Menschen und Bildschirme sind heute kaum noch zu trennen. Aber wie wir Bildschirme und die Medien darauf genau nutzen, ist für Forscher noch ein Rätsel. Mehrere Wissenschaftler wollen daher nun das Human Screenome Project starten. Es soll der Forschung helfen, unsere Interaktion mit digitalen Medien zu entschlüsseln. Dafür müssen sich die Teilnehmer der Mega-Studie aber überwachen lassen.
Von Michael Förtsch
Es ist das erste, was viele Menschen nach dem Aufstehen tun: Sie greifen zum Smartphone oder Tablet, schauen, wie spät es ist und welche Kurznachrichten, E-Mails und Notifications über Nacht eingetrudelt sind. Am Küchentisch werden dann die Websites von Tageszeitungen und Magazinen gecheckt, geschaut, was auf Facebook geht und kurz durch Instagram und Twitter gescrollt. In Bus und Bahn wird anschließend durch TikTok-Videos und Snapchat-Stories gewischt – und bei ausreichend Bandbreite vielleicht auch YouTube, Netflix oder Amazon Prime Video geschaut.
Es lässt sich also recht einfach sagen, was wir uns auf den allgegenwärtigen mobilen Geräten oder am PC und Mac ansehen. Aber wie genau wir das tun, was das mit uns macht und was das langfristig für Auswirkungen haben könnte, das ist dennoch weitestgehend ungeklärt. Denn die Ausbreitung der Bildschirme, der Erfolg all der digitalen Plattformen verlief so rasant, dass es der Wissenschaft kaum möglich war, verlässliche Datengrundlagen anzusammeln. Selbst viele Autoren und zahlreichen Studien zur Nutzung und den Auswirkungen von digitalen Medien schränkten ein, dass ihnen für wirklich belastbare Aussagen die nötige Datenbasis fehlte.
Genau das will der Kommunikationsforscher Byron Reeves von der Stanford University ändern. [Wie er jetzt im Fachmagazin Nature angekündigt hat, will er gemeinsam mit mehreren Kollegen im Screenomics Lab der Uni die menschliche Nutzung von Smartphones, Tablets und anderen Bildschirmgeräten kartographieren. Und das auf eine vergleichbar aufwendige und kollaborative Weise wie einst das Human Genome Project das Genom des Homo sapiens sequenziert hat. Entsprechend wurde das Unterfangen auch Human Screenome Project getauft.
„Trotz der Versprechen von Big Data weiß niemand wirklich, was Menschen in der zunehmend komplexer werdenden digitalen Welt auf ihren Bildschirme sehen und tun“, schreibt Reeves im Nature-Artikel. „Unser Projekt startet eine Datenerfassung und Auswertung, die eine präzise Erfassung und Kartierung des fragmentierten digitalen Lebens umfasst.“ Diese Daten zu erheben sei unglaublich wichtig. Denn digitalen Medien und Plattformen hätten Einfluss auf die Gesundheit, die Politik, die Bildung, das Klima und viele weitere Bereiche des Lebens. Daher sei es unverantwortlich, nur auf Grundlage von vagen Annahmen und möglicherweise falschen Studienergebnissen – wie das „soziale Medien, das Verhalten der Menschen stark und ausnahmslos negativ beeinflussen“, wie Reeves sagt – einen solch kritischen Lebensbereich abzuurteilen und zu regulieren.
Überwachung für die Wissenschaft
Was Byron Reeves im Rahmen des Human Screenome Projects also tun will, ist, das echte Verhalten von Menschen am Bildschirm mitzuschneiden. Aber das mit einer Methode, die durchaus auf Kritik stoßen dürfte. Denn Reeves möchte möglichst viele Freiwillige finden, die sich auf ihren Geräten eine Screenomics genannte Software installieren, die alle fünf Sekunden einen Screenshot des Bildschirms anfertigt und an die Forscher schickt. Ein Tool also, das sie überwacht. „Eine Sitzung beginnt dabei, wenn der Bildschirm aufleuchtet, und endet, wenn er abdunkelt“, erklärt Byron Reeves das Konzept. „Das dauert manchmal nur eine Sekunde – etwa wenn der Nutzer nur kurz die Uhrzeit per Smartphone checkt. Manchmal vergeht mehr Zeit: Am Anfang antwortet man auf den Beitrag eines Facebook-Freundes, um dann, eine Stunde später, einen Link zu einem Artikel über Politik anzuklicken.“ Das Resultat einer solchen Sitzung ist dann ein Screenomic.
Die Screenshots sollen von der Software angefertigt werden, ohne dass der Nutzer das mitbekommt. Schließlich soll er sich nicht beobachtet fühlen. Das kann durchaus auf mehreren Geräten eines Nutzers gleichzeitig geschehen. Denn immer mehr Menschen sind beispielsweise simultan am Laptop und dem Smartphone aktiv. Im Hintergrund werden die Aufnahmen gespeichert, verschlüsselt und an das Screenomics Lab übertragen. Und das auf eine Weise, die es ermöglichen soll, die Aufnahmen einander zuzuordnen und zu synchronisieren. So dass etwa sichtbar wird, wann eine Person vom Laptop an das Smartphone wechselte. In einem Probelauf mit 600 Personen wollen die Macher des Human Screenome Project bereits 30 Millionen Screenshots angesammelt und damit eine „mehrdimensionale Karte ihres digitalen Lebens“ gestaltet haben.
Nicht wie lange wir Smartphones nutzen ist interessant, sondern wie
Schon durch die kleine Probesammlung hätte das Screenomics Lab erste Einblicke gewinnen können, die dazu geeignet sind, Ergebnisse bisheriger Studien zu hinterfragen, die nur mit eigenen Nutzungseinschätzungen der Studienteilnehmer arbeiteten. Denn das Nutzungsverhalten von zwei Jugendlichen, die zwar tagtäglich vergleichbar viel Zeit am Smartphone verbringen, könne, wie sich zeigte, im Detail massiv unterschiedlich ausfallen. Es mache durchaus einen Unterschied, wie viel Zeit sie jeweils am Stück am Smartphone verbringen, wie die Nutzung ihren Tag fragmentiert, welche Apps sie nutzen und vor allem, ob sie dann lediglich Inhalte konsumieren oder auch selbst Inhalte erstellen.
„Es geht darum, wie die Menschen Fragmente [ihrer Nutzung von Apps und Medien] miteinander verbinden, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben“, sagt Reeves. „Sie können vom Lesen der Posts eines Facebook-Freundes zu Nachrichten über den Präsidentschaftswahlkampf und dann in eine Banking-App wechseln – und das alles in einer Minute.“ Dabei fänden komplexe Mechanismen, Prozesse und Assoziationen statt, deren Tiefe weit über die pure verbrachte Zeit am Gerät hinausgeht. „Die Screenshot-Daten spiegeln Muster der Interaktion wider, an die sich [die Menschen] im Nachgang mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erinnern“, sagt Reeves. Das zeige, dass nur mit solchen Daten eine „Analyse der tatsächlichen Mediennutzung“ durchführbar sei.
Laut dem Stanford-Forscher wären er und seine Kollegen sich durchaus bewusst, dass das Projekt komplex sei und seine Mechanismen tief in die Privatsphäre der Menschen eingreifen. Schließlich
sind es eben nicht nur Facebook-Posts, die über den Bildschirm laufen, sondern auch Bankdaten, Suchbegriffe, Pornographie, private Fotos, Nachrichtenverläufe und vieles mehr. Dennoch sei man hoffnungsfroh, dass sich genügend Teilnehmer für das Projekt finden, um eine aussagekräftige und diverse Datenbasis zu schaffen. Menschen wären generell durchaus bereit, ihre Daten mit der Wissenschaft zu teilen und das Team würde hart daran arbeiten, das Human Screenome Project mit einem Fokus auf die „Achtung der persönlichen Privatsphäre“ durchzuführen.
Wie seht ihr das: Würdet ihr gerne am Human Screenome Project teilnehmen?