Immersives Lernen: Wie ich mir mit Serien, Nachrichten, Mangas und einer Internet-Community Japanisch beibringe

Weg mit Frontalunterricht und langweiligen Schulbüchern. Eine Internet-Community hat mit dem „Immersiven Lernen“ eine ganz neue Methode erschaffen, um Fremdsprachen zu lernen. Daniel aus der 1E9-Redaktion hat nicht nur recherchiert, wie diese entstanden ist und wie sie funktioniert. Er hat sie gleich selbst ausprobiert – und sich mit digitalen Mangas, Nachrichtenartikeln, kostenloser Software und einer Anime-Serie selbst Japanisch beigebracht.

Von Daniel Szöke

ビシャ : 天国を追い出された天使は悪魔になるしかないんだ。そうだろう、スパイク?

スパイク : 俺はただ覚めない夢を見てるだけさ

Auch wenn ich kein Wort verstand, fesselte mich Anfang 2021 dieser düster klingende Dialog aus der japanischen Anime-Serie Cowboy Bebop von 1998, erschaffen von Regisseur und Drehbuchautor Shinichiro Watanabe. Obwohl ich auch die englische Version der Serie hatte, wählte ich immer wieder die japanische Originalversion aus. Denn für mich schaffte es nur die charismatische japanische Synchronisation, die verschiedenen Elemente der Serie miteinander zu verbinden: Science-Fiction, Jazz und Kopfgeldjagd.

Das schallende Zischen von Vicious, dem vom Krieg traumatisierten Antagonisten der Serie, oder die Lautmalereien von Radical Edward, einer exzentrischen dreizehnjährigen Hackerin, ließen mich in eine fremde Zukunft eintauchen. Ziemlich schnell wollte ich dann allerdings doch die genaue Übersetzung des Dialogs wissen, den Slang der Charaktere und ihre Betonungen verstehen. Der Jahresanfang kam mir dabei gelegen, denn ich setzte mir einen Neujahrsvorsatz: Japanisch lernen.

Noch im Januar 2021 besuchte ich also meinen ersten Sprachkurs und kaufte mein erstes Textbuch. Aber auf den tausenden von durchstrukturierten Seiten fand ich keine Welt, in die ich eintauchen konnte und erst recht keine Charaktere, deren Dialoge mich fesselten. Es war Mitte März, als ich gelangweilt und – auch, weil ich ein wenig faul war – ohne nennenswerte Fortschritte gemacht zu haben, mein Problem mit dem Wunderheilmittel aller Wunderheilmittel lösen wollte: Ich fragte das Internet, ob es nicht eine bessere Art gibt, eine Sprache zu lernen.

Im Labyrinth aus Internetforen, Blogs, YouTube-Videos und Chaträumen stieß ich schließlich auf die Internet-Community für Immersives Lernen, die offenbar aus Leuten wie mir bestand – aus Leuten, die eine andere Sprache lernen wollen, aber keine Lust auf klassische Kurse und Lehrbücher haben.

Neue Sprachen lernen in einer Internet-Community

In der Community werden Medien in der jeweiligen Fremdsprache ausgetauscht, Forennutzer aus der ganzen Welt bringen sich gegenseitig Sprachen bei, Programmierer basteln an Sprachsoftware und Datenbanken vereinen Vokabular, Grammatik, Bilder und Tonspuren. Die Community verwendet so viele Fachbegriffe, dass man fast schon meinen könnte, in ihr hätte sich eine eigene Fachsprache entwickelt: input hypothesis, comprehensible input, i+1 sentences, sentence mining, spaced repetition oder optical recognition software sind Wörter, die immer wieder fallen.

Das wirkt erst etwas erschlagend und sogar ein bisschen esoterisch, doch die Berichte von Mitgliedern, die ich kennenlernte, beweisen, dass die Theorien und Methoden praktisch sind und man damit sehr schnell sehr gut werden kann. Der Deutsche Steven Schüttler, zum Beispiel, lernte durch das Immersive Lernen Japanisch und schaffte in eineinhalb Jahren das Level JLPT N1. Roto Ozeki, ein Japaner, brachte sich Englisch bei und erreichte das EIKEN Grade 1 in nur einem Jahr. Beides sind die höchsten Stufen der jeweiligen Sprachzertifikate.

Schon wegen der Pandemie konnten weder Steven noch Roto in die Herkunftsländer ihrer Fremdsprachen reisen. Allein die Digitalisierung ermöglichte es beiden, einen Zugang zu unbekannten Sprachen zu finden. Die Internet-Community des Immersiven Lernens und ihre Mitglieder sind ein Beispiel dafür, wie unser zukünftiges lebenslanges Selbstlernen aussehen könnte – ganz ohne Volkshochschule und Frontalunterricht. Bevor ich euch aber von meinen eigenen Erfahrungen mit dem Immersiven Lernen berichte, kommt eine kleine Einordnung, wie sich die Methode entwickelt hat.

Die Anfänge der Methode liegen in den 1980ern

Die Idee des immersiven Lernens geht auf den Linguisten und ehemaligen Deutschlehrer Stephen Krashen zurück. 1985 schrieb er in seinem Buch The Input Hypothesis: „Menschen erwerben eine Sprache auf nur einem Weg: indem sie Botschaften verstehen.” Die stetige Zufuhr von leicht verständlichen Sätzen ist für Krashen der Schlüssel des Spracherwerbs. Das letztendliche Sprechen einer Sprache ist dagegen nur dessen Endresultat, nicht seine Ursache.

Wann genau ein Satz leicht verständlich ist, zeigt Krashen anhand des sogenannten „i+1“-Satzes, wobei „i“ für den Kenntnisstand des jeweiligen Schülers steht. In diesem Paradebeispiel erlernt der Leser ein neues Wort, das ,+1”, indem er einen Satz mit nur einem ihm unbekannten Wort liest und das unbekannte Wort erraten kann – mithilfe von Definitionen, Bildern, Tönen oder etwa Illustrationen. Krashens Methodik war damals für Klassenzimmer gedacht: Der Lehrer illustriert und kreiert eine Zufuhr von leicht verständlichen Informationen, während die Schüler nur zuhören, die Informationen konsumieren und sich die Bedeutung der neuen Wörter dabei selbst erschließen.

Mit der Ausbreitung des Internets wurde die Idee von Krashen auch von Selbstlernern entdeckt. Tomasz Szynalski, ein Englisch-Polnisch-Übersetzer, und Michal Wojcik, ein polnischer Mathematiker, erkannten schnell, dass im Netz jeder Krashens Theorie in die Praxis umsetzen kann. Plötzlich brauchte man keinen Lehrer mehr, weil man einfach im Internet nach leichtverständlichen Inhalten suchen und sie dann lesen, hören, anschauen konnte.

Neben einer gezielten Auswahl von leicht verständlichen Inhalten gab es außerdem eine zweite neue Möglichkeit: jeglichen Inhalt mit Hilfe von Software leichtverständlich machen. Um diese Erkenntnisse zu teilen, gründeten die beiden Software-besessenen Englischlerner 2001 eine Website namens Antimoon. Auf einem der ersten Blogs über das Lernen von Fremdsprachen modernisierten die beiden Krashens Input Hypothesis und machten sie für Selbstlerner nutzbar. Zum Beispiel, indem sie das Lernen mit Hilfe eines Algorithmus etablierten, eine Methodik, die bis heute von der Internet-Community des Immersiven Lernens benutzt wird.

Eintauchen in eine andere Sprachwelt

Populär wurde die Modernisierung von Krashens Lernmethode, jedoch erst durch einen enthusiastischen Hochschulstudenten. 2004 entwickelte der 21-jährige Kenianer Katesha Rogo Manduli, im von Japan weit entfernten Salt Lake City, Utah, seine Obsession mit der japanischen Sprache. Inspiriert von den Methoden, die auf Antimoon beschrieben wurden, startete er unter dem Internet-Pseudonym Khatzumoto 2006 einen eigenen Blog. Auf alljapaneseallthetime fasste er die Software und die Methoden von Antimoon und anderen Quellen zu einer holistischen Lernmethode zusammen. Er versah diese erstmals mit dem Begriff der Immersion, beziehungsweise des Immersiven Lernens.

Immersiv bedeutet, dass der Selbstlerner oder die Selbstlernerin beständig in fremdsprachigen Medien, die sich eigentlich an Muttersprachler wenden, eintaucht. Keine Sprachkurse, keine Textbücher. Khatzumotos Faszination mit dieser immersiven Lernerfahrung schlug allerdings in exzentrische Ausschweifung über. Khatzumoto beschrieb, wie er nur noch mit Stäbchen isst, die Spracheinstellungen all seiner Elektronikgeräte auf Japanisch wechselte oder japanische Tonspuren im Schlaf hört. Das Lernen einer Sprache als ein Alles oder Nichts. Schwer übersichtlich und mit manchmal rätselhaften Formulierungen umwoben, man solle „nicht lesen, sondern sehen“, gewann der exzentrische Blog dennoch an Popularität.

So viel Popularität, dass ihn Khatzumoto 2010 durch AJATT Plus, eine Mailingliste für Abonnenten, monetarisierte. Ein Jahr später folgt eine weitere Geldquelle, dieses Mal in Form des Sprachlernprogramms AJATT SilverSpoon. Je mehr die Monetarisierung von dem nun populären Blog anstieg, desto vielfältiger wurden allerdings die Internet-Gerüchte und Betrugsanklagen gegen ihren Betreiber. Antworten von Khatzumoto sind heute nicht mehr zu finden. Klar ist aber, der Blog fand ein rätselhaftes Ende: Im Oktober 2014 verschwand die Internet-Figur Khatzumoto mit einem letzten Blog-Eintrag.

Dass sich das Immersive Lernen trotzdem im Internet weiterverbreitete, ist kein Wunder. Die Digitalisierung machte weiterhin eine massive Zufuhr von Informationen mitsamt kontextspezifischen Bild- und Tonmaterial frei zugänglich und dazu auch noch Software, die es möglich machte, die Flut an Informationen leicht verständlich zu machen. Und durch die im Netz beschriebenen Methoden konnten auch analoge Medien dafür genutzt werden: Der düstere Dialog aus meiner Serie Cowboy Bebop wird zu Lernmaterial. Auch Bücher, Comics und Video-Spiele stehen mir offen. Matt, der den YouTube-Channel Matt vs Japan über Japanisch und Immersives Lernen hat, sagt zum Beispiel: „Der beste Aspekt [des Immersiven Lernens] war für mich immer dieses Gefühl, eine neue Welt zu entdecken.”

Schritt 1: Japanische Schriftzeichen lernen

Meine eigene Entdeckungsreise fing schließlich im März 2021 mit einem riesigen Berg von japanischen Medien an. Der Weg hindurch lag in einem dichten Nebel. Wie soll ich aus diesem Material etwas lernen? Als Anfänger wurde ich auf japanischen Nachrichtenseiten wie NHK News von fremden Schriftzeichen überflutet. Immersives Lernen, das Eintauchen in eine neue Welt war erstmal unmöglich. Und genau das ist eine häufige Anfangshürde, vor allem für Selbstlerner des Japanischen, einer Sprache, die drei verschiedene Zeichensysteme benutzt.

Überwunden habe ich die Hürde damals, indem ich die zwei grundgelegenen Schriftsysteme ひらがな (Hirgana) und カタカナ (Katakana) auswendig gelernt habe. Mit Papier und Stift war das allerdings weder immersiv noch modern: die Schriftzeichen angucken, abdecken, nachschreiben und denselben Prozess wiederholen. Für den letzten Teil der anfänglichen Hürde konnte ich dann aber auf eine moderne Methodik setzen. Dafür muss man das dritte Schreibsystem im Japanischen namens 漢字 (Kanji) lesbar machen. Die 2136 Zeichen, die man kenn muss, um eine Zeitung zu lesen, müsste man normalerweise über zwölf japanische Schuljahre lernen. Doch das sollte mich nicht abhalten. Schließlich nutzen selbst japanische Muttersprachler außerhalb der Schule ein Wörterbuch, um ein aus Kanjii bestehendes Wort in das einfache Hiragana-Schriftsystem umzuwandeln.

Genau das tat ich auch, indem ich ein digitales Wörterbuch installierte. Mit dem Pop-Up-Wörterbuch Yomichan muss ich nur den Mauszeiger über ein Kanji-Wort bewegen und schon erscheint das Wort in dem von mir auswendig gelerntem Hiragana-Schriftsystem. Sogar eine Japanisch-Englische Übersetzung und eine Tonspur blendet Yomichan ein. Die Anfangshürde war also mit etwas nervigem Schriftzeichenlernen und einer schlauen Software nach einer Woche überwunden und ich konnte japanische Medien lesen und sogar nachsprechen. Schon war ich nicht mehr so neidisch auf Selbstlerner von Fremdsprachen, die das lateinische Alphabet nutzten. Die Immersion konnte beginnen.

Jetzt konnte ich den riesigen Berg an japanischen Medien zwar lesen, aber verstehen, was ein Wort oder ein Satz meint, geschweige denn einen optimalen i+1 Satz finden, konnte ich noch nicht. Das ist ein normales Erlebnis. Lesen heißt schließlich noch lange nicht verstehen. Steven Schüttler, der Deutsche, der ebenfalls immersiv Japanisch gelernt hatte, sagte mir in unserem Interview: „Wie komme ich überhaupt erstmal rein? Das ist das Schwierigste. Es dauert, bis man an einen Punkt kommt, an dem etwas verständlich ist.“ Weil das Verstehen einer Botschaft aber der Kern der Methode und laut Stephen Krashen der einzige Weg ist, eine Sprache zu lernen, kannte ich schon mein nächstes Ziel: meinen ersten Satz verstehen.

Schritt 2: Den ersten verständlichen Satz finden

Motiviert versuchte ich es zuerst mit einem Nachrichtenartikel – doch ich hatte keine Chance. Mir wurde klar, dass ich mit wirklich einfachen Sätzen anfangen muss. Doch woher sollte ich die bekommen? Von der Internet-Community rund um Immersives Lernen! In Internet-Foren wie Reddit teilt die Community ihre Empfehlungen.

Steven Schüttler sagt, dass im Internet „von grundlegendem Material bis zu Material für Fortgeschrittene bis zu Material für JLPT N1“ alles für das eigene Level zu finden ist. Er genießt während seiner morgendlichen Tasse Kaffee DHC テレビ , eine Radiosendung über japanische Politik. Ich als Anfänger suchte mir zuerst NHK Easy aus, eine vereinfachte Version des Nachrichtenangebots von NHK, dem japanischen Gegenstück zur Deutschen Welle. Auch diese Website hatte ich durch ein Reddit FAQ gefunden.

Als zweites Lernmaterial wählte ich das Kinder-Manga Doraemon aus, das ich auf Book Walker, einen Anbieter für japanische eBooks, gefunden hatte. Eine blaue, humanoide Roboter-Katze namens Doraemon reist darin aus der Zukunft in die Vergangenheit, um auf den Ururgroßvater seines Machers aufzupassen. Weniger anspruchsvoll als politische Nachrichten, aber fesselnd. Weil das eBook Furigana unterstützt, eine Lesehilfe, die über einem Kanji-Schriftzeichen das einfache Hiragana einblendet, und es als Manga natürlich illustriert ist, konnte ich die Geschichte, ihre lustigen Charaktere und sogar die Satzstruktur leicht nachvollziehen. Wenn ich die Geschichte nur anhand der Bilder verstand, schlug ich keine Wörter nach, brauchte ich aber den Text, um ein Geschehnis zu verstehen, schlug ich einzelne Wörter in meinem digitalen Wörterbuch nach. Dadurch blieben mir erste japanische Wörter im Gedächtnis – und ich stieß schon am nächsten Tag auf meinen ersten i+1 Satz:

ドラえもんの大予言

Das ドラえもん ist Doraemon, der Name der Roboter-Katze. Weil sein Name der Titel des Buches ist und der Charakter häufig mit seinem Namen angesprochen wird, konnte ich mir das leicht aus dem Kontext erschließen. Das の konnte ich ebenfalls erraten, weil es häufig und dann immer in Verbindung mit zwei Nomen auftauchte. Wahrscheinlich drückt es eine Zugehörigkeit oder einen Besitz aus, dachte ich mir. Dann war da noch das Kanji 大, das ich bereits nachgeschaut hatte und dessen Bedeutung – „groß“ – ich mir gemerkt hatte. Übrig blieb also nur ein unbekanntes Wort: 予言. Ich hatte mein „+1” gefunden. Dieses schlug ich im Yomichan nach und fand heraus, dass es „Prophezeiung“ bedeutet. Schließlich fügte ich alle vier Puzzelstücke zusammen und verstand den Satz, der genaugenommen kein kompletter Satz war, mir aber trotzdem ein Erfolgserlebnis bescherte:

Doraemons große Prophezeiung.

Mit meinem ersten i+1 Satz bestätigte ich nicht nur meine Annahme, dass の ein Possessiv-Artikel ist, sondern erwarb mit 予言 auch ein neues Wort.

Schritt 3: Die Reise durch eine fremde Kultur beginnt – aber bitte mit Spaß!

Wiederholung macht den Meister. Satz für Satz pflückst du mit derselben Methode neue Wörter aus den Texten. Deine Fähigkeit wächst und langsam begegnest du immer mehr i+1 Sätzen, du arbeitest immer mehr anhand von Kontext – je mehr bekannte Wörter desto mehr Hinweise zu einem unbekannten Wort – und schließlich verstehst du immer größere Teile deines Lernmaterials ganz ohne ein Wörterbuch. Nun beginnt deine Reise von Material zu Material. Für den YouTuber Matt bedeutet das vor allem das Eintauchen in eine fremde Kultur. Er sagt, „es fühlt sich an, als würde man durch ein fremdes Universum reisen“.

Sollte dir der Sprung zu neuen Materialien nicht immer sofort gelingen: Keine Panik! Ich, zum Beispiel, wollte nach drei Monaten von den vereinfachten Texten auf NHK Easy zum regulären Angebot von NHK News wechseln, fand dort aber nur i+2 oder i+3 Sätze. Damit du nach dem Überwinden der Anfangshürde nicht in Verwirrung oder Langweile fällst, lautet das Motto der Anfangsperiode: nicht nur eintauchen, sondern auch Spaß haben. Steven Schüttler riet mir, immer den Mittelweg „zwischen leicht verständlich und interessant zu finden“. Ich blieb also erstmal bei Kinderbüchern. Bei diesen hatte ich Spaß, die Geschichte vollkommen zu verstehen und schlug deswegen selbst die mehreren unbekannten Wörter in i+2 oder i+3 Sätze nach, was mir bei den Nachrichtenartikeln noch zu mühsam war.

Schritt 4: Wörter lernen mit Software

Die erlernten Worte von gestern, vor einem Monat, vor einem Jahr merken sich immersive Lerner mit Hilfe eines Spaced Repetition Systems. Das ist eine Software, die in optimalen Zeitabständen Vokabeln abfragt, die du auf Lernkarten festgehalten hast. Das Ziel des Algorithmus: dich an ein Wort zu erinnern, kurz bevor du es vergisst.

Dafür installierte ich die kostenfreie Software Anki, die noch auf demselben Algorithmus basiert, den auch die Gründer des Antimoon-Blogs, der die Bewegung startete, nutzten. Als zweites besorgte ich mir das Migaku Dictionary, ein Add-On für Anki, das das Erstellen von Lernkarten schnell und das Abfragen mit detaillierten Definitionen, Bildern, Tonspuren und Illustrationen interessant macht.

Dann begann ich auch schon mit dem Füttern des Programms, womit ich bis heute weitermache – es geht ziemlich einfach: Das unbekannte Wort in einem Satz aus dem Material markieren, dann die Tastenkombination Strg+C+Leertaste drücken, um seine Bedeutung im Wörterbuch nachzuschlagen; als nächstes das Lernkarten-Symbol anklicken, um eine Lernkarte für das Wort anzulegen; dann noch den i+1 Satz mit Strg+C und Strg+V hinzufügen. In einem optionalen Schritt lässt sich außerdem ein Bild und eine Tonspur mit Strg+Shift+V ergänzen. Das Ganze dauert etwa zehn Sekunden. An einem Tag wiederhole ich das 30-mal und achte darauf, dass ich den Algorithmus dabei nur mit i+1 Sätzen füttere.

Am Tag darauf fragt mich der Algorithmus ab. Erinnere ich mich sofort an das Wort und klicke „Good“ an, vergrößert sich der zeitliche Abstand bis zur nächsten Abfrage. Erinnere ich mich nicht und klicke auf „Again“ verringert sich der zeitliche Abstand. Dadurch verschwendet man keine Zeit mit schon verinnerlichten Wörtern, sonders steckt die Zeit in das Nachholen von vergessenen Wörtern. Damit der Algorithmus und seine Intervall-Setzung funktioniert, muss man das Abfragen aber wiederholen. Tagein, tagaus.

Überraschenderweise ist das für viele Selbstlerner etwas Positives und bietet eine seltene Struktur im freien Stil des Immersiven Lernens. Zum Beispiel sagte mir Julius Dehner, ein Softwareentwickler für Anki Add-Ons: ,Anki und Software, das ist etwas Rhythmisches. Es gefällt mir, dass ich mich jeden Tag an dasselbe hinsetzen und etwas abarbeiten kann.“ Mit einer Rate von 30 neuen Lernkarten pro Tag dauert das tägliche Abarbeiten, von dem Julius spricht, bei mir etwa dreißig Minuten.

Aber, Achtung! Gerade Anfänger machen häufig den Fehler, Zeit in das Einstellen der Software und nicht in das was eigentlich zählt, die Immersion, zu stecken. Matt empfiehlt deshalb, minimalistisch, also mit einem sehr simplen Software-Setup zu starten. Er selbst nutzt nach mehr als zehn Jahren Japanisch lernen nur eine kaum modifizierte Version von Anki und ein einfaches digitales Wörterbuch.

Die Zukunft des immersiven Lernens

Noch muss sich jeder Selbstlerner und jede Selbstlernerin eine eigene Arbeitsmethode und ein eigenes Software-Setup basteln. Das Immersive Lernen stammt schließlich aus einer dezentralen Online-Community. Eine bequeme Lösung, die alle Möglichkeiten in sich vereinbart, gibt es noch nicht. Doch zwei Firmen, Refold Languages und Migaku arbeiten genau an solchen Produkten.

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Die nächste Revolution der Lernmethode erwarten viele immersive Lerner durch Künstliche Intelligenz und Virtuelle Realität. Matt sieht eine Zukunft kommen, in der Künstliche Intelligenz „entweder Inhalte für die Immersion kuratiert oder von Grund auf Inhalte kreiert, welche einen perfekten i+1 Satz für dich bilden, um deine Sprachkompetenz optimal zu verbessern“. Das Verwenden von nicht optimierten Materialien, das manuelle Auswählen von fremdsprachigen Inhalten oder die Erstellung von Lernkarten würden dann nur noch mittelalterlich erscheinen. Andererseits könnte immer bessere KI natürlich auch perfekte Übersetzungen von Fremdsprachen in Echtzeit liefern. Doch selbst dann würde der YouTuber weiterhin Sprachen lernen: „Um eine wirkliche Verbindung zu Individuen einer anderen Kultur herzstellen zu können, um auf Augenhöhe mit ihnen kommunizieren zu können, muss man sich eine andere Denkweise aneignen können“, findet er. Und genau das geht mit Immersiven Lernen.

Mittlerweile habe ich übrigens verstanden, was in dem düsteren Dialog von Cowboy Bebop gesagt wird, den ich euch ganz am Anfang dieses Textes auf Japanisch gezeigt habe. Meinen Neujahrsvorsatz habe ich also eingehalten.

Vicious: Engel, die aus dem Himmel vertrieben wurden, können nur Teufel werden. Nicht wahr, Spike?

Spike: Das Einzige, was ich sehe, ist ein Traum, aus dem ich nicht aufwache.

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Titelbild: Shuho Sato

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Ja, so hab ich das auch mal gemacht. Die große Hürde bleibt dann leider meist das Sprechen.

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Guter Punkt. Finde die Methode auch super einleuchtend und spannend, um Lesen und evtl. Schreiben einer Sprache zu lernen. Aber kannst du eigentlich schon sprechen @Daniel_Szöke ?

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In der Internet-Community des immersiven Lernens ist das Sprechen eine große Diskussion. Diskussion, weil viele Mitglieder, zum Beispiel Stevie oder Matt, die kontroversere Meinung vertreten, dass man erst nach ein paar Jahren mit dem Sprechen anfangen soll. Erstens begründen sie das mit der Theorie von Krashen, dass das letztendliche Sprechen einer Sprache nur das Endresultat des Spracherwerbs ist. Das heißt, dass während man eine Sprache liest oder hört, der sogenannte input, gleichzeitig das Schreiben und das Sprechen, der sogenannte output, verbessert wird. Zweitens wird behauptet, dass durch das frühe Sprechen einer Sprache schlechte Angewohnheiten gebildet werden. Erst nachdem man ein Wort tausendmal gelesen und gehört hat, baut man ein Verständnis für dieses auf und kann es richtig in den eigenen Satz einbauen, vor allem aber richtig aussprechen. Ihr Fazit: Sprechen ist etwas für Fortgeschrittene.

Dagegen gibt es aber auch einen großen Bereich der Community, welcher sich nur mit dem Sprechen und Schreiben beschäftigt. In Tandem-Apps, zum Beispiel HelloTalk oder Tandem, bringen sich zwei Muttersprachler durch Videoanruf, Chat- und Sprachnachrichten gegenseitig eine Sprache bei. In Q&A Internetforen, wie zum Beispiel dem Stack Exchange Network, verbessern Selbstlerner das Schreiben, indem sie ihre Aufsätze korrigieren lassen. Dann gibt es noch kostenpflichtige Tutoring Dienste. Zum Beispiel auf iTalki verbessern Selbstlerner ihre Sprachfähigkeit, indem sie mit einem Privatlehrer reden und verbessert werden. Es tut sich also sehr viel.

Im Japanischen gibt es jedoch eine großes Problem beim Sprechen: pitch accent beziehungsweise die Tonhöhe. Wenn man ein Wort fließend aussprechen möchte, muss man die jeweilige Betonung an die richtige Stelle setzen können. Dafür gibt es vier Muster. Obwohl man auch ohne diese Betonungen verstanden werden kann, hört sich eine falsche Betonung für einen Muttersprachler komisch an. Hinzu kommt, dass es bei vielen Wörtern regionale Unterschiede in der Tonhöhe gibt.

pitch

Auf diese Hürde hat das immersive Lernen noch keine definitive Antwort. Die meisten fortgeschrittenen Japanisch-Selbstlerner lernen Tonhöhen-Muster auswendig, während sie einen Text lesen, das sogenannte pitch focused reading, oder vergleichen ihre Aussprache eines Satzes mit dem eines Muttersprachlers, das sogenannte shadowing. Zu beiden Methoden hat Stevie ein Video gemacht. Wirklich immersiv ist das aber nicht. Doch, wie man in einem Artikel von The Japan Times lesen kann, werden auch hier Lösungen entwickelt.

Kann ich nach einem Jahr immersiven Lernen schon Japanisch sprechen? Nein. Kann ich mich auf Japanisch über Themen, in die ich mich hineingelesen, hineingehört habe unterhalten? Teilweise bruchig, aber ja. Schließlich ist ein großer Bestandteil des immersiven Lernens sich in der Gemeinschaft der Sprache aufzuhalten. Sei das online oder offline. Weil mein momentaner Fokus Alltagsthemen sind, benutze ich für unspezifische Gespräche gerne Tandem. Man versteht mich! Für spezifischere Themen habe ich das Glück zwei japanische Freunde zu haben, die ich über WhatsApp auf Japanisch nerven kann :wink:. Um mehr Übung zu bekommen ist mein nächstes Ziel es eine japanische Internet-Community zu finden, in der ich mich mit Nutzern über ein spezifisches Thema austauschen kann. Weil ich gerade das Manga 三月のライオン lese -nur zu empfehlen- denke ich im Moment an ein Internetforum für Shōgi, japanisches Schach!

Fest steht aber: output ist -noch- ein Schwachpunkt beim immersiven Lernen. Schließlich basiert es auf der Input Hypothese.

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