Von Wolfgang Kerler
Die Zukunft könnte der Vergangenheit ziemlich ähnlich werden. Das befürchtet der Künstler und Experimentalphilosoph Jonathon Keats, wenn er beobachtet, wie der Klimawandel wegen der immer weiter steigenden CO2-Emmissionen an Fahrt aufnimmt. „Wir werden ähnliche Probleme bekommen wie die frühesten Organismen, die auf der Erde lebten“, sagt er im Gespräch mit 1E9. „Damals war der Planet nicht allzu gut bewohnbar.“
Dennoch gab es schon vor Milliarden von Jahren Lebensformen, die sich gemeinsam mit dem Planeten immer weiterentwickelten. Bis die Erde schließlich zu einem richtig angenehmen Ort wurde, an dem auch wir Menschen existieren können.
Städte im Wasser, bewohnt von Mikroorganismen
Um herauszufinden, wie wir in Zukunft trotz unwirtlicher Bedingungen ein gutes Dasein führen können, beschäftigte sich Jonathon Keats also damit, wie prähistorische Lebensformen zurechtkamen. „Ich fragte mich, ob wir die Städte der Zukunft entwickeln können, indem wir uns die allersten Städte anschauen“, sagt der Künstler. „Und die ersten Städte sind für mich Gemeinschaften von verschiedenen Mikroorganismen, die vor Milliarden von Jahren symbiotisch zusammenlebten.“
Was von diesen Städten übrig blieb, können wir heute noch als Stromatolithen entdecken – organisch anmutende Sedimentformationen, die ein bisschen wie Blumenkohl aussehen und aus der Kooperation vieler verschiedenen Organismen entstanden. Die bekanntesten davon stehen in der Sharks Bay in Australien, aber auch in Deutschland sind Exemplare zu finden.
Viele Stromatolithen befanden sich direkt an der Küste, wo die Temperaturen wegen des kühlenden Einflusses des Wassers weniger extrem waren. Außerdem wuchsen sie schichtweise in die Höhe. In den oberen Ebenen lebten die Bakterien. Die unteren Schichten bildeten sich aus Sediment und abgestorbenen Organismen. Sie wurden geopfert, damit weiter oben Leben möglich ist. Beide Elemente – die Wasserkühlung und das Bauen in Schichten – könnten auch in den Küstenstädten der Zukunft eine Rolle spielen, meint Jonathon Keats.
„Der Anstieg des Meeresspiegels wird immer schlimmer und die Hitze in vielen Städten ist ohne Klimaanlagen schon jetzt kaum auszuhalten“, sagt er. Klimaanlagen verschlängen allerdings Energie, was wiederum den Klimawandel beschleunige. „Und wir müssen endlich damit aufhören, die Probleme der Vergangenheit zu lösen, indem wir neue Probleme für die Zukunft schaffen“, sagt der Künstler, der hier bei 1E9 übrigens als @jonathonkeats Mitglied ist.
Keine Flucht vor dem steigenden Meeresspiegel
„Was wäre also, wenn Städte in der Zukunft wie Stromatolithen funktionieren?“, fragte er sich. „Und was wäre, wenn wir die Städte nicht mit immer höheren Schutzwällen, die irgendwann doch brechen, vor dem steigenden Meer schützen oder irgendwann vor dem Wasser fliehen würden, sondern trotz der Überflutungen dortblieben?“ Die Antwort, die er mit Unterstützung des deutschen Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP gefunden hat: Es wäre vielleicht gar nicht so schlecht.
Zusammen mit Wissenschaftlern überprüfte Jonathon Keats im Rahmen des Artist-in-Lab-Programms der Fraunhofer-Gesellschaft, wie seine von den Stromatolithen inspirierten Ideen funktionieren könnten: die des Bauens in Schichten und die der Kühlung und Energiegewinnung durch Wasser. Zuerst musste allerdings geklärt werden, ob ein Leben in den immer weiter überfluteten Städten überhaupt möglich sein würde. Schließlich könnte der Meeresspiegel allein bis zum Ende des Jahrhunderts um 2,5 Meter ansteigen.
„Wir führten Computersimulationen durch, um die thermischen Auswirkungen von starken Überflutungen in Bezirken von Shanghai, Manhattan und Hamburg zu analysieren“, sagt Gunnar Grün, der stellvertretende Direktor des Fraunhofer IBP. „Für jedes Szenario verwendeten wir Klimamodelle, um den Anstieg des Meeresspiegels und der saisonalen Temperaturen in den Jahren 2100 und 2300 zu projizieren.“
Das Ergebnis: Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen den drei Städten, wurden alle drei durch die thermische Trägheit des Wassers und die Kühlung, die bei seiner Verdunstung entsteht, deutlich milder und bewohnbarer. Genau wie vor über drei Milliarden Jahren für die Stromatolithen-Communitys.
Häuser, die in den Himmel wachsen
„Stromatolithen wuchsen mit der Zeit. Immer wieder wurden die unteren Schichten, die unbewohnbar wurden, geopfert“, sagt Jonathon Keats. „Auf diesem Fundament entstanden neue, lebendige Schichten.“ Wie könnte dieses Vorgehen in der Zukunft und für menschliche Bauwerke aussehen? Zwei vom Künstler entwickelte Konzepte stellten sich bei Tests mit Modellen als besonders vielversprechend heraus.
Nummer 1: das wachsende Hochhaus aus Holz. Dabei werden Hochhäuser gebaut, auf deren Dächern Bäume gepflanzt werden. Mit deren Holz – und zusätzlich notwendigen Materialien – könnten neue Stockwerke errichtet werden, falls die niedrigeren Etagen wegen des steigenden Wassers unbewohnbar werden. Die Bewohner würden also mit der Zeit höher ziehen. Strom könnte durch ein Gezeitenkraftwerk im „Keller“ des Gebäudes erzeugt werden. Eine begrünte Fassade könnte die Verdunstungskühlung verstärken, was den Energieverbrauch für Klimaanlagen weiter senkt.
Nummer 2: Betongebäude an Masten. In diesem Fall müssten die Bewohner nicht regelmäßig in neu errichtete, höher gelegene Etagen umziehen. Das ganze Haus wäre an einem zentralen Mast aufgehängt und könnte mit den Gezeiten und dem Meeresspiegel auf- und absteigen. Dadurch könnte auch der nötige Strom erzeugt werden. Würde beim Bau poröser Beton verwendet, könnte dieser Flüssigkeit aufnehmen, die bei Hitze verdampfen könnte. Das hätte einen kühlenden Effekt.
Die Hitzeentwicklung in der Modellstadt der Zukunft, getestet im Labor des Fraunhofer IBP. Bild: Jonathon Keats
Unabhängig vom Gebäudetyp könnte die CO2-neutrale Energieversorgung durch Photovoltaikanlagen an den Fassaden gesichert werden, die auch vom Wasser reflektiertes Sonnenlicht abbekommen würden. Wird gerade weniger Strom gebraucht als produziert, könnte Wasser in den Gebäuden nach oben gepumpt werden. Sie könnten als kleine Pumpspeicherkraftwerke genutzt werden.
Hoffentlich wird diese Stadt nie gebaut!
So schlüssig und überzeugend das alles klingt. Jonathon Keats sagt über sein Konzept: „Es ist eine echt schreckliche Vorstellung. Es wäre besser, wenn sie nie in die Tat umgesetzt wird.“ Warum er das sagt? Weil er hofft, dass die Menschen die grundlegenden Ursachen des Klimawandels bekämpfen, anstatt sich zu überlegen, wie sie mit den Folgen des Klimawandels halbwegs zurechtkommen.
Mit seiner Arbeit will er vor allem neues Denken fördern – langfristiges, systemisches Denken. Er will, dass die Natur, die Systeme hervorbringt, in denen Organismen symbiotisch und im Gleichgewicht miteinander leben, häufiger zum Vorbild genommen wird. Und er will auf Technologien und Methoden hinweisen, die uns auch heute schon weiterhelfen könnten: Kühlung durch Wasser, das in vielen Städten in Betonkanäle verbannt ist, anstatt durch Klimaanlagen. Gezeiten und Pumpspeicherkraftwerke. Oder Kreislaufwirtschaft.
„Meiner Meinung nach wäre es besser für uns, das Konzept als extreme Endsituation zu verstehen, die wir als Warnung sehen sollten“, sagt Jonathon Keats. „Wenn wir nicht handeln, könnte so unser Leben aussehen.“
Ab dem 12. Dezember ist die Arbeit „The Primordial Cities Initiative“ von Jonathon Keats als Ausstellung im STATE Studio in Berlin zu sehen. Die Infos dazu findet ihr hier.
Titelbild: David Holt und Didier Descouens