Eine Künstliche Intelligenz soll den Einsatz verbotener Bomben feststellen

Eine britische Universität will Menschenrechtsaktivisten bei ihrem Kampf gegen Kriegsverbrechen und Waffenhandel unterstützen. Dafür hat sie eine Künstliche Intelligenz entwickelt, die auf Foto- und Videoaufnahmen aus Krisengebieten einzelne Teile von Bomben entdecken kann, die eigentlich verboten sind.

Von Michael Förtsch

Seit mehr als fünf Jahren herrscht im Jemen ein Bürgerkrieg. Die Vereinten Nationen stufen ihn als eine der größten humanitären Katastrophen dieses Jahrzehnts ein. Abgesehen von vorübergehenden Waffenruhen in einzelnen Gebieten scheint ein Frieden nicht absehbar. Denn der Krieg wird mit internationaler Beteiligung geführt. Im Jahr 2015 schickte Saudi-Arabien erstmals Bomber über das Land – aus Sorge, dass nebst dem Irak, Bahrain und Libanon bald ein weiteres Land im eigenen Einflussbereich von schiitischen Gruppierungen regiert werden könnte. Die Luftangriffe sollten nur wenige Wochen, vielleicht Monate dauern und wurden zeitweise für beendet erklärt. Doch tatsächlich haben sie bis heute nicht aufgehört. Erst Ende 2019 kamen bei einem Angriff auf ein Gefängnis 100 Menschen ums Leben.

Schätzungen zufolge sollen seit 2015 rund 10.000 Menschen getötet worden sein. Die Zahl der Luftschläge soll zwischen 10.000 und 20.000 liegen. Dabei wurden auch sogenannte Streubomben eingesetzt. Menschenrechtsgruppen und Aktivisten sehen darin einen groben Verstoß gegen Internationales Recht und Ermittler der Vereinten Nationen klare Kriegsverbrechen, die geahndet werden müssen. Jedoch ist kaum zu erfassen, wie weitreichend die Angriffe, welche Gebiete und wie viele Menschen tatsächlich betroffen waren. Helfen sollen nun Künstliche Intelligenz – oder präziser: Maschinelles Lernen – und Crowdsourcing, wie MIT Technology Review berichtet .

Seit drei Jahren hat beispielsweise das Yemeni Archive, eine unabhängige Initiative, Bilder, Videos, Tonaufnahmen und Berichte aus den Kriegsgebieten des Jemen gesammelt. Die stammen sowohl von Journalisten als auch aus sozialen Netzwerken. Allein das Verifizieren all dieses Materials ist eine immense Aufgabe. Die kompletten Daten auch noch auszuwerten ist fast unmöglich. Die britische Swansea University, die Menschenrechtsinitiative Global Legal Action Network und die Innovationsplattform Nesta glauben nun, diesen Prozess in Teilen und für bestimmte Überprüfungen automatisieren zu können – mit einem Projekt, das sie Collective Intelligence Experiments getauft haben.

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Die KI bräuchte nur 30 Tage, um alles zu sichten

Die Forscher um Yvonne McDermott, die an der britischen Universität arbeitet, haben eine Künstliche Intelligenz für Mustererkennung in Foto- und Videoaufnahmen entwickelt. Diese haben sie auf das Erkennen der Überreste von Streubomben der Klasse BLU-63 eines britischen Munitions- und Waffenfabrikanten trainiert, deren Verkauf und Einsatz in 108 Ländern verboten ist. Insbesondere die kugelförmigen Gehäuse mit den kleinen Finnen, in denen sich die Sprengladungen befinden, die sogenannten Bomblets, sind zwar äußerst markant. Dennoch existierten „einfach nicht viele gute Videos und Aufnahmen, mit denen wir eine KI darauf trainieren könnten“, sagt Yvonne McDermott. Also zog ihr Team digitale 3D-Modelle mit unterschiedlichen Schadenstexturen und Mustern heran, um es der Künstlichen Intelligenz zu ermöglichen, die Bomblets aus möglichst allen Winkeln und Zuständen auszumachen.

Das KI-System kann nun selbstständig Bilder und Videoaufnahmen durchforsten, mögliche Streubombenreste ausmachen, markieren und mit einem Schlagwort in einer Datenbank ablegen. Allerdings sind die Funde nicht immer zuverlässig und die Identifizierungen nicht stets vollkommen richtig. Denn die Künstliche Intelligenz kann sich täuschen und beispielsweise Töpfe, Helme, Steinbrocken und andere Objekte fälschlicherweise als ein Bombengehäuse erkennen. Daher müssen sämtlich Funde immer noch von Experten bestätigt werden. Dennoch können durch die KI irrelevante Aufnahmen bereits im Vorfeld herausgefiltert, der Sichtungsprozess massiv beschleunigt und wichtige Aufnahmen besser auffindbar gemacht werden.

Ist das System erst perfektioniert, soll es das gesamte Yemeni Archive mit seinen insgesamt 5,9 Milliarden Einzelaufnahmen durcharbeiten. Das Programm soll dafür lediglich einen Monat brauchen – die menschlichen Helfer bräuchten hingegen Jahre.

Das Ziel der Forscher und Menschenrechtler ist derzeit, genug Beweise für den Einsatz dieser geächteten Munition im Jemen ausfindig zu machen. Schon jetzt seien erste Funde an die britische Regierung gegeben worden. Und mit genug Belegen könnte ein Gerichtsprozess anstrengt und ein generelles Verbot von Waffenlieferungen an Saudi-Arabien erreicht werden – genauso wie Klagen gegen jene, die die Lieferungen der Streubomben organisiert haben. „Diese Methoden könnten aber auch in anderen Kontexten genutzt werden“, sagt Yvonne McDermott. Beispielsweise könnte das System zukünftig auch Journalisten und Historikern helfen, bestimmte Waffen oder Gegenstände in Foto- und Videodokumenten ausfindig zu machen.

Teaser-Bild: Swansea University

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