Nach den großen Plattformen: Die Zukunft von Social Media liegt in der Diaspora


Die großen Social Networks dürften in den kommenden Jahren langsam, aber sicher ihren Niedergang erleben. An ihrer Stelle erwachsen schon jetzt viele kleinere soziale Netzwerke, die teilweise unabhängig von großen Unternehmen betrieben werden. Auf sie werden sich die Nutzer verteilen, anstatt sich alle zusammen auf Megaplattformen zu tummeln. Es wird also eine digitale Diaspora entstehen – und das wird Folgen haben.

Von Michael Förtsch

Die Welt ist im Wandel: Ich spüre es im Wasser, ich spüre es in der Erde, ich rieche es in der Luft. Vieles was einst war, ist verloren, weil niemand mehr lebt, der sich erinnert.

Ja, es ist vielleicht etwas überdramatisch einen Artikel über Social Media mit dem Monolog von Galadriel aus Der Herr der Ringe zu beginnen. Aber diese bedeutungsschwangeren Worte könnten sehr gut auf das zutreffen, was uns bevorsteht. Denn wir beobachten gerade, dass sich eine lange andauernde und prägende Ära des World Wide Web ihrem Ende zuneigt: das Zeitalter der großen zentralisierten Plattformen, die wir als soziale Netzwerke bezeichnen. Facebook zählte in diesem Jahr zwar mehr als drei Milliarden monatliche Nutzer. Doch die Nutzerschaft wird zunehmend älter und die Plattform gilbt bei den Jüngeren als ein Ort, wo sich Mama und Papa herumtreiben – der deshalb natürlich gemieden wird. Instagram hat sich von einem sozialen Erlebnis rund um Fotos zu einer Werbemaschine gewandelt, die stets dem letzten Trend hinterherrennt. Seien es Stories, Kurzvideos oder was auch immer.

Das einst als Twitter bekannte X geht jede Woche aufs Neue durch eine fixe Idee von Elon Musk in Flammen auf und könnte durchaus schon in Schutt und Asche liegen, wenn der Artikel hier veröffentlicht wird – Update: Tut’s nicht, aber viele Nutzer erleben gerade mal wieder komische Fehler. Selbst wenn nicht: Die rechten und radikalen Stimmen werden dort immer lauter, nehmen überhand und lassen andere kaum noch hören. TikTok wächst weiter und weiter, aber löst immer wieder heftige Debatten und Kontroversen über Moderationsstandards, dessen chinesische Entwickler und mögliche Verbote aus. Außerdem lässt sich trefflich streiten, wieviel social wirklich in der Video-App steckt, oder ob es sich eher um eine von Algorithmen kuratierte Selbstinszenierungsplattform mit Kommentarsektion handelt.

Es scheint als würden sich infolge all dessen nicht wenige nach neuen und unberührten Orten sehnen. Digitale Stätten, die von vorne anfangen, neue Verbindungen aufbauen und Interaktionsmöglichkeiten ausprobieren und so eine harmonischere und verständlichere Community möglich machen. Das führt nun schon seit einer Weile dazu, dass sowohl Unternehmen als auch freie Initiativen mit Alternativen experimentieren, und sich Nutzer andere Heimaten für ihr digital-soziales Tun suchen – ohne den Einfluss und die Überwachung der großen Social-Media-Mogule. Das wird Folgen für unser Miteinander haben. Denn, sollten einige dieser Projekte Erfolg haben, wird damit wohl das Ende der pulsierenden digitalen Zentren kommen, wie wir sie seit Beginn der Web-2.0-Ära kennen.

Der Antrieb

Einschränkend muss man sagen: Es ist nicht das erste Mal, dass sich Internetnutzer nach alternativen Social-Media-Plattformen umschauen. Bei weitem nicht. Vor allem Skandale um die Datensammelwut von Facebook oder die einst so regelmäßigen Ausfälle von Twitter sowie der Drang, ein Gegengewicht zu den Social Networks der US-Firmen zu schaffen, führten in der Vergangenheit zu verschiedensten Anstrengungen, etwas zu ändern. Darunter waren längst vergessenen Projekte wie JoinR oder App.net, die bereits vor Jahren kamen und scheiterten. Andere wie das von Jimmy Wales gegründete WT.social, die Facebook-Kopie MeWe oder Minds sind ebenfalls wenig bekannt, existieren aber bis heute still in einer Nische.

Daneben wächst und gedeiht das sogenannte Fediverse. Darunter versteht man einen Mix aus verschiedenen Initiativen, die an offenen freien Protokollen arbeiten, die Social Networks ermöglichen sollen, die mit verschiedenen Apps genutzt und auf eigenen Servern als Teil eins großen und resilienten übergeordneten Netzwerks aufgesetzt werden können. Das Twitter-artige Mastodon und das eher Facebook-gleiche Friendica, die das sogenannte ActivityPub-Protokoll nutzen, gehören dazu. Auch Metas Twitter-Klon Threads soll ActivityPub verwenden und sich irgendwann dem Fediverse öffnen. Das einst gehypte Projekt Diaspora hat sich mit seinem eigenen Protokoll schon jetzt als kleiner Teil des Fediverse etabliert. Zuletzt kamen noch Nostr und BlueSky hinzu. Ersteres hat bereits über 400 sogenannte Relays – also Server, die Nachrichten speichern und weiterleiten. BlueSky läuft derzeit nur auf den BlueSky-eigenen Servern, aber das soll sich bald ändern. Daneben gibt es noch viele weitere Fediverse-Projekte wie Firefish, Lemmy oder Pleroma.

Vor allem die Übernahme von Twitter durch Elon Musk und seine erratischen Änderungen am Social Network führten zu mehreren Abwanderungswellen. Zunächst wechselten User zu Mastodon, das die Möglichkeit bietet, sich Servern anzuschließen, die bestimmten Themen gewidmet sind und über die man fast ausschließlich mit den Nutzern auf dieser sogenannten Instanz interagieren kann, um den globalen Lärm auszusperren. Instanzen für Anime-, Fahrrad- und Autofans, grüne Technologien oder Linux gibt es bereits. Dazu kommen Instanzen, die von Firmen wie Mozilla betrieben werden. Rund sieben Millionen Menschen haben sich zwischen November 2022 und März 2023 zugewendet. Einige Millionen sind auch durchaus bislang geblieben – und auf Mastodon sehr zufrieden.

Mehrere Millionen blieben allerdings auch nicht. Sie wanderten zu anderen Diensten weiter, wie etwa zum derzeit nur via Einladung nutzbaren BlueSky, zu Threads oder anderen X-Alternativen wie Nostr, Post, Spoutable, zum vormals T2 getauften Pebble oder zu Substack Notes. Nicht wenige scheinen ihre Entscheidung getroffen zu haben, wo sie sein möchten. Die entflohene Community von Twitter hat sich aufgesplittert – und wird es wohl bleiben. Denn die jeweiligen Netzwerke bedienen die zuweilen sehr unterschiedlichen Interessen und Nutzungsvorlieben der einstigen Twitterer.

Mastodon überzeugt viele mit seinen Themen-spezifischen Instanzen. BlueSky erweckt das Gefühl, das hier das „alte Twitter“ der frühen Web-2.0-Ära auflebt: Künstler, Entwickler, aber vor allem bekanntere Twitter-Veteranen finden sich dort. Nostr ist experimentell, technisch, eben das Linux unter den Twitter-Alternativen und bei vielen Kryptowährungs-Enthusiasten beliebt. Der einstige Twitter-Chef Jack Dorsey ist dort genauso zu finden wie Ethereum-Erfinder Vitalik Buterin. Metas Threads erlebte zum Launch einen Ansturm – denn jeder Instagram-Nutzer aus Nordamerika konnte sich automatisch anmelden –, dann eine Flaute, hat aber weiterhin mehrere Millionen aktiver Nutzer, die sich um bekannte Influencer und namhafte Stimmen aus der Medien-, Politik-, Tech- und Gaming-Szene versammeln.

Die eine dominierende X-Alternative oder gar einen Nachfolger gibt es nicht, sondern verschiedene, die jeweils ihre Vor- und Nachteile haben und entsprechend gut oder schlecht bei Ex-Twitter-Nutzern ankommen. Gleichzeitig haben sich mit weniger Lautstärke auch schon manche Instagram-User verabschiedet, nachdem sich die Seite mehr und mehr zu einem Kanal für Influencer wandelte und heute Videos statt Fotos präferiert. Einige wanderten zur Fediverse-Instagram-Kopie Pixelfed ab. Andere sprangen auf die zeitweise stark gehypte App Vero auf, wo vor allem Fashion und Style gefeiert werden. Professionelle Fotografen und ambitionierte Amateure verschwanden wiederum zu Glass, Plates und zum Foto-Social-Urgestein Flickr.

Es sind nicht nur Plattformen

Ja, die Zeit der Social Networks, bei denen quasi jeder ist und die irgendwie für alles taugen, geht zu Ende. Stattdessen zersplittern und verteilen sich die Nutzer auf mehr, kleinere und spezialisiertere soziale Medien. Sie suchen sich die themen- und community-spezifischen Apps, zu denen die eigene peer group gezogen ist, wo es sich für sie selbst am besten anfühlt oder wo jetzt die eigenen Idole und Vorbilder aktiv sind. Wir erleben die Anfänge einer digitalen Weltzerstreuung, die dafür sorgt, dass nicht mehr nur Facebook, Twitter, Instagram und TikTok relevant sein werden, sondern in Zukunft wohl Dutzende von Social Networks. Manche werden eines oder einige davon nutzen werden, aber andere nicht. Zusätzlich werden Messenger-Gruppen auf Telegram und WhatsApp, die sich in bestimmten Zirkeln zu einem zentralen Medium entwickelt haben und um immer mehr Möglichkeiten erweitert werden, zur Alternative werden. Und dann wären da noch Chat-Plattformen wie Discord sowie die guten alten Foren, die derzeit ein unerwartetes Comeback erleben.

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Die Social-Media-Landschaft der Zukunft wird also nicht nur spezialisierter und fokussierter, sondern auch privater. Vieles wird weiterhin öffentlich stattfinden, aber eben auf kleineren Plattformen und weniger plakativ. Außerdem wird vieles, was jetzt noch auf Twitter, Instagram und Co. zu finden ist, versteckt in Messengern oder Chats ablaufen. Eine digitale Biedermeierära, wenn man so will. Ob das gut oder schlecht ist? Letztlich wohl beides. Denn es könnte die schon oft beklagten Echokammern verfestigen und Räume schaffen, in denen sich jeder nur noch gegenseitig zustimmt und eine Parallelrealität propagiert wird, die wenig mit der Wirklichkeit zu schaffen hat. Ganz ähnlich ist es schon jetzt in rechten Netzwerken wie Truth Social und Gab zu sehen. Oder auf einzelnen Mastodon Instanzen.

Außerdem könnte eine Zersplitterung der Social-Media-Landschaft die Stimme von marginalisierten Gruppen dämpfen. Der Widerstand der indigenen Völker gegen die Dakota Access Pipeline in den USA, der arabische Frühling oder die Proteste in Hong Kong zogen vor allem über Twitter, Facebook und Instagram den Blick der Welt auf sich. Die alten Netzwerke sind es auch, die derzeit der LGBTQ-Community, migrantischen Gruppen oder Menschen mit Behinderungen größere Sichtbarkeit verschaffen, wodurch ihre Posts von Millionen gesehen und von einflussreichen Menschen geteilt werden. Diese Sichtbarkeit wird es so wohl nicht mehr geben, sollten die großen Plattformen weiter degenerieren.

Der digitale Biedermeier könnte die globale Kommunikation aber auch zum Guten verändern. Die Möglichkeit, die eigene Meinung über einen Tweet oder Post in die ganze Welt hinauszubrüllen, ist faszinierend, aber vielleicht nicht die beste Option für jeden Diskurs und jedes Thema. Vieles lässt sich in kleiner Runde, mit Gleichgesinnten und einem kollegialen Umgang wohl besser verhandeln und debattieren. Vor allem, da nicht ständig die Gefahr besteht, dass plötzlich ein Fremder die Tür eintritt und seine Meinung in den Raum schreit. Vielleicht entsteht hier also eine gesündere, unaufgeregtere Art der Social Media. Vielleicht ist sie auch etwas langweiliger, aber das wäre wohl okay.

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