Klimaschutz in Japan: Nullenergiehäuser mit Wohlfühlfaktor und schwimmende Windkraftwerke

Lautstarke Klimaproteste gibt es in Japan nicht. Trotzdem hat sich die Industrienation verpflichtet, bis 2050 ihre CO2-Emissionen auf Null zu reduzieren. Wie? Vor allem mit neuen Technologien. Strom sollen neben Atomkraft schwimmende Windräder liefern und Gebäude sollen mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen – ohne dabei den Komfort für die Menschen zu vergessen.

Von Wolfgang Kerler

„Wofür wirst du dich entscheiden?“, steht auf Englisch auf einem der Sticker, die Takashi Matsuki auf die Rückseite seines Laptops geklebt hat. Unter dem Schriftzug zeigen zwei Grafiken bunte Ausschnitte stilisierter Landschaften. Die eine stellt grüne Hänge, Wiesen, einen sonnigen Tag dar. In der Mitte steht ein Windkraftwerk. Die andere Landschaft fällt düster aus. Aus einer vertrockneten Ödnis ragen zwei Schornsteine empor. Sie blasen dunklen Rauch in den roten Himmel.

Der Aufkleber fasst ziemlich gut zusammen, womit sich Takashi Matsuki seit Jahren beruflich beschäftigt. Als Reporter für die Tokioter Tageszeitung The Nikkan Kogyo Shimbun berichtet er über Umwelt- und Klimaschutz. Er begleitet den Umbau der asiatischen Industrienation – weg von fossilen Energieträgern, hin zu Wind- und Solarkraft. Vorangetrieben wird dieser Wandel in Japan weniger von lautstarken Klimaprotesten als von Regierung und Industrie. So lässt sich jedenfalls die Präsentation verstehen, die Takashi Matsuki für Journalistenkollegen aus Deutschland vorbereitet hat.

Japan ist als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt für rund drei Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich. Das macht pro Kopf etwa 8,5 Tonnen pro Jahr, etwas mehr als in Deutschland. Bis 2050 will Japan CO2-neutral sein, genau wie die Europäische Union, jedoch fünf Jahre später als Deutschland. Das erste Etappenziel rückt auch in Japan näher: Bis 2030 strebt die Regierung in Tokio eine Verringerung der CO2-Emissionen um 46 Prozent gegenüber dem Jahr 2013 an. „Das Jahr 2013 wurde bewusst ausgewählt“, sagt Takashi Matsuki. Damals hätten die Emissionen ihren Höchststand erreicht. „2021 war man bei einer Reduktion um 20 Prozent.“ Um weitere Fortschritte zu erzielen, setzt Japan vor allem auf technische Innovationen.

SUSTIE: Ein Haus, das mehr Energie erzeugt als es verbraucht

Ortswechsel nach Kamakura, etwa eine Stunde Zugfahrt südlich von Tokio. Von außen lässt es sich kaum von anderen modernen Bürogebäuden unterscheiden. Die Fassade ist weiß, die Fenster erstrecken sich fast durchgehend über die drei Etagen. Auffallend sind höchstens die Vordächer, die über den Fensterreihen angebracht sind. Sonst: nichts Besonderes. Dennoch hat das Gebäude inmitten eines Firmengeländes einen eigenen Namen bekommen. Es heißt SUSTIE, was eine Mischung aus „Sustainability“ und „Energy“ ist. SUSTIE ist trotz seines unscheinbaren Äußeren ein Vorzeigeobjekt. Und eine Testanlage.

Der japanische Industriekonzern Mitsubishi Electric baute das Bürohaus vor knapp drei Jahren nämlich nicht nur, um auf rund 6.500 Quadratmetern ein paar Hundert Angestellte unterzubringen. Mit SUSTIE soll erprobt werden, wie durch den Einsatz moderner Technik ein zertifiziertes ZEB erschaffen werden kann, ein Zero Energy Building, das im Jahresschnitt mindestens genauso viel Energie erzeugt, wie es verbraucht. „Der erste Schritt, um das zu erreichen, ist eine Vielzahl von Technologien einzusetzen, um Energie zu sparen“, erklärt Masahito Matsushita von Mitsubishi Electric. „Der zweite Schritt ist die Gewinnung von erneuerbaren Energien.“

Ein echtes ZEB zu bauen, das bedeutet den Energieverbrauch gegenüber einer konventionellen Bauweise um mindestens 100 Prozent zu senken. Für SUSTIE wurde in der Planungsphase sogar das weltweit noch nicht erreichte Ziel von 106 Prozent ausgegeben. Knapp 63 Prozent sollten dabei durch Energiesparen erzielt werden, die restlichen 43 Prozent durch die Gewinnung von grünem Strom. Letzteres war dabei vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen: Auf dem Flachdach und auf den Vordächern über den Fenstern wurden Photovoltaikanlagen installiert.

Um den Energieverbrauch so deutlich zu senken, mussten die Planer dagegen an vielen kleinen Stellschrauben drehen: Eingebaut wurden besonders sparsame Klimaanlagen, die dennoch angenehme Deckenhöhen erlauben, und ein Lüftungssystem mit Wärmerückgewinnung. Für die Beleuchtung wurde auf LED-Lampen gesetzt. Und die effizienten Aufzüge gewinnen Strom zurück, wenn sie nach unten fahren. Ohnehin soll Strom nur dann eingesetzt werden, wenn es nötig ist. Ansonsten soll natürliche Energie ganz direkt angezapft werden. „Das ist eine wichtige Ressource, die wir so gut wie möglich ausnutzen wollten,“ erklärt Taiki Kobayashi, der für die technische Umsetzung von SUSTIE mitverantwortlich war.

Die Lüftungsanlage saugt außerhalb des Gebäudes Frischluft an, die zunächst durch unterirdische Rohre geleitet wird. Unter der Erde herrscht eine konstante Temperatur, die die Luft wärmt oder kühlt, je nach Ausgangstemperatur. Die Gemeinschaftsbereiche werden im Winter mit Wärmepumpen geheizt. Und wenn die Außentemperatur passend ist, werden automatisch die Fenster geöffnet, um frische Luft ins Gebäude zu lassen. Diese weht im Inneren durch raumhohe, aber erstaunlich schicke Radiatoren, in denen Wasser zirkuliert, wodurch sie je nach Bedarf gekühlt oder erwärmt wird.

Auch die natürliche Energie der Mitarbeiter soll nicht ungenutzt bleiben. Daher sind die Treppen in die oberen Etagen prominent im Foyer platziert, während die Fahrstühle in einer Nische versteckt sind. Zusätzlich fordern Piktogramme die Menschen dazu auf, lieber zu Fuß nach oben zu gehen. Dabei geht es, zugegeben, weniger um Energiesparen. Die Bewegung soll vor allem die Gesundheit der Menschen fördern.

5.000 schwimmende Windkraftwerke pro Jahr

Zurück beim Journalisten Takashi Matsuki. Er erzählt, dass die japanische Regierung Anfang dieses Jahres konkretisierte, wie sie die „Grüne Transformation“ in den nächsten zehn Jahren vorantreiben will. Insgesamt will sie 150 Billionen Yen investieren, umgerechnet fast eine Billion Euro. Mit dem Geld sollen technische Innovationen mitfinanziert werden.

„Der größte Teil geht in den Mobilitätssektor“, sagt Takashi Matsuki. Mit 34 Billionen Yen soll die japanische Autoindustrie unter anderem bei der Umstellung auf Elektroautos unterstützt werden. Auch Wasserstoff und E-Fuels beziehungsweise synthetische Kraftstoffe – in Deutschland für PKW eher umstritten – gelten in Japan als zukunftsträchtig. Der zweitgrößte Posten – mit eingeplanten Mitteln von 20 Billionen Yen – ist der Ausbau der erneuerbaren Energien. Ihr Anteil an der Stromversorgung soll von den derzeit etwa 20 Prozent bis 2030 auf 36 bis 38 Prozent gesteigert werden.

Einen entscheidenden Beitrag sollen dabei – angesichts der knappen bebaubaren Flächen auf den gebirgigen Inseln – Off-Shore-Windkraftwerke leisten. Allerdings nicht irgendwelche, nein, ein Konsortium japanischer Industriekonzerne hat sich zusammengetan, um vor den Küsten Tausende Windkraftwerke zu installieren, die schwimmen. „Das Gefälle an den Küsten ist sehr stark, weshalb man Windkraftanlagen nicht ohne weiteres am Grund verankern kann“, sagt Takashi Matsuki. „So kam man auf die Idee, sie schwimmen zu lassen.“ Beziehungsweise adaptierte die Idee für Japan.

Bis März 2024 sollen sieben Exemplare der 300 Meter hohen Kraftwerke gebaut werden. Bis 2030 sollen Anlagen mit einer Leistung von 10 Gigawatt installiert sein, bis 2050 gar von einem Terrawatt. „Dafür sollen ab 2030 jährlich 5.000 Windräder errichtet werden“, sagt Takashi Matsuki. „Das ist ein ziemliches Vorhaben.“

Nach dem Ausbau der Erneuerbaren folgt im Investitionsplan für Japans „grüne Transformation“ der Gebäudesektor auf Platz drei. 14 Billionen Yen sollen in die energetische Sanierung bestehender Gebäude sowie die Errichtung neuer Net-Zero-Häuser gesteckt werden, die über das Jahr hinweg keine CO2-Emissionen verursachen. Oder zumindest deutlich energieeffizienter gebaut sind als es bisher üblich war. „Hier hat Japan echten Nachholbedarf“, meint Takashi Matsuki. Womit wir wieder beim Zero-Energy-Building SUSTIE in Kamakura wären.

Zertifiziertes Wellbeing – und trotzdem kein hoher Stromverbrauch

Ryo Kodama von Mistubishi Electric führt Gäste aus Deutschland durch das Gebäude. Schon im Eingangsbereich sind auf einem großen Bildschirm Balkengrafiken zu sehen. Sie zeigen, wieviel Energie das Gebäude erzeugt und verbraucht und wie sehr Berechnungen und Realität voneinander abweichen. „Hier sieht man, dass die Werte im Winter fast genauso waren, wie wir sie vorhergesagt hatten“, erklärt Ryo Kodama. Doch für die Sommermonate lagen die Prognosen, die vor dem Bau gemacht wurden, daneben. „Im Sommer konnten wir sogar noch mehr Energie sparen.“ In Summe kommt SUSTIE damit auf einen 115 Prozent niedrigeren Energieverbrauch als bei einer konventionellen Bauweise…

Das Gebäude erzeugt über das Jahr betrachtet also mehr Strom als es benötigt – was konkret bedeutet, dass es im Sommer auch die angrenzenden Häuser mit Energie versorgt, im Winter allerdings Strom aus dem Netz braucht. „Das Klima hier in Kamakura ist sehr typisch für Japan“, sagt Masahito Matsushita. „Wir haben einen schwülwarmen Sommer und Minusgrade im Winter, manchmal auch Schnee. Das bedeutet wir müssen jedes Jahr kühlen und heizen.“

Mit 115 Prozent Energieeinsparung qualifizierte sich SUSTIE für die Zertifizierung als ZEB, als Nullenergiehaus. Doch seine Macher wollte zeigen, dass das nicht auf Kosten des Komforts geht – und strebten daher auch noch erfolgreich die strengsten Zertifizierungen für Wellness beziehungsweise Wellbeing an. Kurz gesagt: für das Wohlbefinden der Menschen, die im Gebäude arbeiten.

Das erfordert nicht nur offensichtliche Maßnahmen wie begrünte Wände oder Arbeitsbereiche, die je nach Bedürfnis unterschiedlich gestaltet sind: mit eher nüchtern möblierten Fokuszonen, in denen still gearbeitet werden kann, offen und grün gestalteten Relaxzonen, in denen man kreativ sein kann, und Dialogzonen für Kollaboration. Vor allem geht es beim Wellbeing um angenehme Temperaturen und Beleuchtung sowie um hohe Luftqualität, die durch die Belüftungsanlage und Filter sichergestellt werden soll. Permanent wird sie von Hunderten Sensoren im ganzen Haus überwacht. CO2, Radon, Ozon, sonstige Schadstoffe – alles wird gemessen.

„Man kann sich vorstellen, dass Energieeffizienz und Komfort eigentlich widersprüchliche Anforderungen sind“, sagt Masahito Matsushita. Noch dazu hängen beide von vielen Faktoren ab – von Wetter über Tages- und Jahreszeit bis zur Frage, wie viele Menschen gerade wo im Gebäude arbeiten. Um alle technischen Systeme im SUSTIE darauf abzustimmen, kommen Künstliche Intelligenz und Simulationen zum Einsatz. „Es wäre unmöglich, das alles einzeln zu berechnen“, so Masahito Matsushita.

Die Erfahrungen, die mit SUSTIE gesammelt werden, sollen nun auch kommerziell genutzt werden – für Nullenergiehäuser, die neu gebaut werden. „Und wir müssen all diese Technologien so weiterentwickeln, dass wir auch ältere Häuser zu Zero Energy Buildings machen können.“

„Man sollte die Ziele ambitionierter formulieren“

Wieder beim Journalisten Takashi Matsuki. Er berichtet, wieviel Geld in Japan in die Erneuerung von Stromnetzen oder den Bau von Energiespeichern gesteckt werden soll, wie die Produktion von grünem Wasserstoff vorangetrieben wird und warum auch die Förderung der heimischen Halbleiterindustrie für Japan Teil des Klimaschutzes ist. Er stellt technologische Innovationen vor, die zur Marktreife gebracht werden sollen: von Wasserstoff aus künstlicher Photosynthese, der mit von der Industrie abgeschiedenem CO2 zu Kunststoffen verbunden werden soll, bis zu besonders leichten und biegsamen Solarzellen, die günstiger als konventionelle Zellen sein sollen.

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Obwohl es auch in Japan zu Greenwashing komme, verpflichteten sich außerdem immer mehr Unternehmen, kommunale Verwaltungen und Forschungseinrichtungen, selbst CO2-neutral zu werden, sagt Takashi Matsuki. Einer entsprechenden Erklärung hätten sich bereits 318 Organisationen angeschlossen. „45 davon sind jetzt schon zu 100 Prozent klimaneutral“, sagt der Journalist.

Doch trotz all dieser Initiativen verrät Takashi Matsuki, dass er ein bisschen neidisch auf Deutschland sei, weil Umwelt und Klima dort in der Gesellschaft diskutiert werden. „Ich würde mir hier auch mehr Bewusstsein bei den Konsumenten wünschen.“ Doch das Feedback auf die Klimaschutzstrategien von Unternehmen und Politik falle verhalten aus. Vielleicht liegt es auch daran, dass die japanischen Klimaziele aus seiner Sicht zu niedrig ausgefallen sind. „Man sollte die Ziele ambitionierter formulieren, um die Dringlichkeit zu erhöhen“, sagt er, „damit den Leuten auch klar wird, dass etwas passieren muss.“

Titelfoto von Jezael Melgoza auf Unsplash

Transparenzhinweis: Wolfgangs Recherche in Japan wurde durch eine Einladung von Mitsubishi Electric ermöglicht. An die Einladung waren keinerlei Auflagen bzgl. unserer Berichterstattung gebunden.

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