Data Reboot: 10 Gründe, warum wir unseren Umgang mit Daten ändern müssen

Wir müssen unsere Daten schützen. Angesichts gigantischer Internetkonzerne, die mit personalisierter Werbung ihr Geld verdienen, und manchen Sicherheitsbehörden, die am liebsten gläserne Bürger hätten, ist das seit Jahren Konsens. Doch Stefaan G Verhulst und Julia Stamm vom Think-and-Do-Tank „The Data Tank“ meinen: Der Fokus auf den Schutz von Daten reicht nicht, wenn wir die vielen Chancen, die die richtige Nutzung von Daten bieten, ergreifen wollen.

Ein Gastbeitrag von Dr. Stefaan G Verhulst und Dr. Julia Stamm

Bereits seit einigen Jahrzehnten ist sich die Gesellschaft der Tatsache bewusst, dass die uns umgebende Datenmenge rapide zunimmt. 1941 wurde der Begriff „Informationsexplosion“ erstmals verwendet. In den 1990er Jahren erreichten die Diskussionen über die Datenflut ihren vorläufigen Höhepunkt. Der Begriff „Big Data“ wurde zum ersten Mal in einem Artikel aus dem Jahr 1997 verwendet – sein Ursprung ist jedoch umstritten.

Jetzt stehen wir am Beginn einer neuen Ära, die durch Fortschritte wie ChatGPT und andere generative Künstliche Intelligenz gekennzeichnet ist. Viele sind überzeugt, dass diese Technologien ein neues Paradigma in den Bereichen Datenverarbeitung, Onlinesuche und Informationsmanagement darstellen. Das Internet und der gesamte digitale Raum könnten noch personalisierter werden. Wenn denn genug Daten vorhanden sind. Angesichts dessen ist es an der Zeit, unseren Umgang mit Daten neu zu überdenken und die bestehenden Rahmenbedingungen und Governance-Praktiken, die die Nutzung von Daten regeln, auf den Prüfstand zu stellen.

Im Folgenden führen wir 10 Gründe auf, warum wir die Diskussion über Daten neu beginnen und unsere Herangehensweise an den Umgang mit Daten ändern müssen. Sie bilden auch die Grundlage für „The Data Tank“, einen neuen international agierenden Think-and-Do-Tank. Er hat sich der Aufgabe verschrieben, Datennutzung für das Allgemeinwohl neu zu definieren, sektorübergreifenden Datenaustausch zu fördern und den Aufbau eines fairen und gesunden Datenökosystems zu unterstützen.

Hier sind unsere Thesen:

1. Daten sind nicht das neue Öl.

Dieser Satz, der manchmal Clive Humby aus dem Jahr 2006 zugeschrieben wird, hat sich in den Medien und der öffentlichen Debatte eingebürgert. Tatsächlich ist die Analogie in vielerlei Hinsicht fehlerhaft. Mathias Risse vom Carr Center for Human Rights Policy in Harvard weist zum Beispiel darauf hin, dass Öl knapp, handelbar und konkurrierend ist. Es kann von einem einzigen Unternehmen genutzt werden und ihm gehören. Daten hingegen besitzen keine dieser Eigenschaften. Wie wir weiter unten erläutern, sind Daten nicht konkurrierend, und ihr sozialer und wirtschaftlicher Wert steigt erheblich, wenn sie gemeinsam genutzt werden. Die Analogie „Daten-wie-Öl“ sollte daher aus dem Sprachgebrauch verschwinden, da sie ungenau ist und zudem das Potenzial von Daten künstlich einschränkt.

2. Nicht alle Daten sind gleich.

Die Einschätzung des Wertes von Daten kann schwierig sein, was viele Organisationen dazu veranlasst, alle Daten gleich zu behandeln, zum Beispiel sie zu sammeln und zu speichern. Dabei variiert der Wert von Daten stark, je nach Kontext, Anwendungsfall und den zugrunde liegenden Eigenschaften der Daten, wie die darin enthaltenen Informationen, ihre Qualität usw. Deshalb ist es unumgänglich, Metriken oder Prozesse einzuführen, die eine genaue Bewertung der Daten ermöglichen. Dies gilt umso mehr, als die Datenmenge weiter explodiert und möglicherweise die Fähigkeit der Beteiligten übersteigt, alle generierten Daten zu speichern oder zu verarbeiten.

3. Risiken und Nutzen der Datennutzung müssen abgewogen werden.

Nach einer Reihe von medienwirksamen Datenschutzverletzungen in den letzten Jahren hat sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Aufsichtsbehörden weitgehend auf die mit Daten verbundenen Risiken und die notwendigen Schritte zur Minimierung dieser Risiken konzentriert. Solche Bedenken sind natürlich berechtigt und wichtig. Gleichzeitig hat die ausschließliche Konzentration auf die Vermeidung von Schäden zu einer künstlichen Beschränkung der Maximierung des potenziellen Nutzens von Daten geführt – oder, anders ausgedrückt, zu einer Erhöhung der Risiken, die mit der Nichtnutzung von Daten verbunden sind.

Es ist an der Zeit, einen ausgewogeneren Ansatz zu verfolgen, bei dem Risiken und Nutzen abgewogen werden. Durch die Freigabe großer Mengen derzeit isolierter und ungenutzter Daten könnte ein solcher verantwortungsvoller Datenrahmen enorme Mengen an sozialer Innovation und öffentlichem Nutzen freisetzen.

4. Daten sind der Schlüssel zur KI.

In der jüngsten Begeisterung über ChatGPT und GPT-4 wird leicht die Schlüsselrolle vergessen, die Daten bei der Ermöglichung Künstlicher Intelligenz gespielt haben und weiterhin spielen. Tatsächlich ist es die rasante Zunahme von Daten, die unter anderem durch unsere Interaktionen mit sozialen Medien und die Verbreitung von datenfähigen Geräten im Internet der Dinge angetrieben wird, die zu den leistungsstarken Algorithmen des maschinellen Lernens geführt hat, die den Fortschritten in der KI zugrunde liegen. Die Anerkennung der Schlüsselrolle von Daten ist nicht nur für ein besseres Verständnis der Fortschritte in der KI von entscheidender Bedeutung. Sie ermöglicht es uns auch, einige der in diesen Daten enthaltenen Verzerrungen besser zu verstehen und zu beseitigen.

5. Ohne Kooperation geht es nicht.

Die moderne Datenökologie ist weitgehend durch ein Nullsummenspiel geprägt – ein Spiel, bei dem Datenbesitzer gegen Datenkonsumenten und große, datenreiche Unternehmen gegen die Zivilgesellschaft und staatliche Regulierungsbehörden antreten. Insbesondere wird das Potenzial von Daten durch ein überholtes Konzept des „Eigentums“ gebremst, das Daten von denjenigen abschirmt, die am meisten von ihrer Anwendung profitieren könnten. Tatsächlich sind Daten am wirkungsvollsten, wenn sie als gemeinsame Ressource behandelt werden, als öffentliches Gut, von dem alle Beteiligten profitieren können.

Zusammenarbeit ist hier der Schlüssel: Sie hilft dabei, Datenangebot und -nachfrage in Einklang zu bringen und die relevantesten Daten an diejenigen weiterzuleiten, die sie am effektivsten nutzen können. Der Schlüssel zur Erschließung von Innovationen in der modernen Datenwirtschaft liegt im Aufbau einer vertrauensvollen und kollaborativen Ökologie, die sich von einem Nullsummenspiel zu einer Win-Win-Situation entwickelt.

6. Daten brauchen Kontext.

Daten werden oft als eine körperlose Einheit behandelt, die atomisierte „Fakten“ enthält. Ihre Bedeutung und ihr potenzieller Wert werden sowohl von den Informationen, die sie enthalten, als auch von dem breiteren Kontext bestimmt, in dem die Daten gesammelt und verwendet werden. Wie Sabina Leonelli geschrieben hat, „sind die Präsentation von Daten, die Art und Weise, wie sie identifiziert, ausgewählt und in Datenbanken aufgenommen oder ausgeschlossen werden, und die Informationen, die den Nutzern zur Verfügung gestellt werden, um sie in einen neuen Kontext zu stellen, von grundlegender Bedeutung für die Generierung von Wissen – und beeinflussen dessen Inhalt erheblich.“

7. Von der individuellen Zustimmung zu einer sozialen Lizenz.

Eine soziale Lizenz bezieht sich auf die informellen Anforderungen oder Erwartungen, die die Gesellschaft an die Verwendung, Wiederverwendung und Weitergabe von Daten stellt. Der Begriff stammt aus dem Bereich des Umweltressourcenmanagements und erkennt an, dass eine soziale Lizenz nicht unbedingt mit einer gesetzlichen oder behördlichen Lizenz übereinstimmt. In einigen Fällen kann sie über formale Genehmigungen zur Datennutzung hinausgehen, in anderen Fällen kann sie begrenzter sein. In jedem Fall ist das Vertrauen der Öffentlichkeit ebenso wichtig wie die Einhaltung der Gesetze – eine blühende Datenökologie kann es nur geben, wenn Dateninhaber und andere Interessengruppen innerhalb der Grenzen gemeinschaftlicher Normen und Erwartungen arbeiten.

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8. Vom Dateneigentum zur Datenverantwortung.

Viele der oben genannten Vorschläge laufen auf die implizite Erkenntnis hinaus, dass wir im Zusammenhang mit Daten über den Begriff des Eigentums hinausgehen müssen. Als nicht-konkurrierendes öffentliches Gut bergen Daten ein enormes Potenzial für das Gemeinwohl und den gesellschaftlichen Wandel. Dieses Potenzial variiert je nach Kontext und Anwendungsfall. Austausch und Zusammenarbeit sind entscheidend, um sicherzustellen, dass die richtigen Daten zur Lösung wichtiger sozialer Probleme eingesetzt werden.

Ein Governance-Ansatz, der anerkennt, dass Daten öffentliches Eigentum sind und verantwortungsvoll geteilt werden können, ist daher hilfreicher und gesellschaftlich vorteilhafter als überholte Vorstellungen von Eigentum. Es gibt eine Reihe von Instrumenten und Mechanismen zur Förderung von Stewardship und Sharing. Datenkooperationen gehören dabei zu den vielversprechendsten.

9. Datenasymmetrien.

Daten, so wurde oft verkündet, sind ein Vorbote für größeren gesellschaftlichen Wohlstand und Wohlergehen. Das Zeitalter von Big Data sollte eine neue Welle von Innovationen und Wirtschaftswachstum einleiten, die alle mitnehmen würde. Die Realität sieht jedoch etwas anders aus. Das Zeitalter von Big Data ist vielmehr durch anhaltende und sich in vielerlei Hinsicht verschärfende Asymmetrien gekennzeichnet. Diese manifestieren sich in Ungleichheiten beim Zugang zu den Daten selbst und, was noch problematischer ist, in Ungleichheiten bei der Verteilung der sozialen und wirtschaftlichen Früchte der Daten. Wir müssen daher unseren Umgang mit Daten neu denken, um sicherzustellen, dass ihre Vorteile gerechter verteilt werden und dass sie nicht die weit verbreiteten und systematischen Ungleichheiten verschärfen, die unsere Zeit kennzeichnen.

10. Selbstbestimmung neu denken.

Es wurde eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, um Asymmetrien in der Datenwirtschaft zu beseitigen. Dazu gehören Zustimmungsmechanismen, aber auch Methoden wie persönliche Informationsmanagementsysteme und neue Konzepte des Eigentums. Auch wenn jede dieser Maßnahmen einige Vorteile bieten könnte, ist ein umfassenderer Ansatz erforderlich, der die Selbstbestimmung für das digitale Zeitalter neu konzeptualisiert. Der Begriff der digitalen Selbstbestimmung ist noch im Entstehen begriffen und baut auf bereits existierenden philosophischen Konzepten der Selbstbestimmung auf, wie sie zum Beispiel von Immanuel Kant entwickelt wurden.

Digitale Selbstbestimmung bezieht sich in erster Linie auf die Verfügungsgewalt über Daten. Sie hat sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Dimension, ist flexibel, kontextspezifisch und einklagbar und zielt insbesondere auf die Stärkung der Marginalisierten ab. Diese und andere Eigenschaften können, wenn sie operationalisiert werden, dazu beitragen, einige Ungleichgewichte in der Datenökologie abzumildern und vielleicht sogar zu beseitigen.

Dr. Stefaan G Verhulst ist Mitgründer und Principal Scientific Advisor von The Data Tank. Er ist ein anerkannter Experte für die Nutzung von Daten und Technologien für soziale Zwecke und Mitbegründer mehrerer Forschungsorganisationen, darunter das Governance Laboratory (GovLab) an der New York University, das sich auf die Nutzung von Fortschritten in Wissenschaft und Technologie zur Verbesserung der Entscheidungsfindung und Problemlösung konzentriert. Stefaan wurde als einer der weltweit 10 einflussreichsten Akademiker im Bereich Digital Government anerkannt. Er hat zahlreiche Publikationen zu diesen Themen veröffentlicht und spricht regelmäßig auf internationalen Konferenzen, darunter TED und das UN World Data Forum. Er berät eine Vielzahl öffentlicher und privater Organisationen in Fragen der Datenverwaltung.

Dr. Julia Stamm ist CEO von The Data Tank. Sie verfügt über langjährige Führungs- und Managementerfahrung in nationalen und internationalen Organisationen wie COST (European Cooperation in Science and Technology), der G20 und der Europäischen Kommission und ist Expertin in den Bereichen Wissenschaft, Politik, Technologie und Innovation für das Gemeinwohl. Julia berät regelmäßig ein breites Spektrum von Stakeholdern aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft und hilft ihnen, neue Denk- und Handlungsweisen zu finden, um den gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen und eine nachhaltige und gerechte Zukunft zu gestalten. 2019 gründete sie The Futures Project, eine internationale gemeinnützige Initiative zur Förderung von Innovation und Technologie “for people and planet”. Sie ist Mitglied in mehreren Vorständen und Ausschüssen. Im Jahr 2021 erhielt sie für ihre Arbeit den Digital Female Leader Award, Kategorie „Global Hero“.

The Data Tank ist ein gemeinnütziger, global agierender Think and Do Tank mit Sitz in Brüssel. Unsere Vision bedeutet einen bedeutenden Wandel in der Art und Weise, wie wir über Daten denken, wie wir auf sie zugreifen und wie wir sie nutzen. Wir arbeiten mit Partnern auf der ganzen Welt zusammen, um das Potenzial von Daten zu erschließen und sie auf verantwortungsvolle Weise zu nutzen, um Lösungen für die dringenden Probleme unserer Zeit zu finden.

Titelbild: ArtHead / Shutterstock

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Dazu kann der Wert von Daten zudem ja auch durchaus fluktuieren. Einzellne Daten können total wertlos sein. Aber in Kombination mit anderen Daten bekommen sie einen Wert. Oder sie werden erst durch neue Technologien auswert- und verwertbar.

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