Museen haben den Auftrag, Wissen zu vermitteln. Aber Wissen besteht nicht nur aus Fakten und Zusammenhängen, sondern auch aus Emotionen und Erlebnissen. Wie lässt sich das im Rahmen von Ausstellungen transportieren? Mit Virtual Reality. Wir stellen zwei Projekte vor, die das Publikum in Extremsituationen und ganz neue Lebensräume eintauchen lassen.
Von Wolfgang Kerler
Schwarz-weiß Fotos von historischen Rettungsmissionen. Modelle von Hubschraubern. Originalequipment zum Anschauen und Anfassen. Dazu viele erklärende Begleittexte. Die Macher der Ausstellung 100 Jahre Bergwacht im Alpinen Museum in München haben sich Mühe gegeben. Das Publikum erfährt genau, wie Rettungseinsätze im Gebirge funktionieren. Doch eines lässt sich mit diesen klassischen Exponaten kaum vermitteln: Wie es sich anfühlt, bei einem Hubschraubereinsatz gerettet zu werden – nach einem Sturz beim Wandern oder einem Unfall beim Klettern. Genau dieses Gefühl braucht es aber, um zu verstehen, wie außergewöhnlich die Arbeit der Bergwacht ist.
Diese Lücke zu schließen, das haben sich die Journalisten Matthias Leitner und Sebastian Nachbar vom Bayerischen Rundfunk schon vergangenes Jahr vorgenommen. Matthias war bereits an mehreren Projekten beteiligt, die neue Formen des Erzählens mit digitalen Technologien erforschten. Sebastian Nachbar ist selbst ehrenamtlicher Einsatzleiter bei der Bergwacht. Gemeinsam mit ihrem Team überlegten sie, wie sich die Erfahrung von Geretteten an andere Menschen weitergeben lassen. Die Panik und der Schmerz am Anfang. Die Ruhe, die eintritt, wenn die Rettungskräfte das Gespräch beginnen. Das Gefühl von Sicherheit, das vom Seil ausgeht, das in den Himmel führt. Schnell war klar: Das richtige Medium dafür ist Virtual Reality.
„Wir fanden diese subjektive Situation super spannend“, sagt Matthias zu 1E9. „Und VR ist diese subjektive Perspektive. Ich bin als Mensch präsent mit meinem Körper, ich kann in einem Raum auch interagieren. Wir dachten, dass da eine große emotionale Stärke rauskommt.“ Um den Praxistest zu machen, baute das Team zunächst innerhalb von 48 Stunden einen Prototyp. Die Idee schon damals: Die reine VR-Experience sollte dadurch verstärkt werden, dass die Nutzer tatsächlich in einem schwankenden Luftrettungssack an einem Seil in die Höhe befördert werden. Nicht durch einen Hubschrauber, sondern durch einen Seilzug.
Magischer Realismus, der Emotionen erzeugt
Der Testlauf mit dem Prototyp funktionierte. Danach wurde die VR-Installation, die den Titel Die Rettung bekam, immer weiter entwickelt – in enger Abstimmung mit der Bergwacht. Die sollte schließlich absegnen, dass es Matthias und Sebastian nicht darum ging, einen Rettungseinsatz 1:1 abzubilden. Ihr Ziel war „magischer Realismus“, der die richtigen Gefühle erzeugt. „Wir haben immer wieder diskutiert, wie viele Freiheiten wir uns nehmen können“, erzählt Matthias. „Das Gute ist: Die Bergwacht ist das mit uns mitgegangen.“
So wurde die VR-Installation ein zentraler Bestandteil der Ausstellung 100 Jahre Bergwacht. Und von Ende August bis Ende September bekamen Dutzende Besucher die Chance, sie auszuprobieren. Festgeschnallt in einem Luftrettungssack und mit einer Oculus Quest auf dem Kopf wurden sie an einem Seilzug in die Luft gezogen – und spürten dabei das Pendeln des Seils. Untermalt von sphärischem Sound und Funkdurchsagen des Hubschrauberpiloten schwebten sie minutenlang durch die nebligen Alpen, über den Baumwipfeln, vorbei an Wanderern, um dann sicher auf die Erde zurückzukommen. Auch ein Gespräch mit einem echten Bergretter – vor und nach der VR-Erfahrung – gehörte dazu.
„Wir wollten, dass sich diejenigen, die es machen, am Ende, wenn sie die Brille abnehmen, sicher fühlen“, sagt Matthias. „Und das ist tatsächlich auch das Gefühl, dass die meisten Leute haben.“ Als entspannend und meditativ wurde die Erfahrung oft beschrieben. Auch das Gefühl, von der Hilfe anderer abhängig zu sein, trat bei vielen auf. „Wir versetzen die Menschen in ein Gefühl, durch das sie danach offener und zugänglicher sind für Wissensvermittlung – und ich glaube, das ist die große Stärke dieser Technik“, sagt Matthias. Für ihn passen VR und Museum, aber auch Journalismus daher ziemlich gut zusammen.
In unserem Video erfahrt ihr mehr über die beiden vorgestellten Projekte – und seht sie auch in Aktion. Hier findet ihr alle Videos aus unserer Serie New Realities.
Geschrumpft auf die Größe einer Landassel
Schon seit ein paar Jahren experimentieren Museen, aber auch Festivals mit den Möglichkeiten, die Virtual Reality bietet. Das Deutsche Museum in München, zum Beispiel, hat ein VRlab eingerichtet. Dort können Besucher eine der Apollo 17 Mission nachempfundene Fahrt über den Mond machen oder das Innenleben von Maschinen erkunden. Das Deutsche Museum ist damit Teil des vom Bund geförderten Forschungsverbunds museum4punkt0, dessen Ziel es ist, neue, digitale Formen des Lernens, Erlebens und des Partizipierens im Museum zu entwickeln. Auch für das Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz entstand ein Pilotprojekt: Abenteuer Bodenleben, eine VR-Experience, die zu einer Ausstellung über die vielen kleinen Tiere und Mikroorganismen am Waldboden gehörte.
Gestaltet hat sie der Designer und Softwareentwickler Lutz Westermann mit seiner Firma .hapto. „Das Museum hatte die Idee, dass der Forschungsgegenstand Boden, also auch der Waldboden als Ökosystem für die meisten Menschen einfach schwer zugänglich ist“, sagt er zu 1E9. „Da gibt es viele Mikroorganismen – und die kann man halt schwer beobachten, dafür braucht man manchmal Mikroskope, weil die Dinge unglaublich klein sind.“ Daher kam die Idee, die Menschen in VR um das 200-fache auf die Größe einer Landassel zu schrumpfen, um diesen lebendigen Mikrokosmos auf Augenhöhe zu erforschen.
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Jetzt Mitglied werden!In einem Teil des Abenteuers können die Nutzer den Laubboden erkunden und Springschwänze, Pseudoskorpione oder Doppelfüßer kennenlernen. Ein zweiter Teil findet unter der Erde statt, weshalb sich die User dort mit einer virtuellen Taschenlampe bewegen können. Damit das so realistisch wie möglich aussieht, haben Lutz und sein Team zum einen sehr stark auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgebaut – und mussten zum anderen die Computerhardware ausreizen. Denn manche der Tiere in 3D und dann auch noch in VR in Echtzeit darzustellen, ist durchaus aufwendig. Vor allem bei Tausendfüßlern.
Der Haken an der Sache: die Kosten
Das Fazit fiel ähnlich gut aus wie in München. „Viele Leute sind fasziniert und finden das Ergebnis wundervoll und würden sogar extra Geld dafür bezahlen“, sagt Lutz. Manchen hätte es sogar geholfen, besser mit ihrer Angst vor Krabbeltieren umzugehen. „Dann haben wir aber auch Leute, die Ängste entwickeln können.“ Man müsse es halt ausprobieren. Dazu wird es noch verschiedene Gelegenheiten geben, denn die VR-Experience zieht mit einer Wanderausstellung durch Deutschland. Lutz hofft, dass Abenteuer Bodenleben nicht nur dabei hilft, die Umwelt besser zu verstehen, sondern die Leute auch dazu bringt, aufmerksamer durch den Wald zu gehen – und sich den Einfluss der Menschen auf natürliche Lebensräume stärker bewusst zu machen.
Obwohl die ersten Erfahrungen mit VR im Museum so gut sind, zweifelt Lutz etwas daran, dass die Technologie sofort einen schnellen Siegeszug durch die Ausstellungen antreten wird. „Das Problem ist der Betreuungsaufwand“, sagt er. Die meisten Besucher hätten bisher noch keine Erfahrung mit VR, weshalb das Museum eine Betreuung durch geschultes Personal vorgesehen hat, dass die Technik erklärt, bei Schwierigkeiten eingreift und auch inhaltliche Fragen beantwortet. „Und das verursacht Kosten.“ Trotzdem rechnet auch Lutz mit immer mehr VR-Projekten, die Ausstellungen bereichern können.
Die Rettung gewinnt New Realities Wettbewerb
Das Projekt Die Rettung vom Bayerischen Rundfunk hat am 12. November 2020 beim Finale des New Realities Wettbewerbs bei der digitalen 1E9-Konferenz gewonnen, bei dem nach innovativen XR-Projekten gesucht wurde. New Realities ist ein gemeinsames Projekt von 1E9 und dem XR HUB Bavaria und wird gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Digitales. Den dazugehörigen Podcast kannst du bei bei Podigee, Spotify, Deezer und bei Apple Music hören und abonnieren.
Vielleicht interessiert euch direkt unsere neueste Folge, in der die Journalistin Eva Wolfangel erzählt, wie Social VR gegen die Glaubwürdigkeitskrise der Medien eingesetzt werden könnte.
Titelbild: Screenshot aus Abenteuer Bodenleben von Lutz Westermann/.hapto.