Von Wolfgang Kerler
In der Mitte des Studios, das in einem Berliner Altbau untergebracht ist, steht ein großer Fernseher. Darauf ist sie zu sehen. Sie tanzt. Oder doch nicht? „Eigentlich denkt sie darüber nach, wie der menschliche Körper in verschiedenen Posen aussehen könnte“, sagt Christian Loclair, genannt Mio. „Sie fließt durch ihr Universum. Für uns sieht das aus, als würde sie tanzen.“
Sie, das ist eine Künstliche Intelligenz. Und was sie auf dem Bildschirm erschafft, ist eine schimmernde, menschliche Gestalt, die zu tanzen scheint. Im Takt der Musik, die Mio gestartet hat. Er war früher professioneller Tänzer, programmiert aber auch seit den frühen 90er Jahren. Später studierte er Informatik. Inzwischen ist er Künstler und gleichzeitig der Chef von Waltz Binaire, dem vielleicht ersten Studio für maschinelle Kreativität.
Die Figur auf dem Fernseher ist aus Polygonen zusammengesetzt und erinnert an die animierten Menschen früherer Computerspiele. Allerdings ist hier nichts vorher animiert. In Echtzeit gleitet die KI stufenlos durch ihre fast unendlich vielen Vorstellungen davon, wie ein menschlicher Körper in bestimmten Positionen aussehen könnte. „Dabei weiß sie gar nicht, was ein menschlicher Körper ist“, sagt Mio. „So merkwürdig das auch klingt. Sie weiß aber, dass der Oberarm aus der Schulter kommen muss.“ Wie ist das möglich?
Mehr als ein interessantes Kunstprojekt
Hinter der KI steckt ein GAN, ein Generative Adversarial Network . Das besteht im Grunde aus zwei Künstlichen Intelligenzen, einer Lehrer-KI und einer Schüler-KI. Diese konkurrieren miteinander. Die Lehrer-KI wird mit großen Datenmengen gefüttert, die vorher oft in Handarbeit beschriftet und kategorisiert werden müssen. In diesem Fall waren es 60.000 Bilder von Menschen in unterschiedlichen Posen, erklärt Mio. „Darunter sind auch Posen vom Breakdance, Capoeira oder Karate, aber auch einfach nur Leute, die die Arme ausstrecken.“
Die Lehrer-KI erhält den Satz an Bildern – ohne weiteren Kontext. Doch das reicht, damit sie sich ein Modell erarbeiten kann, an welchen Mustern sie eine körperlich tatsächlich mögliche, menschliche Pose erkennt. Die Schüler-KI dagegen bekommt eine Aufgabe: Sie soll Darstellungen erschaffen, die von der Lehrer-KI als menschliche Posen klassifiziert werden. Sie soll ihrem Lehrer also Menschen vortäuschen, ohne selbst auch nur ein einziges Bild von ihnen gesehen zu haben.
Sie beginnt und erschafft 30 neue Figuren pro Sekunde. Die ersten können die Lehrer-KI gar nicht überzeugen. „Doch irgendwann macht die Schüler-KI durch Zufall irgendetwas richtig“, sagt Mio. „Dafür bekommt sie Feedback vom Lehrer und weiß jetzt, in welche Richtung sie es weiterversuchen muss.“ Nach einem Lernprozess von etwa drei Wochen entsteht schließlich die schimmernde Figur auf dem Fernseher. Man könnte sie als Spielerei eines Programmierers abtun, als interessantes Kunstprojekt. Aber sie ist viel mehr.
Maschinen, die menschliche Kuratoren brauchen
Zum einen ist es Mio und seinem Team gelungen, ein GAN-Netzwerk zu schreiben, das dreidimensionale Figuren generieren kann. In den letzten Monaten und Jahren sorgten dagegen Künstliche Intelligenzen für Schlagzeile, die beispielsweise Modells samt Kleidung und Frisuren erschaffen, die es gar nicht gibt. Oder die Sylvester Stallone in einem Deep Fake plötzlich zum Hauptdarsteller von Terminator 2 machen. Die Technologie dahinter ist im Grundsatz dieselbe. Doch es ging immer nur um zweidimensionale Bilder oder Videos.
Zum anderen war es noch vor wenigen Jahren undenkbar, dass Künstliche Intelligenz überhaupt derartige Bilder, Videos oder dreidimensionale Objekte erschaffen kann. „Jede Woche gibt es neue Sensationen, die es in der Geschichte der Informatik so noch nicht gegeben hat“, sagt Mio. „Ich programmiere seit 1992. Ich hätte nie geglaubt, so etwas einmal zu sehen.“ Doch was bedeutet das für die Kreativbranche? Zu der gehört nicht zuletzt sein eigenes Studio Waltz Binaire, das für Firmenkunden mithilfe von Technologie neue Designwelten erschafft.
Der Mensch wird zu einem DJ des Gesehenen und Gemachten.
Christian Mio Loclair
„Ich glaube, unsere Vorstellung von Kreativität und Design wird sich in den nächsten Jahren völlig neu definieren“, sagt er. „Das Kreativgeschäft wird sich verlagern – weg vom handwerklichen Umsetzen mit Computerprogrammen hin zum Kuratieren. Der Mensch wird zu einem DJ des Gesehenen und Gemachten.“
Konkret meint er damit, dass eine Künstliche Intelligenz, die 30 einzigartige tanzende Figuren pro Sekunde erschaffen kann, das natürlich auch mit neuen Autos, mit Geschirr, Logos, Kleidung oder anderen Artefakten tun kann, die bisher von menschlichen Designern entworfen wurden. Den Menschen braucht die KI nur noch als Kurator, in zweifacher Hinsicht: Er muss die Daten vorbereiten, mit denen sie trainiert wird. Und er muss sich am Ende für ein Design entscheiden.
„Unsere Aufgabe wird es sein, das Material auszuwählen, die Algorithmen zu schreiben und später die fertige Software für Unternehmen bereitzustellen“, prognostiziert Mio. „Mit dieser sind die Menschen dann eigentlich Kunden der KI. Sie können durch die unendliche Auswahl an Designs durchscrollen, bis ihnen eines gefällt. Oder sie sagen der KI, dass der Schuh auf dem Bild noch ein bisschen liebevoller beleuchtet werden sollte.“ Ist das also das Ende der menschlichen Gestaltung?
Wir singen unter der Dusche, einfach so
„Nein“, sagt Mio. „Aber um die Frage nach der Kreativität zu beantworten, müssen wir sie in ihre unterschiedliche Erscheinungsformen unterteilen: im Design und in der Kunst. Kreativität im Design folgt einer Metrik. Ein Stuhl, auf dem man nicht sitzen kann, ist schlecht. Die KI wird bald bessere Stühle erschaffen können als Menschen.“ Kunst dagegen folge keiner Metrik. Das heißt, ihre Qualität lässt sich nicht messen. Sie muss keinen Sinn ergeben, keinen Grund haben. Und dabei muss es noch nicht einmal um große, bedeutsame Kunst gehen.
„Wenn du die Straße entlang gehst und pfeifst, dann will das wahrscheinlich niemand hören. Du bekommst dafür kein Geld und keine Nahrung. Und einen Partner wirst du dadurch vermutlich auch nicht finden“, sagt Mio. „Im Ursprung dieser Handlung gibt es keinen Sinn, genau wie beim Singen unter der Dusche oder beim Tanzen, wenn du allein bist. Es gibt einfach keinen Grund dafür, warum Menschen so etwas tun. Und doch tun sie es seit 50.000 Jahren.“
Klar könnte er eine Maschine bauen, die unter der Dusche singt oder pfeift. Aber sie würde das nur tun, weil das in ihrem Code steht. Ihr fehlt die menschliche Intention, die dazu führt, dass wir Dinge einfach nur deshalb tun, weil wir sie tun wollen. Ganz egal, was andere davon halten. „Das ist so eine Wahnsinns-Sensation“, sagt Mio. Und das lasse sich nicht programmieren. „Wir Menschen wissen oft nicht zu schätzen, was uns so unvergleichbar macht. Es sind ganz oft die Sachen, die uns einfach nicht so wichtig sind.“
Christian Mio Loclair kommt am 11. Juli 2019 zu 1E9 THE_CONFERENCE. Verpasse nicht seine Keynote: Artificial Vanity - creative machines thinking about their future um 10 Uhr. Du willst mehr über das Kunstwerk erfahren, um das es in diesem Artikel ging? Auf der Projektseite von Mio gibt es noch mehr Informationen und Videos.
Teaser-Bild: Waltz Binaire