Ein Interview von Wolfgang Kerler
Im Jahr 2014, siebzehn Tage nach dem Tod seines Sohnes Ali, begann Mo Gawdat mit dem Schreiben. Das Thema war trotz des Verlusts: Glück. Denn das ruhige und glückliche Leben seines Sohnes war für ihn eine Inspiration. Mo, der seine Karriere als Ingenieur bei IBM anfing, war damals Chief Business Officer bei der legendären Forschungsabteilung X von Google, wo unter anderem die Entwicklung der selbstfahrenden Autos begann. Inzwischen hat er X verlassen, um eine neue Mission zu verfolgen.
2017 brachte er sein Buch „Solve for Happy“ (auf Deutsch: Die Formel für Glück) heraus, in dem er erklärte, warum Glück für ihn das Ergebnis einer recht simplen Rechnung ist: Glück ≥ Erlebnisse - Erwartungen. Im Grundsatz geht Mo davon aus, dass wir viel zu oft unglücklich sind, weil wir unrealistische Erwartungen ans Leben haben und unsere Erlebnisse zu negativ sehen. Doch sobald wir erkennen, dass unser eigenes Glück oberste Priorität haben sollte, und sobald wir an unserem Glück arbeiten, werden wir glücklicher. So schreibt es jedenfalls Mo Gawdat.
Glückliche Menschen als Vorbilder für KI
Das Buch war der Ausgangspunkt für seine persönliche Moonshot-Initiative One Billion Happy, die innerhalb von fünf Jahren einer Milliarde Menschen den Weg zum Glück vermitteln soll. Und das nicht nur aus „menschlichen“ Motiven heraus. Mo fürchtet, das Künstliche Intelligenz und schlaue Maschinen zur Katastrophe werden könnten, wenn ihre Lehrer – die Menschen – so furchtbare Vorbilder bleiben. Denn obwohl wir so viel Wohlstand hätten wie nie zuvor, seien wir auch so unglücklich wie nie zuvor – und deshalb aggressiv, egoistisch, gewalttätig und egozentrisch.
Mit seiner Initiative war Mo Gawdat sofort auf der Liste unser Wunschinterviewpartner. 1E9 steht schließlich auch für eine Milliarde – genau genommen für 1 mal 10 hoch 9 – und zwar, weil es bei 1E9 darum geht, gemeinsam Ideen zu finden, wie man mit Technologie das Leben von vielen Menschen besser machen kann. Zum Glück sah auch Mo diese Parallele und nahm sich Zeit für ein Skype-Interview, das er aus London führte. Im Gespräch fasste er die wichtigsten Aussagen seines Buchs, seiner Videos und seiner Initiative zusammen.
1E9: Machen wir zuerst den Reality Check. Es ist jetzt über zwei Jahre her, dass du deine Formel für ein glückliches Leben vorgestellt hast. Seitdem müsstest du doch jeden einzelnen Tag glücklich gewesen sein, oder?
Mo Gawdat: Nein. Niemand ist jeden Tag glücklich. Es steckt schließlich ein Überlebensmechanismus dahinter, dass wir manchmal unglücklich sind. Angst, Schuldgefühle oder Unzufriedenheit – also negative Emotionen, die uns weniger glücklich machen – sind wie ein Feueralarm. Unser Gehirn weist uns damit auf Dinge hin, die unsere Aufmerksamkeit brauchen. Das ist durchaus vergleichbar mit körperlichem Schmerz: Um dich zu schützen, ziehst du automatisch die Hand zurück, wenn du dich an etwas geschnitten hast.
Problematisch wird der emotionale Schmerz erst dann, wenn du dir ständig Gedanken über unangenehme Dinge aus deiner Vergangenheit machst oder dir Sorgen über die Zukunft machst, aber nichts dagegen unternimmst. Das verursacht Unglück. Deswegen sage ich: Nein, ich bin nicht immer glücklich. Aber ich versuche, so schnell wie möglich in einen glücklichen Zustand zurückzukommen.
Und wie gut gelingt dir das in letzter Zeit?
Mo Gawdat: Ich führe Statistik darüber, wie oft ich unglücklich bin. Dabei zähle ich nicht die kurzen Momente, in denen ich mir über etwas Sorgen mache, das sofort bemerke und dann unmittelbar etwas unternehme, um wieder glücklich zu sein. Ich zähle nur, wenn ich mir unnötige negative Gedanken mache.
Nach dieser Logik war ich in diesem Jahr viermal richtig unglücklich. Einmal dauerte es sieben Sekunden, einmal 15 Sekunden, einmal vier Stunden und einmal einen ganzen Tag, bis ich wieder glücklich war.
Vom Unglück zum Glück in sieben Sekunden. Du musst uns gleich genauer erklären, wie du das machst. Denn genau darum geht es auch bei deiner Mission One Billion Happy: Du willst den Leuten zeigen, wie sie durch Erkenntnis und Training glücklicher werden können. Aber zuerst sollten wir noch klären, wie du Glück überhaupt definierst.
Mo Gawdat: Glück ist der friedliche Grundzustand, in dem wir uns befinden, wenn wir mit dem Leben einverstanden sind – und zwar so, wie es ist. Meine Formel dafür lautet: Glück ist größer oder gleich als all das, was in deinem Leben passiert, minus deine Erwartungen. Wir sind glücklich, wenn unsere Erlebnisse unsere Erwartungen erfüllen oder übertreffen.
Wie kannst du dein Gehirn dazu bringen, innerhalb von sieben Sekunden wieder in diesen glücklichen Modus umzuschalten?
Mo Gawdat: Statistisch gesehen sind die Gedanken eines durchschnittlichen Erwachsenen in 60 bis 70 Prozent der Fälle negativ. Wenn dein Gehirn die Glücksformel berechnet – also deine Erlebnisse mit den Erwartungen, die du vorher daran hattest, abgleicht – kommt also meistens etwas Negatives heraus. Die Realität enttäuscht ständig deine Erwartungen. Dabei sollte das per Definition kaum möglich sein bei jemanden, der in Deutschland lebt und nicht in Syrien und der nicht hungern oder als Sklave arbeiten muss.
Hast du eine Erklärung dafür?
Mo Gawdat: Unsere Erwartungen an das Leben sind oft unrealistisch hoch und wir nehmen die Dinge oft viel negativer wahr, als sie sind. Daher kommen sehr, sehr, sehr oft falsche Ergebnisse heraus, wenn wir die Glücksformel berechnen. Du fühlst dich dann unglücklich, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Ich nenne das ein ungerechtfertigtes Unglück.
Was wäre denn ein konkretes Beispiel dafür?
Mo Gawdat: Nehmen wir an, du stehst im Stau und dir wird klar, dass du fünf Minuten zu spät kommen wirst. Vielleicht denkst du plötzliche solche Dinge: „Ich hasse München. Ich kann an einem Ort mit so schrecklichem Verkehr einfach nicht leben. Das ist nicht auszuhalten. Ich komme zu spät zu meiner Besprechung. Die anderen werden denken, auf mich kann man sich nicht verlassen. Ich werde gefeuert. Ich werde obdachlos. Ich werde hungern. Ich bin nutzlos.“
Das ist völlig ungerechtfertigt, wenn du die Dinge objektiv anschaust: Du sitzt vermutlich in einem deutschen Auto, das zu den besten der Welt gehört, und hast eine Klimaanlage. Außerdem sind es nur fünf Minuten und du kannst anrufen, um den anderen zu erklären, dass du im Stau stehst. Dein Gehirn übertreibt.
Aber was kann ich dagegen tun?
Mo Gawdat: Zunächst – und das ist die Grundvoraussetzung – brauchst du die richtige Haltung. Du musst erkennen, dass es dein Geburtsrecht ist, glücklich zu sein. Und du musst wachsam sein. Das heißt, du musst darauf achten, wenn deine Stimmung umschwingt von Glück auf Unglück. Merkst du das, musst du deinem Gehirn nur einfache Fragen stellen: Was genau bedrückt mich gerade wirklich? Ist das realistisch? Und falls ja, was kann ich dagegen tun?
Wenn dein Gehirn denkt, du wirst gefeuert, nur weil du im Stau stehst – obwohl das bei genauerem Nachdenken nicht stimmt, dann: Fuck off, Gehirn! Stimmt es doch, dann frag dich, was du dagegen tun kannst – und tu es sofort. In beiden Fällen hat sich die Sache erledigt und du fühlst dich nicht mehr unglücklich.
Und wenn nicht?
Mo Gawdat: Dann hast du die höchste Schwierigkeitsstufe im Umgang mit Unglück erreicht. Du kennst meine Geschichte. Ich habe meinen Sohn verloren – und kann nichts tun, um ihn zurückzuholen. Nichts. In solchen Fällen musst du akzeptieren, dass das der neue Ausgangspunkt deines Lebens ist. Dann kannst du anfangen, Dinge zu tun, um das Leben wieder besser zu machen.
In deinem Buch und in deinen Videos erklärst du genauer, woher unsere unrealistischen Erwartungen und unsere negative Wahrnehmung der Welt kommen und was wir dagegen tun können. Könntest du für uns nochmal auf den Punkt bringen, was für dich das wichtigste ist?
Mo Gawdat: Ich möchte zunächst erreichen, dass du erkennst, dass es dein Geburtsrecht ist, glücklich zu sein, damit du Glück zu deiner Priorität im Leben machst. Es ist die große Lüge der modernen Welt, dass es okay ist, für Erfolg mit Unglück zu bezahlen. Das ist Quatsch! Klar sollst du erfolgreich sein! Aber es ist mindestens genauso wichtig, dass du glücklich bist.
Wenn du das erkannt hast, wirst du damit anfangen, in dein Glück zu investieren. Du wirst Bücher darüber lesen, dir Videos ansehen oder mit Leuten sprechen, die aus deiner Sicht ein glückliches Leben führen. Dadurch wirst du vielleicht nicht der glücklichste Mensch der Welt werden, aber auf jeden Fall glücklicher oder weniger unglücklich.
Hast du erst den Wert von Glück erkannt und arbeitest daran, es zu erreichen, dann wirst du damit anfangen, anderen davon zu berichten.
Damit es eine Milliarden Menschen werden.
Mo Gawdat: Genau. Das ist eine einfache Exponentialfunktion. Wenn ich erreichen kann, dass du den Wert von Glück siehst, und in dir die Begeisterung wecken kann, andere glücklich machen zu wollen, übernimmt die Mathematik. Dann erzählst du zwei anderen Leuten davon, die es wiederum zwei anderen Leuten erzählen – und so weiter. Dann kommen wir in fünf Jahren auf eine Milliarde Menschen.
Ich bin mir sicher, dass das manchen zu einfach klingt.
Mo Gawdat: Das ist nicht einfach. Nichts ist einfach. Aber es lohnt sich. Glück ist erreichbar. Jeder kann entscheiden, ob er das glaubt oder nicht. Deswegen lautet die Mission One Billion Happy und nicht Seven Billion Happy.
Kommen wir zum Schluss noch auf Technologie zu sprechen. Als du vor einem Jahr deine Initiative One Billion Happy angekündigt hast, begründetest du das auch damit, dass wir Menschen für Künstliche Intelligenzen – die uns bald übertreffen werden – ein wirklich mieses Beispiel abgeben. Aber ist es derzeit nicht eher so, dass die Technologie und „schlaue“ Algorithmen Teil des Problems sind – gerade in Form von sozialen Netzwerken, die dazu führen, dass wir uns ständig miteinander vergleichen, und die außerdem Hass verbreiten?
Mo Gawdat: Technologie ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kann für oder gegen dich arbeiten. Für mich sind soziale Medien unglaublich, weil sie mir dabei helfen, mit meiner Tochter in Kontakt zu bleiben, die in Kanada lebt. Wir schreiben uns ständig auf WhatsApp. Wir schicken uns Bilder und Videos, wir führen Videotelefonate. Ich folge ihr auf Instagram. Das ist wunderbar. Wenn du aber findest, Facebook ist schrecklich und stiehlt deine Daten, dann nutze es nicht. Wenn du nicht dick werden willst, gehst du ja auch nicht zu McDonalds, um zwei Big Macs zu essen.
Es ist immer deine Entscheidung für oder gegen Technologie. Sie ist nur ein Werkzeug. Sie reflektiert und erweitert nur, wer wir sind. Und leider sind wir heutzutage egozentrisch, narzisstisch, individualistisch, unhöflich und gewalttätig. Wir gehen sogar davon aus, dass wir so leben müssen. Deswegen befinden wir uns in einer Abwärtsspirale. Die kann von Technologie verstärkt werden, aber sie wird von ihr nicht ausgelöst.
Teaser-Bild: Screenshot vom YouTube-Kanal OneBillionHappy