Von Wolfgang Kerler
Einfach nur ein paar Kameras vor der Bühne platzieren und das Repertoire an Theaterstücken, Opern und Ballettaufführungen ins Netz streamen, das war André Bücker zu wenig. „Gestreamtes Theater ist abgefilmtes Theater, ist eigentlich nichts anderes als eine Fernsehvariante einer Theateraufführung“, sagt der Intendant des Staatstheaters Augsburg im Podcast New Realities von 1E9 und dem XR HUB Bavaria. „Das Besondere von Theater findet dort nicht statt.“
Und damit meint er: Miteinander in einem Raum sein und die Inszenierung vor Ort erleben. „In der VR findet das statt“, mein Bücker. „Das ist wirklich faszinierend.“ Er sagt das auch deshalb mit großer Überzeugung, weil sein Team und er seit Wochen erfolgreich Erfahrungen mit VR-Inszenierungen sammeln. Schon seit Ostern bietet das Staatstheater innerhalb Augsburgs den VR-Brillen-Lieferservice vr-theater@home an, mit dem man sich bisher das Ein-Personen-Theaterstück Judas und den Ballettabend shifting_perspectives ins Wohnzimmer holen kann. 9,90 Euro kostet das pro Person. Weitere Stücke, die dann ebenfalls speziell für VR inszeniert und in 360-Grad aufgezeichnet werden, sind geplant.
Hier kannst du die Podcast-Folge mit André Bücker direkt anhören. Alternativ kannst du ihn unter anderem bei Podigee, Spotify, Deezer und bei Apple Music hören und abonnieren.
Und wie fühlt sich das VR-Theater nun an? „Man ist tatsächlich mitten im Geschehen“, erklärt Bücker. „Beim Ballettabend ist es so, dass man Partner der Tänzer wird.“ Und zwar im Zentrum der Bühne. „Das ist eine ganz interessante, fast körperliche Erfahrung als Zuschauer.“ Im Schauspiel Judas, das in einer alten Kapelle gefilmt wurde, spielt der Darsteller in die Kamera – und damit direkt mit dem Publikum. „Man hat das Gefühl, man könne wirklich direkt mit ihm kommunizieren“, sagt der Intendant. VR mache eine Nähe und Intensität möglich, die dem echten Theaterbesuch sehr nahekomme.
Die Resonanz des Augsburger Publikums war durchweg positiv, obwohl vor allem Menschen den Leihservice nutzten, die bisher zwar Erfahrungen mit Theater hatten, aber noch keine Erfahrungen mit VR. Außerhalb Augsburgs könnte das genau umgekehrt sein. Im Rest der Welt kann man sich die Inszenierungen inzwischen für 5,90 Euro auf die eigene, bereits vorhandene VR-Brille herunterladen. André Bücker kann sich gut vorstellen, dass das Theater über dieses Angebot neue Zielgruppen erreicht. „Die Menschen, die sich für VR interessieren, sind sehr aufgeschlossen, was den Content angeht. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das, was wir hier produzieren, etwas ist, was auch Menschen, die bisher keinen Kontakt zum Theater hatten, plötzlich interessiert.“
Im März hätte ohnehin die erste VR-Inszenierung Premiere gehabt
Bei seiner Arbeit als Regisseur beschäftigte sich Bücker schon in den vergangenen Jahren verstärkt mit digitalen Technologien. Er plante schon länger, digitale Theaterwelten zur fünften Sparte des Hauses in Augsburg zu machen – neben Schauspiel, Ballett, Musiktheater und Konzerten. Vor eineinhalb Jahren entstand deswegen die Idee, die Oper Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck zumindest teilweise in Virtual Reality umzusetzen. „Die Oper spielt zum Teil in der Unterwelt“, erklärt der Intendant. „Und da kam mir wirklich der Gedanke, zu sagen: Okay, lasst uns doch versuchen, die Zuschauer alle mitzunehmen in eine andere Realitätsebene, in die VR und dort eine Unterwelt wirklich völlig neu zu kreieren und ein völlig neues, immersives Theatererlebnis zu schaffen.“
Die Umsetzung dieser Idee war vor Beginn der Corona-Pandemie quasi fertig. Am 16. Mai wäre Premiere gewesen. Zusammen mit der Partnerfirma Heimspiel entwarf das Theater dafür virtuelle Welten, in die die Opern-Besucher während des Stückes dreimal eintauchen sollten – für insgesamt 25 Minuten. Da das nicht zuhause, sondern im Opernsaal hätte stattfinden sollen, schaffte das Theater 500 VR-Brillen an. Ohne die wäre der VR-Theater-Lieferdienst jetzt gar nicht machbar gewesen.
Die Hybrid-Inszenierung von Orfeo ed Euridice soll nach dem Shutdown nachgeholt werden. Und auch darüber hinaus will André Bücker auf den jetzt unverhofft gesammelten VR-Erfahrungen aufbauen. „Alles, was wir jetzt tun, wird uns in der Zukunft helfen, uns weiterzuentwickeln“, sagt er. „Aber in was für Ausformungen sich das weiterentwickelt, das ist noch völlig offen.“
Titelbild: Die virtuelle Welt der Operninszenierung von Orfeo ed Euridice / Heimspiel GmbH und Christian Schläffer