Knapp 40 Jahre ist es her, dass der Philosoph Frithjof Bergmann forderte: Arbeit muss neu gedacht werden! Statt sich in traditioneller Lohnarbeit zugrunde zu richten, sollten Arbeiter sich erstmals mit der Frage auseinandersetzen: Was will ich wirklich wirklich? Er ahnte nicht, dass er damit zur Kultfigur einer Bewegung avancieren würde. Heute schreibt sich jedes moderne Unternehmen den von ihm geprägten Modebegriff „New Work“ auf die Fahne. Die tatsächliche Umsetzung hat aber wenig mit Bergmanns ursprünglicher Idee zu tun.
Von Kathrin Kerler
Im März 2020 war die Corona Pandemie endgültig in Deutschland angekommen. Die Regierung verhängte den ersten Lockdown. Von heute auf morgen wurden Schulen, öffentliche Einrichtungen, Läden, aber auch Großraumbüros und Fabrikhallen geschlossen. Während in Bussen und Bahnen gähnende Leere herrschte, wurde es zuhause umso enger: Parallel zum Home Schooling wurden in unzähligen Wohnzimmern, Küchen oder Schlafzimmern improvisierte Heimarbeitsplätze eingerichtet.
Gerade in dieser ersten Phase des Lockdowns machte sich in vielen Branchen bemerkbar, wie sträflich die Digitalisierung in Deutschland vernachlässigt worden war. Telefonleitungen von öffentlichen Ämtern und kleineren Firmen waren dauerbelegt, weil die Umleitung ins Home Office schwer umzusetzen war. Je nach Anbieter war zudem das heimische Internet mal mehr, mal weniger stabil. Interne und externe Kommunikation, die vorher selbstverständlich war, konnte nicht mehr auf dieselbe Weise gepflegt werden.
Gut aufgestellt waren dagegen viele Firmen im IT-Bereich und im E-Commerce. Hoch bezahlte „Solutions Architects“ oder „Scrum Master“ sorgen hier seit Jahren dafür, dass die zunehmend komplexeren Problemstellungen der modernen Unternehmenswelt schnellstmöglich und vor allem digital gelöst werden. New Work wird hier vor allem als innovative Technik verstanden, die schnelle Anpassung an auftretende Probleme ermöglicht. Diese Herangehensweise zahlte sich aus. Denn spätestens seit dem zweiten Lockdown ist klar: Wirtschaftszweige, die primär auf analoge Prozesse gesetzt haben, bleiben auf der Strecke. New Work als Traum von der Abschaffung der Lohnarbeit erscheint hier wie dekadenter Luxus, an den in der Krise nicht mehr zu denken ist.
New Work als Alternative zu Massenentlassungen
„Es gibt eine Alternative zu Massenentlassungen.“ – Mit dieser Grundidee trat Frithjof Bergmann 1982 an den Automobilkonzern General Motors heran. In seinem 1988 erschienenen Buch „New Work New Culture“ führte er diese Idee weiter aus und stellte die Forderung: Arbeit soll etwas sein, das die Menschen stärkt, nicht schwächt. Doch wie sollte dieser Grundgedanke Mitte der 1980er Jahre tausende von Fließbandarbeitern in der US-amerikanischen Stadt Flint, Michigan, vor der Massenarbeitslosigkeit bewahren? Und wie kann diese Idee in der heutigen Krise Hoffnung auf eine positive Zukunft bieten?
Während der Automobilkrise in den USA sah Bergmann die Lösung auf drei Ebenen: Zum einen sollten die Arbeiter nur noch die Hälfte des Jahres ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen. Dies würde dem Arbeitgeber Kosten ersparen. Darüber hinaus sollte die Lohnarbeit durch den Einsatz von Technik erheblich erleichtert werden. Während ihrer freien sechs Monate sollten sich die Mitarbeiter dann mit der Frage auseinandersetzen, was sie wirklich wirklich wollen. Hierbei leistete das von Bergmann gegründete Zentrum für Neue Arbeit Hilfestellung. Schließlich handelte es sich damals um eine Frage, die sich die Fließbandarbeiter noch nie gestellt hatten. Dadurch sollten sie für sich eine Tätigkeit finden, aus der sie zum einen Energie und Befriedigung ziehen können und zum anderen auch Möglichkeiten, damit Geld zu verdienen.
Der dritte Bestandteil der Neuen Arbeit war die High-Tech-Selbstversorgung. Bergmann selbst hatte einige Jahre als Einsiedler gelebt und war zu dem Schluss gekommen, dass Selbstversorgung in alter Tradition keine Freiheit sei, sondern Sklaverei. Moderne Technik sollte daher den Bedürfnissen nach Nahrung, Strom oder auch Fertighäusern kostengünstig und effizient nachkommen. Dann könnten sich die Arbeiter der Frage widmen, was sie wirklich wollen. Hierbei setzte Bergmann bereits in den 1980er Jahren auf den Einsatz von Computern vor allem bei der Herstellung von Produkten. Mit seinen Ideen griff er damit unter anderem dem heutigen 3D-Druck vorweg.
New Work als Bewegung der Elite
Das aktuelle Verständnis von New Work setzt in Unternehmen ebenfalls an drei Stellen an: neue Raumkonzepte, modernste Technologie und ein neues Miteinander. New-Work-Experten tüfteln also zum einen an digitalen Vernetzungs- und Coworking-Möglichkeiten. Andere werden vor Ort kreativ, beispielsweise mit Designs für Open-Space-Büros oder geteilte Arbeitsplätze, die je nach Aufgabe spontan genutzt werden können. Der dritte Bestandteil nach der heutigen Auffassung von New Work richtet den Fokus auf den Unternehmenszweck und die Unternehmenskultur. Hier fallen Schlagworte wie „Purpose“ oder „Work-Life-Blending“.
Allein die Begrifflichkeiten machen allerdings deutlich: Zielgruppe der modernen New-Work-Bewegung sind nicht die einfachen Arbeiter und Angestellten. Die wirtschaftliche Spaltung der Gesellschaft macht sich also nicht nur im Lebensstandard bemerkbar. Auch das Verständnis von Arbeit sowie die Sprache, mit der darüber gesprochen wird, sind je nach Angestelltenebene sehr verschieden. Hip klingende Anglizismen kommen bei Hochschulabsolventen durchaus an. In der breiten Masse der Angestellten können solche Begriffe jedoch eher für Befremdung als für Identifikation mit dem Unternehmen sorgen.
Hier spiegelt sich eine Entwicklung wider, die sich durch den Fachkräftemangel seit Jahren verschärft: Arbeitgeber sprechen mit ihrem Unternehmenszweck – dem „Purpose“ – und einer neuen Firmenkultur vor allem die gut ausgebildete und umkämpfte Elite an. Die Frage, was ein im „Design Thinking“ entwickelter „Purpose“ beispielsweise Callcenter-Mitarbeitern, die im Fünf-Minuten-Takt Kundenanfragen beantworten, an positivem Nutzen bieten soll, wird dabei kaum gestellt.
Wer nach Stechuhr arbeitet und an seiner Produktivität pro Stunde gemessen wird, konnte sich schon am obligatorischen Tischkicker – DEM Symbol für New Work – nicht sonderlich erfreuen. In Zeiten von Home Office, in denen die „Kreativen“ mit einem Morgenkaffee-Video-Call in den Tag starten und sich dann in „Vertrauensarbeitszeit“ ihren Aufgaben widmen, kämpft der Callcenter-Agent mit täglichen technischen Updates. Währenddessen wird genau erfasst, wie viele Kundenanfragen er bearbeitet. Schafft er weniger als im Büro, wird an seiner Selbstdisziplin und seiner Motivation gezweifelt.
Es folgt ein Übermaß an gut gemeinten Ratschlägen, digitalem Freizeitangebot, Spaß-Challenges und Umfragen zur Work-Life-Balance. Beteiligt er sich hierbei nicht, entstehen Zweifel an seinem Teamgeist und seiner Integrationsbereitschaft. Eigenverantwortlich und selbstreflektiert soll er agieren, dabei aber gleichzeitig auf möglichst vielen digitalen Kanälen seine Offenheit für Spaß, Gemeinschaft und für alle Themen, die gerade aufkommen, demonstrieren. Nicht nur die Produktivität, sondern auch das Maß an sozialer Interaktion wird zu einer messbaren Größe, nach der ein Angestellter bewertet wird. Modernste Technik? Ja. Tun, was man wirklich wirklich will? Eher nicht.
Neue Arbeit erfordert ein neues Menschenbild
Dabei ging es Frithjof Bergmann ursprünglich darum, den 80 Prozent der Bevölkerung, die an „seelenloser“ Lohnarbeit Stück für Stück zugrunde gehen, Zeit und Ruhe für das zu schaffen, was sie wirklich wollen. Dass Lohnarbeit im Stundentakt auf Dauer krank machen kann, hatte er am eigenen Leib erfahren. Nach einem Studienjahr in Oregon blieb er in den USA und schlug sich unter anderem als Hafen- und Fließbandarbeiter, Tellerwäscher und Preisboxer durch. Später berichtete er, dass man nach einem Tag am Fließband am Abend ein bisschen weniger intelligent war als am Morgen. „Das ist in der Tat ein ganz raffinierter Verblödungsprozess.“
Vor allem aus diesem Grund setzte Bergmann auf Technik, die solche Arbeiten übernehmen sollte. Heute mangelt es seiner Auffassung nach nicht an technischen Möglichkeiten. Sein Fazit zur derzeitigen Umsetzung von New Work – wie er dem Handelsblatt 2019 in einem Interview mitteilte – lautet dennoch: „Heute macht man vielerorts nur die Lohnarbeit attraktiver, sympathischer und netter. Man kann auch sagen: Es ist Lohnarbeit im Minirock. Firmen beschreiben das, was wir Neue Arbeit nennen, nur in ganz oberflächlicher Art und Weise. Auch wenn es angeblich super läuft, ist es mehr Schein als Wirklichkeit.“ An der Grundsituation hat sich also nichts geändert: Die Menschen verbringen den Großteil ihrer Zeit mit Lohnarbeit. Immerhin ist sie für die Eliten durch heutige New-Work-Konzepte deutlich angenehmer geworden.
Um auch heute als Lösung für Massenarbeitslosigkeit zu gelten, braucht es für New Work aber nicht noch weitere technische Lösungen oder Bürokonzepte. Damit würde nur weiterhin „von oben“ verordnet, wie Menschen ihre Tätigkeiten verrichten sollen. Durch Home Office, Kommunikationssysteme, die wie soziale Medien funktionieren, und ein Angebot an digitalen Freizeitaktivitäten verschwimmen zudem die Grenzen von Arbeit und Privatem. Um Arbeit neu zu denken und frustrierende Lohnarbeit wirklich abzuschaffen, braucht es laut Bergmann vor allem eins: ein neues Menschenbild. Eines, das auch dem einfachen Angestellten zugesteht, „dass er kein Raubtier ist, das gezähmt werden muss. Dass kein Egoismus in ihm herrscht, den man bändigen muss. Sondern dass wir jetzt den Punkt erreicht haben, wo wir die Menschen entwickeln und stärken können.“
Hier bleibt Bergmann zuversichtlich. Die technischen Voraussetzungen sind erstmals in einem Ausmaß vorhanden, um die Grundversorgung der Menschheit zu sichern. Befreit von Existenzängsten braucht die heutige Zeit vor allem Mut. Mut, auch Arbeitern und Angestellten die Möglichkeit und das Vertrauen zu bieten, sich ernsthaft mit der Frage zu befassen: Wie wünsche ich mir die Neue Arbeit? Und vor allem: Was will ich wirklich? Denn wie er bereits im Fazit seines Buchs „New Work New Culture“ schrieb: „Wenn wir unsere Aufmerksamkeit einem Stuhl, einer Lampe, einer Couch, einem Tisch zuwenden, wird sehr schnell klar, wie die meisten Dinge auf 100-fache Weise verbessert werden könnten. Und dies ist natürlich noch zehntausendmal zutreffender für das Leben. Wir können deshalb zusammen daran arbeiten.“
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So schön diese Idee klingt und so leidenschaftlich sich Bergmann seit Jahrzehnten für die Abschaffung monotoner Lohnarbeit und die geistige Emanzipation der unteren Angestelltenebene einsetzt: Konkrete Belege für den Erfolg seiner Maßnahmen gibt es bisher nicht. In Zeiten, in denen Angestellte und Arbeiter im Maschinenraum als „systemrelevant“ beklatscht werden, lohnt es sich aber zumindest, Bergmanns Ansatz weiterzudenken.
Beispielsweise könnte das in Form von Mitbestimmung passieren – und durch Antworten auf die Frage: Wie können sich Angestellte wirkungsvoll Gehör verschaffen, damit nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Ideen als systemrelevant wahrgenommen werden? Und einen Schritt früher angesetzt: Wie kann in Arbeitern und Angestellten die Überzeugung entfacht werden, dass nicht nur ihre Fähigkeit zur Verrichtung vorgegebener Aufgaben, sondern auch ihre Erfahrung, ihre Wünsche und ihre Ziele wirklich wirklich systemrelevant sind?
Kathrin Kerler ist studierte Philosophin, Trainerin und systemische Beraterin. Sie hilft Frauen dabei, sich in der neuen Arbeitswelt selbst zu verwirklichen.
Titelbild: Getty Images