Der schwimmende Slum Makoko in Nigeria soll endlich auf digitale Karten, um gerettet zu werden


Ein Stadtteil, der auf keiner Karte auftaucht, existiert offiziell gar nicht – und kann deshalb ohne Skrupel geräumt und zerstört werden. So scheint das Kalkül von Behörden in Nigeria zu sein, die in den vergangenen Jahren gegen Slums, die am und im Wasser gebaut sind, vorgehen. Um den wohl berühmtesten Slum Makoko zu retten, soll dieser nun digital erfasst werden und auf Karten detailliert auftauchen.

Von Oluwatosin Adeshokan

Wie an den meisten Abenden paddelt Abigail Hounkpe mit ihrem Holzkanu durch die trüben Gewässer von Makoko, einem Stadtteil der nigerianischen Millionenstadt Lagos, die an einer Bucht im Südwesten des Landes liegt. Fast alle Häuser von Makoko stehen auf Pfählen im Wasser.

Abigail Hounkpe stoppt vor einer Kirche. Sie hält das hölzerne Paddel in der einen Hand und streckt die andere, um die Kirche zu fotografieren. Dann gibt sie die Koordinaten in ihr Telefon ein. „Mein ganzes Leben habe ich schon hier verbracht und finde immer noch Orte, die ich nie gesehen habe“, sagt sie. Ihre Fahrten durch die schwimmende Gemeinde, die als „Venedig Afrikas“ bezeichnet wird, sind Teil eines Projekts, das den berühmten Slum auf die digitale Landkarte bringen soll.

Makoko hat eine abwechslungsreiche, farbenfrohe Geschichte und wurde gegründet, als sich vor etwa einem Jahrhundert Fischer aus dem nahen Togo und der Republik Benin dort niederließen. Wie ein großer Teil von Lagos ist es hochgradig multikulturell. Die Gespräche im schwimmenden Slum werden gewöhnlich in einer Sprache geführt, die eine ganz eigene Mischung aus Yoruba, Französisch und Egun, einem lokalen Dialekt, darstellt.

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Der Slum, der ursprünglich nur ein Ort zum Fischen war, hat sich zur Heimat für Generationen von Fischern aus den Nachbarländern entwickelt. Wie viele Menschen genau in Makoko leben, ist schwer zu sagen, da dort noch nie eine offizielle Volkszählung durchgeführt wurde. Die Einheimischen schätzen die Zahl auf mehr als eine Million, auch Zahlen zwischen 300.000 und 500.000 werden immer wieder genannt. Der Regierung von Lagos wäre es allerdings lieber, Makoko würde einfach verschwinden.

Der schwimmende Slum soll weg

Schon im Jahr 2012 verkündete die Regierung des Bundesstaates Lagos ihre Pläne zum Abriss des Slums. Sie informierte dessen Einwohner, dass sie 72 Stunden hätten, um ihre Wohnungen zu räumen. Die Stelzenbauten in der Fischergemeinde stellten ein Sicherheitsrisiko dar und untergruben den Status der Stadt als Megacity, teilten die Behörden des Bundesstaates Lagos in einem Brief an die Gemeinde mit, sagt der Ortsvorsteher Victor Panke zu CNN.

Dann sei die Regierung mit Polizei und Soldaten gekommen, um den Stadtteil zu räumen und ihre Häuser zu zerstören, so Panke. Doch ein Gemeindevorsteher, Timothy Hunpoyanwha, wurde von der Polizei erschossen, was die Behörden dazu veranlasste, den Räumungsprozess zu unterbrechen, erinnert sich Panke. Seitdem, so sagt er, habe Makoko subtile Räumungsdrohungen erhalten, und man beobachte aufmerksam, wie andere Gemeinden am Wasser abgerissen würden. „Wir leben immer noch in der Angst, unsere Häuser und unser Land zu verlieren“, fügt er hinzu.

Idris Salako, der Kommissar für Raumplanung und Stadtentwicklung von Lagos, teilte CNN mit, dass die Behörden des Staates nicht hinter der Vertreibung der Bewohner von Ufergemeinden wie Makoko stünden. Er gab in seiner Erwiderung auf die Vorwürfe aber keine weiteren Einzelheiten oder Kommentare ab.

Digitale Vermessung gegen die Angst

Das digitale Kartierungsprojekt soll nun dazu beitragen, die Ängste der Einwohner von Makoko zu zerstreuen, die befürchten, dass ihr Land weiterhin in Gefahr ist. Es wurde im September 2019 von Code for Africa in Partnerschaft mit der humanitären Organisation OpenStreetMap ins Leben gerufen und hat das Ziel, Makoko auf digitale Karten zu setzen, um die soziale und finanzielle Integration voranzutreiben.

„Wir wollen, dass die Gemeinde, so wie andere Gemeinden auf der Welt, dort auftaucht und auch per Karten navigierbar ist. Darauf lassen sich dann neue Pläne für die Entwicklung [der Gemeinde] aufbauen“, sagte Jacopo Ottaviani, der Chief Data Officer von Code for Africa.

Um das Projekt zu starten, wurden junge Bewohner von Makoko darin trainiert, Drohnen zu steuern und die Karte mit Bildern aus der Gemeinde zu bestücken. Zu den Bewohnern, die inzwischen anderen Bewohnern beibringen, wie man eine Drohne fliegt, gehört auch Abigail Hounkpe.

„Seit Jahren wird Makoko von den Regierungen des Bundesstaates ignoriert. Mit diesem Projekt könnte ein Gespräch angestoßen werden, wie Makoko eingebunden werden kann. Wir helfen dabei, Makoko so zu vermessen, dass Regierungen und andere Organisationen dort aktiv werden und Zugang zu sozialen Diensten wie Elektrizität, Gesundheitsversorgung und Bildung anbieten können“, sagt Ottaviani.

Massenvertreibungen sind rechtswidrig, gehen aber weiter

In den vergangenen Jahren begannen die nigerianischen Behörden damit, Slums, die am Wasser gebaut wurden, massenhaft abzureißen – unter Berufung auf Sicherheitsbedenken. Aktivisten, die sich mit rechtlichen Mitteln heftig gegen die Entscheidungen wehrten, sagen: Die Räumungen werden oft durchgeführt, um Immobilienentwickler zu beschwichtigen und luxuriöse Stadtwohnungen zu schaffen.

Nach der gewaltsamen Räumung von Otodo Gbame etwa hatten mehr als 30.000 Familien keinen Platz mehr zum Leben – und die Entscheidung wurde 2017 vom Obersten Gericht in Lagos für verfassungswidrig erklärt. Trotzdem warten viele derjenigen, die ihr Zuhause verloren haben, immer noch auf Wiedergutmachung.

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Laut Megan Chapman von der Justice and Empower Initiative, kurz: JEI, hat die Regierung nicht das Recht, Einwohner ohne ein ordentliches Verfahren aus ihren Gemeinden zu vertreiben. „Ein ordnungsgemäßen Verfahrens vor einer Räumung besteht auch darin, Pläne für Entschädigungszahlungen und Umsiedlungen zu entwickeln. Doch diese Gemeinden werden vertrieben, ohne eine Alternative angeboten zu bekommen. Es wird von den Bewohnern erwartet, dass sie verschwinden, als hätte es sie nie gegeben“, sagt Chapman.

Benjamin Aide verwaltet die Grundschule Makoko Dreams, die über 200 Kindern in der Gemeinde kostenlose Bildung bietet. Auch er hat sich dem örtlichen Kartierungsteam angeschlossen, um weitere Orientierungspunkte im Stadtteil auf die Landkarte zu setzen. „Ich mag die Karte. Sie wird der Welt zeigen, dass wir hier sind, und die Regierung dazu bringen, zu prüfen, wie sie uns bei der Entwicklung dieses Ortes helfen kann“, sagt er.

Allerdings befürchten manche, dass das Kartierungsprojekt obwohl es an sich wünschenswert ist, unerwünschte Aufmerksamkeit erregen – und daher neue Räumungsversuche von Makoko verursachen könnte. Doch diejenigen, die das Projekt unterstützen, hoffen auf das Gegenteil. „Wir hoffen, dass die Karte die Regierung erkennen lässt, dass wir hier sind und dass wir viele Menschen sind, die seit Generationen für sich selbst sorgen“, sagt Victor Panke gegenüber CNN.

Auch für die Regierung könnte sich die Erschließung lohnen

Obwohl der Bundesstaat Lagos allein die fünftgrößte Volkswirtschaft Afrikas wäre, bleibt der Reichtum dort hartnäckig in den Händen einiger weniger konzentriert. Wie viele Menschen genau in Lagos leben, lässt sich nur schwer messen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind es etwa 14 Millionen Menschen. Die Regierung des Bundesstaates sagt, dass es mehr als 20 Millionen sind. Zu den Siedlungen, die auch günstigen Wohnraum bieten, gehört Makoko. „Wir haben die Regierung gebeten, uns zu helfen, indem sie uns Gesundheitsfürsorge, Elektrizität und Schulen zur Verfügung stellt, aber wir haben nichts von ihr gehört“, sagt Panke.

Das Kartierungsprojekt soll das ändern und zur Lebensader für die Menschen in Makoko werden. Denn Jacopo Ottaviani, der das Projekt leitet, hofft, dass die Karte der Regierung nicht nur dabei helfen wird, die sozioökonomischen Bedürfnisse der Bewohner von Makoko zu verstehen. „Makoko ist von der Regierung noch nicht erschlossen. Das bedeutet, dass in den Bereichen Handel, Steuern und Entwicklung nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für die Regierung ein großes Potenzial besteht.“

Für Abigail Hounkpe war das Projekt eine Chance, etwas über Karten, Drohnen und ihre Gemeinde zu lernen. Und noch viel mehr. „Ich habe die Gewissheit, dass ich mit diesem Kartierungsprojekt für mein Leben und das Leben der anderen Menschen in Makoko kämpfe.“

Dieser Artikel von Oluwatosin Adeshokan, den wir via The Story Market erhalten haben, erschien zuerst bei CNN und wurde ermöglicht durch das Pulitzer Center.

Titelbild: Heinrich-Böll-Stiftung from Berlin, Deutschland - Makoko, CC BY-SA 2.0

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Was für eine krasse Siedlung.

Wie funktioniert dort das Abwassersystem? Die „Abfallwirtschaft“?

Wenn das ins Wasser gelassen wird oder abgefackelt wird müssen das höllische Zustände sein dort zu leben.

Gleichzeitig finde ich es faszinierend, dass eine solche Menschenmenge sich binnen kürzester Zeit auf dem Wasser ansiedeln und organisieren lernt, offensichtlich gut genug um zu überleben…

Am liebsten würde ich einen Dronenflug durch die Siedlung machen oder die Wasserstadt zumindest in VR betreten!