und weitere Mord hindeutet, bis die Kamera zurückfährt und ein Kind auf einem Mini-Polizeiwagen auf einem Karussell zeigt. Als der Stalker Mima fasst und zu vergewaltigen droht, scheint dies plötzlich eine Szene aus Double Bind zu sein. Umgekehrt werden TV-Szenen als Mimas reales Leben präsentiert – und später in den Kontext der Sendung zurückgeschoben. Vor allem hier spielt Satoshi Kon mit dem Werkzeugkasten, den so nur der gezeichnete Film bietet.
Die Handlung von Double Bind und ihrer labilen Protagonistin läuft zunehmend im Tandem mit dem realen Leben von Mima. Der Zuschauer teilt damit alsbald den Zustand, den Mima durchlebt; zumindest im Ansatz. Er kann sich nie sicher sein, ob er das, was er sieht, in die korrekte narrative Ebene einsortiert – und was Mima, also der richtigen Mima, gerade zustößt.
Fiktive Menschen
In den genialen Wirren von Perfect Blue und dessen Subtext lassen sich viele Themen finden, die Satoshi Kon offenkundig faszinierten oder ängstigten; Entwicklungen, die er in der Gesellschaft und Kultur der 90er-Jahre beobachtete – oder zumindest zu beobachteten glaubte. Nicht zuletzt manifestiert sich seine Faszination für das Konzept der Avatare: teil-fiktive und oft idealisierte Projektionen und Personas, die auf einem realen Menschen aufgebaut werden. Wie eben Mimas Alter-Ego in der J-Pop-Girlband CHAM – das wenig mit ihr selbst oder einem realen Menschen gemein hat, sondern die alleinige Kreation einer Marketing- und PR-Strategie darstellt. Denn weniger die Musik und Sänger sind die Essenz jener Musikgruppen als überzeichnete und beinahe schon sphärische Starfiguren.
Vor allem im K-Pop hat sich diese Tendenz fortgeschrieben, dass weniger die Menschen auf der Bühne die Stars sind, sondern ihre von PR- und Marketing-Experten entwickelten Persönlichkeiten. Die realen Menschen sind mehrheitlich Darsteller, die fiktive Figuren spielen, ihnen Körper, Gestik und Stimme leihen – und daher strikten Regularien und sklavischen Verträgen unterliegen, um das vertretene Image nur nicht zu zerstören.
Avatare drangen aber schon in den 1990ern in das alltägliche Leben ein – ins Leben allzu normaler Menschen. Denn das Internet erlaubte es immer mehr Menschen, eine digitale Identität aufzubauen. Heute pflegt fast jeder einen oder sogar mehrere Avatare. Mal mehr, mal weniger künstliche Repräsentanzen unserer selbst, die wir kreieren und anderen präsentieren: auf Facebook, Twitter, Instagram, YouTube, Twitch – aber auch am Telefon, im öffentlichen Raum und auf Veranstaltungen.
Wir pflegen, planen, designen und gestalten virtuelle Repräsentanzen. Sie sie sind quasi das Bild, das wir öffentlich von uns zeigen und das anzeigt, wie wir wahrgenommen werden wollen. Wir formen sie aus Profil- und Titelbildern, durch Videos, Texten, Beiträgen und Bildern, die wir posten. durch die Klamotten, die wir draußen tragen, die Dingen, die wir öffentlich sagen, durch den Sprachduktus und die Worte, die wir verwenden, oder durch die Menschen, denen wir folgen und mit denen wir uns befreunden und umgeben. Auch die Dinge, die wir eben nicht zeigen, die Probleme, über die wir nicht reden, die Themen, die wir lieber nicht behandeln, gehören zu unseren Avataren.
Wir versuchen durch sie ein bestimmtes Bild der eigenen Person zu vermitteln und gleichzeitig anderen eine Möglichkeit zu eröffnen, das Gefühl zu entwickeln, den Menschen dahinter zu kennen – selbst, wenn das zu nur einem sehr begrenzten Teil der Wahrheit entspricht. Die Möglichkeiten der Selbstinszenierung sind so breit und vielzählig wie die Menschen im Netz selbst. Manche scheren sich recht wenig um ihr digitales oder öffentliches Abbild und sind auch im Netz beinahe sie selbst. Gerade Instagram- und YouTube-Influencer formen dagegen oft ein gänzlich neues Ich um sich und ihren Körper, der wenig bis gar nichts mit ihrem realen selbst zu schaffen hat. Andere wiederum erschaffen völlig fiktive Figuren, denen sie lediglich ihren Körper und ihre Stimme leihen.
Perfect Blue fragt nun: Was passiert, wenn wir die Kontrolle über unseren Avatar verlieren, wenn er uns entgleitet, mächtiger und präsenter wird/wurde als wir selbst? Wenn wir nicht länger ihn gestalten, sondern er uns? Das kann durchaus passieren. Und zwar dann, wenn all die Menschen da draußen einen Avatar anhimmeln – aber nicht jenen Menschen, der dahintersteht. Nicht wenige Influencer spüren zunehmend einen Druck, ihrem fiktiven Image gerecht zu werden, weniger sie selbst und mehr ihr Avatar zu sein. Das kann bis zum Burnout führen.
Andere Menschen können uns – über unseren Avatar – in einer Weise sehen und interpretieren, über die wir keinerlei Macht besitzen. Sie vereinnahmen dieses fiktive Bild, nicht selten in einer verdrehten Art, die in dem Charakter vielleicht gar nicht angelegt ist. Sie machen ihn sich zu eigen und leiten daraus ein Recht auf diese Person in ihrem Leben ab. So ergeht es Mima in Perfect Blue: Als sie ihre Pop-Karriere beendet, droht sie die Vorstellung die Me-Mania und andere von Mima haben, zu zerstören. Denn die Figur, die sie haben wollen, würde sich in der neuen – und realeren – Mima auflösen. Ihre Agentin Rumi tut alles dafür, die Idol-Mima im Netz und in ihrem Kopf weiterleben zu lassen und Me-Mania tötet (scheinbar?) jene, die an der Zerstörung seiner Mima beteiligt sind.
Ihr altes Ich, ihr Avatar, den sie auf der Bühne pflegte, beginnt Mima als ein geisterhafter Doppelgänger zu erscheinen – und immer wieder in der Realität einzuschlagen. Wenn jemand also seinen Avatar ablegt, wird er ihn nicht so einfach los. Er wird weiterhin von ihm und dem Eindruck, den er bei anderen hinterließ, verfolgt. Zu beobachten war das bei Promis wie Miley Cyrus oder Jonah Hill, die mit krassen Wandlungen versuchten, ihrem medialen Image zu entfliehen. Im Fall von Björk war es hingegen der Stalker Ricardo López, der versuchte, die Sängerin mit einer Briefbombe zu töten oder zu entstellen, da sie eine Beziehung mit dem DJ Goldie einging. Er wollte die reale Björk davon abhalten, seine idealisierte Vorstellung von Björk zu sabotieren.
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Im Jahr 2016 entspann sich rund um die Beauty-YouTuberin Marina Joyce eine regelrechte Verschwörungstheorie und -hysterie. Ihre Fans und später zahlreiche weitere Menschen, glaubten, die junge Frau sei gekidnapped, in Geiselhaft von ISIS-Terroristen oder plötzlich drogenabhängig geworden. Denn sie habe sich in einem Video über Date Outfit Ideas anders als sonst verhalten. Selbst als Marina den wilden Vermutungen widersprach, gingen die Theorien unter dem Hashtag #savemarinajoyce weiter. Sie hatte die Autorität über ihre Persona und die Deutungshoheit über ihr Leben verloren.
Nicht viel anders ergeht es auch Martin Freeman, der vielfach in Filmen und Serien wie Sherlock nette, gutherzige und gesellige Charaktere gibt – aber beim Aufeinandertreffen mit Fans als arrogant und abweisend wahrgenommen wird. Denn durch die Charaktere, die er verkörpert, weckt er Erwartungen, die er selbst nicht erfüllen kann oder will – was beiderseitig zu Enttäuschungen führt, wie er selbst sagte. Die Fiktion fordert die Realität heraus.
“Being in that show, it is a mini-Beatles thing, People’s expectations, some of it’s not fun any more. It’s not a thing to be enjoyed, it’s a thing of: ‘You better f—— do this, otherwise you’re a c—.’ That’s not fun anymore.”
Martin Freeman
Auch in Perfect Blue wird der krasse Kontrast zwischen der Art, wie Mima von anderen – durch ihre Augen – wahrgenommen wird, und der Realität offenbar, wenn Mima mit sich selbst ist; einsam, alleine und in ihrem Hadern mit der Realität verloren; verzweifelt darüber, wie andere sie zeichnen und porträtieren.
Mit all diesen Facetten und Aphorismen war Perfect Blue nicht unbedingt seiner Zeit voraus. Denn Satoshi Kon sinnierte über Phänomene, die er schon im J-Pop sah. Aber er dachte und interpretierte sie in einer Weise, die Perfect Blue zu einem Werk macht, das heute aktueller wirkt als zu seinem Erscheinen. Denn jeder kann heute Mima sein und die Zweifel und Ängste durchleben, die sie erfährt. Millionen von Menschen sind heute im Netz kleine Mini-Berühmtheiten, haben eine Anhängerschaft, die Erwartungen und Vorstellungen hat, die nicht mit der Realität konform gehen.
Übrigens kann ich allen, die diesen Artikel lesen, versichern: Ich existiere. Ich bin keine KI.
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