Ein kleiner Auto-Essay von Wolfgang Kerler
Mein Date mit der Realität war am Freitagnachmittag am Stand von Volkswagen, als direkt vor mir ein Mann in einen nagelneuen Kleinwagen stieg. Kurz vorher hatte mich VW noch per Hochglanz-Video, abgespielt auf der gigantischen LED-Wand hinter dem Messestand, auf „eine neue Bewegung“ eingeschworen: „Wer sagt denn, dass Du nichts bewegen kannst?“ Ha, genau nach meinem Geschmack! Zukunft fängt bei mir an!
Doch dann konnte ich mir das Auto, mit dessen Kauf ich Teil der Bewegung werden könnte, aus der Nähe anschauen: den ID.3. Er soll der Golf unter den Elektroautos werden. Mitte 2020 kommt er auf den Markt, über 30.000 Vorbestellungen dafür sind eingegangen. In der Basisversion wird er laut VW knapp unter 30.000 Euro kosten. Wer mehr Reichweite und Komfort will, wird eher 40.000 Euro zahlen müssen, von denen noch die staatliche Kaufprämie abgezogen werden darf.
Bisher fährt er ganz ordentliche Kritiken ein. Obwohl das Design und die verwendeten Materialien – im Innenraum: sehr viel Plastik – mich bestenfalls an einen hübscheren Polo erinnern. In Revolutionsstimmung komme ich davon nicht. Und der Preis ist zwar für ein batterieelektrisches Fahrzeug nicht schlecht. Aber werden auf Dauer genug Kunden bereit sein, ihn zu zahlen? Was ist, wenn der Großteil der Kunden in den kommenden Jahren schlicht keinen Bock hat, auf Elektroautos umzusteigen? Ist das nicht sogar ziemlich wahrscheinlich?
Elektroautos haben den Kunden noch nicht genug zu bieten
Diese Fragen gingen mir durch den Kopf, als ich einen mittelalten Mann, Typ: Familienvater aus einem Vorort, dabei beobachtete, wie er im ID.3 den Sitz vor- und zurückschob, sich die Touchscreen-Bedienung erklären ließ und dann noch in den Kofferraum schaute. Er machte einen interessierten, aber keinen begeisterten Eindruck. Vielleicht würde er zugunsten des Klimas auch gerne ein Elektroauto kaufen. Doch dann würde er noch einmal nachrechnen.
Wieso sollte er 35.000 Euro für den ID.3 ausgeben, wenn er für 25.000 Euro einen Skoda mit Verbrennungsmotor bekommt, der mindestens genauso komfortabel ist – für den aber die gesamte Verkehrsinfrastruktur der Welt ausgelegt ist? Oder für 7.000 Euro einen neuen Dacia Sandero, bei dem er sich ebenfalls keine Sorgen um mangelnde Reichweite machen oder seine Gewohnheiten ändern müsste? Zwar könnten das VW-Elektroauto den hohen Anschaffungspreis durch günstigere Betriebs- und Wartungskosten irgendwann ausgleichen. Aber das dauert.
Volkswagen bleibt also gar nichts andere übrig, als im Marketing auf eine „neue Bewegung“ zu setzen. Wer die Menschen bei ihrem Idealismus packt, muss sich um den Preiskampf weniger Gedanken machen. Tesla gelang es bereits, das Elektroauto zum Statussymbol zu machen. Der US-Herausforderer fing damit bei Sport- und Oberklassewagen an, deren Käufer ohnehin auf PS und Image schauen, nicht auf den Preis. Audi und Mercedes versuchen diesen Ansatz zu kopieren. Doch ob das beim klassischen Golf-Kunden klappt?
Die Klimakrise kann dem SUV nichts anhaben
Die IAA wird dieses Jahr besonders stark dafür kritisiert, nicht mehr in die Zeit zu passen. Doch vielleicht liegt das daran, dass viele Kritiker – und dazu gehöre auch ich – lieber heute als morgen in einer Zeit leben würden, in der viel weniger Autos auf den Straßen unterwegs sind – emissionsfrei natürlich – und ansonsten das Fahrrad und der öffentliche Nahverkehr übernommen haben. Tja, damit hat die Realität bisher nichts zu tun. Und die IAA bildet das ziemlich zeitgemäß ab.
Denn nur knapp 20 Meter vom kritischen ID.3-Mann entfernt manifestierten sich vor mir die aktuellen PKW-Verkaufsstatistiken: Um die dicken Diesel-SUVs von Audi bildete sich durchaus die ein oder andere fröhliche Menschentrauben. Die Leute spuckten nicht etwa verächtlich auf die Autos, wie das manch ein Anti-IAA-Demonstrant wohl gern getan hätte. Sie machten Selfies damit. Und das ist auch kein Wunder: Im August 2019 waren SUVs erstmals die beliebteste Autoklasse Deutschlands – mit einem Anteil von 22,2 Prozent der Neuzulassungen. Auch der Absatz von Sportwagen legte rasant zu. Kompakt- und Kleinwagen mussten dagegen ordentlich Federn lassen.
Die bittere Realität, der man sich auf der IAA nicht entziehen kann, ist: Viele Leute haben immer noch keine Lust auf Verkehrswende oder auf Klimaschutz. Wenn wir ehrlich sind, bräuchte es ohnehin keine Elektroautos, um den CO2-Ausstoß des Straßenverkehrs zu verringern, der immer noch auf dem Niveau der 1990er Jahre liegt. Die Kunden müssten einfach nur kleinere Autos kaufen oder auf den Dritt- und Viertwagen verzichten. Autos stoßen für die gleiche Fahrleistung heute 15 Prozent weniger Kohlendioxid aus als Mitte der 1990er – nur fahren eben viel mehr und viel größere davon herum. Jahr für Jahr nimmt die PKW-Dichte in Deutschland zu.
Deswegen fand ich es fast schon unfair vereinfacht, als die Klimaschutz-Demonstranten am Wochenende den „betrügerischen Autokonzernen“ und der Bundesregierung die Schuld am CO2-Problem gaben. Klar, die haben einen großen Anteil daran. Doch am Ende entschieden sich Millionen von Menschen völlig freiwillig für SUVs. Es ist kaum anzunehmen, dass sie noch nie von der Klimakrise gehört hatten. Sie als unmündige Gefolgschaft der Autobosse hinzustellen, wird ihnen kaum gerecht. Es sei denn, wir gehen von Junkies und Dealern aus. Aber für den Vergleich taugen Autos dann doch nicht, finde ich.
Wenn wir also ernüchtert annehmen, dass sich am Kaufverhalten vorerst nichts ändert, müssen wir noch ein paar Jahre Geduld haben. Denn mit einem ID.3, dem neuen Opel Corsa, der zunächst elektrisch ausgeliefert wird, dem Honda e oder den sympathischen Kleinwagen von Elektroauto-Start-ups wird man die SUV-, Sportwagen-, Limousinen-, oder Kombi-Fahrer nicht umstimmen können. Wir brauchen eine größere Palette an E-Autos. Aber die ist noch nicht vorhanden. Auch auf dieser IAA blieben Elektrofahrzeuge in der klaren Minderheit. Nur Verbote könnten den Umstieg beschleunigen. Aber wollen wir die wirklich?
Müssen wir bis 2039 auf die schöne Verkehrszukunft warten?
Den beeindruckendsten Messestand hatte – egal, ob man das nun gut oder schlecht findet – eindeutig Mercedes. In einer riesigen Halle setzte der Autobauer die Mobilität der Zukunft mit Licht, Sound und aufwändigen Videos in Szene. In einer 15-minütigen Tour konnte man die Stadt im Jahr 2039 erkunden. Sie hat viel mehr Bäume und Grünflächen, weil es durch autonome Autos viel weniger Parkplätze braucht. Der Übergang von öffentlichen Verkehrsmitteln zu autonomen E-Shuttlen oder E-Scootern funktioniert dort nahtlos. Und bei Bedarf stehen elektrische Flugtaxis bereit.
Doch so schön diese Vision inszeniert war, so riskant war sie auch. Denn sie vertagte die Lösung unserer Probleme wieder einmal auf eine Technologie, die noch nicht auf dem Markt ist – und wiederholt damit den Fehler, den wir mit Elektroautos seit Jahren begehen. Nur jetzt soll das autonome Auto dann ganz sicher die grüne Stadtoase der Zukunft ermöglichen. Dabei ist es unsicher, ob und wann das Roboterauto wirklich kommt. Der KI-Winter naht. Überbrücken wir die Zeit also mit ein paar SUVs. Wieder so ein ernüchternder IAA-Gedanke.
Immerhin enthielt die Mercedes-Führung auch mein Wohlfühl-Highlight der Messe. Für einen kurzem Moment schimmerten vergangene Zeiten durch, in denen Probleme einfacher und lösbarer schienen. Ein Daimler-Ingenieur mit sympathischem, schwäbischem Dialekt stellte das Mercedes-Benz-Experimental-Sicherheitsfahrzeug vor, kurz: ESF. Darin stecken Ideen, wie autonome und intelligente Autos den Verkehr noch sicherer machen könnten.
Nur ein paar Beispiele: Wartet das ESF an einem Zebrastreifen, können die Autofahrer dahinter auf dessen Heckscheibe mitverfolgen, wie lange das noch dauern könnte: Denn dort wird die Videoaufnahme der Fußgänger gestreamt. Auch Warnungen vor Stau oder Nässe blinken dort als Info für den nachfolgenden Verkehr auf. Der bei Bedarf aufleuchtende Lack des Autos tut ein Übriges.
An einer Unfallstelle fährt das Warndreieck, das verdächtig nach einem umgebauten Staubsauger-Roboter aussieht, selbst an den richtigen Platz. Der Frontairbag für den Fahrer ist im Armaturenbrett und nicht mehr im Lenkrad untergebracht, da das im Zweifel „eingefahren“ sein könnte, wenn das Auto autonom unterwegs ist. Und das sind noch längst nicht alle Gimmicks.
Leider kann das unterhaltsame ESF am Gesamteindruck der IAA 2019 nichts ändern: Noch hat die Industrie nicht die Autos und Konzepte parat, die Klimaschützer und SUV-Käufer miteinander versöhnen könnten. So lange das der Fall ist, wird sich an der Schizophrenie dieser und ähnlicher Messen aber nichts ändern: Während die einen vor den Toren demonstrieren, schießen die anderen Selfies mit Edelkarossen. Die Welt kann so unangenehm real sein.
Teaser-Bild: Wolfgang Kerler