Bürgerpflichten 2.0: Wer Freiheit will, muss auch etwas dafür tun

Im Bundeshaushalt klafft ein Milliardenloch, Strom und Sprit sollen teurer werden und die Wirtschaft warnt vor der „Deindustrialisierung“: Die Zeiten schreien danach, auf „die Politik“ und „die da oben“ zu schimpfen. Doch das würde den bedrohten Zustand unserer freiheitlichen Demokratie noch weiter verschlechtern, warnt Thomas Lange, den das Buch The Bill of Obligation des ehemaligen US-Diplomaten Richard Haass nachdenklich gemacht hat. Der schlägt neue Bürgerpflichten vor.

Von Thomas Lange

„Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.”

John F. Kennedy appellierte mit diesem ikonischen Satz nicht an die Bürger als „Untertanen“ des Staates, sondern an die mündigen und freien Bürger Amerikas. Er war überzeugt, dass sie die großen Übel der Menschheit nur gemeinsam bekämpfen können: Tyrannei, Armut, Krankheit und Krieg. Und auch die Verteidigung der Freiheit gehörte für ihn zu den großen Menschheitsaufgaben. Kennedy richtete seinen Appell dabei an alle Weltbürger:

„Meine Mitbürger in der ganzen Welt: Fragt nicht, was Amerika für euch tun wird, sondern fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit des Menschen.“

Wie verletzlich die freiheitliche Demokratie und die offene Gesellschaft sind, wird uns immer wieder vor Augen geführt. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Deutlich wird dabei auch, dass der Rechtsstaat zwar eine notwendige Voraussetzung für unsere Demokratie ist – aber keine hinreichende. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ So hat es der Staatsrechtler und frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert. Aber was ist es, was die freiheitliche Gesellschaft zusammenhält – von innen?

Diese Frage stellt sich auch Richard Haass, der frühere US-Diplomat und langjährige Präsident des Council on Foreign Relations. In seinem neuen Buch The Bill of Obligations plädiert er dafür, dass wir die Bürgerpflichten wieder höherhalten.

Grundrechte allein garantieren keine funktionierende Demokratie

Haass lehnt sich an die Bill of Rights an, die im Zentrum der US-Verfassung steht und den Amerikanern Grundrechte im Rahmen einer freien und demokratischen Gesellschaft zusichert. Diese Rechte reichten als Basis einer funktionierenden Demokratie jedoch nicht aus. Er stellt vielmehr fest, dass einige der schärfsten gesellschaftlichen Konflikte und politischen Debatten auf konkurrierende Grundrechte zurückzuführen sind.

Als Beispiele nennt er die Abtreibungsdebatte (wie steht das Recht des Ungeborenen zum Selbstbestimmungsrecht der Mutter?), den Kampf um die Meinungs- und Redefreiheit (was darf man öffentlich sagen – was nicht?) und das in der amerikanischen Verfassung verankerte Recht zum Tragen einer Waffe (ließen sich Amokläufe verhindern, wenn dieses Recht eingeschränkt würde?).

Diese Debatten sind wichtig. Sie bergen aber auch gesellschaftlichen Sprengstoff. Haass schlägt in seiner Bill of Obligations zehn Bürgerpflichten vor (Ten Habits of Good Citizens), die den gesellschaftlichen Fliehkräften entgegenwirken sollen. Ihm geht es nicht um Pflichten im engeren oder gesetzlichen Sinne, sondern um eine bürgerliche Haltung. Er hat dabei vor allem die tiefe politische Spaltung seines Heimatlandes vor Augen, den Demokratieverdruss und – als besonders einschneidendes Ereignis – den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021.

Drei der Bürgerpflichten spiegeln diese Erfahrung besonders wider: Reject Violence (Keine Gewalt), Value Norms (Normen wie Wahrhaftigkeit sind wichtig für den sozialen Zusammenhalt) und Put Country First (Das Land an erster Stelle). Andere klingen auch für unsere europäischen Ohren vertrauter: Be Informed (Sei auf dem Laufenden), Get Involved (Bring Dich ein – schau nicht nur zu), Promote the Common Good (Setz Dich für das Gemeinwohl ein) und Support the Teaching of Civics (Mach Dich für Staatsbürgerkunde stark).

Drei weitere Bürgerpflichten lohnen gerade aus deutscher Perspektive einen zweiten Blick.

Erstens: Stay Open to Compromise – Demokraten sind offen für Kompromisse

Das Wort „Ampel-Streit“ ist aus der tagespolitischen Berichterstattung kaum mehr wegzudenken. Und man möchte es eigentlich nicht mehr hören. Dabei gehören Widerspruch und Konflikt zu den Wesensmerkmalen der Demokratie. Ein Parteien- oder Koalitionsstreit spiegelt oft auch nur die teils sehr unterschiedlichen Weltbilder und Wertvorstellungen in der Gesellschaft wider – nicht mehr und nicht weniger.

Und so sehr man sich über die Regierung wundern oder ärgern mag und so zweifelhaft politische Entscheidungen einem gelegentlich erscheinen können:

„Demokratische Kompromisse sind keine zweitklassige Entscheidung. Demokratische Entscheidungen sind oft Kompromisse zwischen Parteien, Flügeln oder Lagern. Dies ist kein Mangel, Kompromisse sind nicht ‚faul‘. […] Das Bedürfnis nach einer kompromisslosen demokratischen Entscheidung folgt der autoritären Fiktion eines reinen politischen Willens.“ So der Verfassungsrechtler Christoph Möllers.

Der Wunsch, jemand müsse jetzt mal „durchregieren“, atmet jedenfalls genauso wenig demokratischen Geist wie die Idee einer „alternativlosen“ Politik.

Zweitens: Remain civil — Demokraten sind zivilisierte Menschen

Hierzulande reibt man sich zuweilen verwundert die Augen über die Schärfe der politischen und gesellschaftlichen Debatten in den USA. Aber auch in Deutschland ist der Ton rauer geworden. Die AfD hat mit ihrem Einzug in die Parlamente eine menschenverachtende und verunglimpfende Sprache „salonfähig“ gemacht, die den öffentlichen Diskurs vergiftet. Demokraten aber wissen: Auch der Ton macht die Musik.

Weitere Gefahr geht von den Moralisten aus. Nicht nur weil sie dazu neigen, Andersdenkende zu diffamieren. Sondern auch weil – wie der Philosoph Hermann Lübbe warnte – „die moralisierende Form politischer Auseinandersetzung stets Gefahr läuft, im Triumph der guten Gesinnung über die Gesetze des Verstandes zu enden“. Zum Verlust von Freiheit ist es dann oft nur noch ein kleiner Schritt. Und um die ist es auch an anderer Stelle nicht gut bestellt.

So beklagt etwa die Jüdische Gemeinschaft nicht erst seit dem 7. Oktober, dass der Antisemitismus längst die Mitte der Gesellschaft erreicht hat. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, brachte es auf der zentralen Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht eindrücklich auf den Punkt: „Schutz ist gut und, gerade jetzt, wichtig. Aber wir wollen keine Schutzschilde. Wir wollen frei leben in Deutschland, in unserem Land; frei leben in dieser offenen Gesellschaft."

Solange dieser Wunsch verwehrt bleibt, brauchen wir uns auf unsere Bürgergesellschaft nicht allzu viel einzubilden.

Drittens: Respect Government Service — Der öffentliche Dienst verdient Respekt

Die Verächtlichmachung von Politikern und „Bürokraten“ ist eine beliebte Ersatzhandlung für die inhaltliche Auseinandersetzung mit Politik. Bei aller berechtigten Kritik an schlechten Entscheidungen der Regierung und an Fehlleistungen einzelner Politiker und Beamte: Mit Verallgemeinerungen à la „die da oben“ schießt sich eine Gesellschaft ins eigene Knie.

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Werden die Repräsentanten der Bürger und des Staates fortwährend geschmäht, steigert das sicherlich nicht die Attraktivität öffentlicher Ämter. Das aber kann uns teuer zu stehen kommen. In Deutschland machen die Staatsausgaben etwa die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus. Das heißt – selbst, wenn man sich an mancher Stelle sicherlich auch „weniger Staat“ wünschen könnte: Der öffentliche Sektor ist zu groß und bedeutend, als dass wir ihn zweitklassigem Personal überlassen können.

Oder in den Worten von Richard Haass: „The deep state is us. We should therefore want the best and brightest among us to work in government, be it for a time or for a career.“ („Der Deep State sind wir. Daher sollten wir wollen, dass die Besten und Klügsten unter uns in der Regierung arbeiten, sei es für eine gewisse Zeit oder für eine ganze Karriere.“)

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie wir den Austausch zwischen Politik, Verwaltung und anderen Sektoren intensivieren können – um das gegenseitige Verständnis und Vertrauen zu stärken. Gerade zwischen Wirtschaft und Politik herrscht derzeit eine Sprachlosigkeit, die wir unbedingt überwinden sollten.

Haass jedenfalls hat recht: „We get the government and the country we deserve. Getting the one we need, is up to us.(„Wir bekommen die Regierung und das Land, das wir verdienen. Es liegt an uns, die zu bekommen, die wir brauchen.“)

Es gibt noch einiges, was wir in diesem Sinne für uns und unser Land tun können.

Dr. Thomas Lange arbeitet seit vielen Jahren an der Schnittstelle von Finanzierungsfragen, Wissenschaft und Politikberatung an Innovations- und Zukunftsthemen. Zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am ifo Institut für Wirtschaftsforschung, später als Bereichsleiter bei der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und als Strategiechef beim Aufbau einer nationalen Innovationsagentur nach dem Vorbild der amerikanischen DARPA. Er ist Sherpa für den Zukunftsrat des Bundeskanzlers und Mitglied des World Economic Forum’s Expert Network. Bei Achleitner Ventures investiert Dr. Thomas Lange unter anderem in Technologie-Start-ups. Er ist promovierter Volkswirt und Certified Private Equity Analyst.

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