Tastatur, Maus und Keyboard haben es nicht geschafft, den klassischen Stift wegzudisruptieren. Auch in der digitalen Welt fand er seinen Platz – woran die japanische Firma Wacom einen nicht unerheblichen Anteil hat. Im 1E9-Interview erzählt Wacom-Chef Nobu Ide, warum Menschen Stifte brauchen, um Ideen zu entwickeln, wieso Zeichnen in Virtual Reality eine Kreativrevolution auslösen könnte und wie Wacom mit Brain-Computer-Interfaces experimentierte.
Ein Interview von Wolfgang Kerler
Was Tempo für Taschentücher ist, ist Wacom für digitale Stifte und Grafiktablets. Zumindest in der Kreativindustrie. Schon seit Die Schöne und das Biest setzt Disney für seine Trickfilme auf Produkte des japanischen Unternehmens. Dort heimische Animationsstudios taten dies ohnehin schon. Bei Nintendo, Nike oder Ferrari sind die Geräte von Wacom ebenfalls längst im Einsatz. Und auch in Produkten von Microsoft und Samsung, Staedtler und Lamy steckt die Technologie von Wacom. Seit fast 40 Jahren verteidigt das Unternehmen seine Marktführerschaft.
Dabei war Wacom nicht die erste Firma, die solche Geräte auf den Markt brachte. Apple spendierte dem Apple II bereits 1979 das Graphics Tablet, entwickelt und hergestellt vom längst vergessenen Technologiepionier Summagraphics. Die RAND Corporation wiederum bot ihr Grafiktablet schon 1964 für bescheidene 18.000 US-Dollar an. Und die älteste Maschine, die die elektronische Eingabe per Stift erlaubte, wurde 1888 patentiert: der Telautograph.
Wie schaffte es ausgerechnet Wacom, sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen? Mit Technologie, die permanent weiterentwickelt wurde. Schon das WT-460M von 1984, Wacoms erstes Grafiktablet, ließ die Konkurrenz hinter sich – denn es verfügte über den ersten kabellosen Eingabestift. Bereits drei Jahre später stellte das Unternehmen seine Produkte auf die Electro-Magnetic-Resonance-Technologie um, die bis heute perfektioniert wird. So können die Position, der Druck oder der Schwung der Eingabe noch genauer erkannt und digital verarbeitet werden. Vom digitalen Bleistift bis zum digitalen Kugelschreiber gehört alles zum Produktportfolio.
Nobu Ide will den digitalen Stift ins XR-Zeitalter bringen
Wir konnten mit dem Chef von Wacom, Nobukata „Nobu“ Ide, über die Geschichte seiner Firma sprechen – vor allem aber über ihre Zukunft. Nobu Ide lenkt Wacom seit drei Jahren und treibt den Einsatz von Künstlicher Intelligenz genauso voran wie die Entwicklung von Stiften, die in Virtual Reality eingesetzt werden können, oder von Prototypen mit Brain-Computer-Interfaces. Er ist überzeugt davon, dass Menschen nie aufhören werden, Stifte zu verwenden.
Seit drei Jahren ist Nobukata „Nobu“ Ide Präsident und CEO von Wacom. ©Wacom
1E9: Wacom brachte sein erstes Grafiktablet mit kabellosem Stylus 1984 auf dem Markt. Im selben Jahr begann Apple mit der Auslieferung des Macintosh, der nicht nur die grafische Benutzeroberfläche als neuen Standard definierte, sondern auch die Maus als Eingabegerät. Was die Verkaufszahlen angeht, behält die Maus bis heute die Oberhand. Wird sich das je ändern? Oder bleibt der digitale Stift für immer eine Nische?
Nobu Ide: Die Frage stellen wir uns gar nicht. Denn, ehrlich gesagt, habe ich gar nicht die Absicht, die Maus zu besiegen oder zu ersetzen. Unsere digitalen Stifte sind ein Instrument, mit dem Menschen sich ausdrücken können, kreativ sein können, etwas mitteilen können. Sie dienen nicht primär dazu, mehr Effizienz oder Geschwindigkeit zu liefern. Und bevor gleich danach gefragt wird: Ich arbeite auch nicht daran, den analogen Stift zu ersetzen! Wir wollen den Menschen einfach ein weiteres Instrument zur Auswahl geben, um zu kommunizieren.
Wacoms Stärke lag jahrzehntelang in der Nische, in der Kreativindustrie oder bei Designern. Dann kamen das iPad von Apple oder das Surface von Microsoft – und ein regelrechter Tablet-Boom setzte sein. Wie hat sich das auf die Popularität von digitalen Stiften ausgewirkt?
Nobu Ide: Klar hat die Veröffentlichung des Apple Pencils die Popularität des digitalen Stifts enorm gesteigert. Es war wie ein Durchbruch aus der professionellen Nische in den Massenmarkt für Verbraucher. Das verschaffte der ganzen Branche Rückenwind und eröffnet ganz neue Anwendungsmöglichkeiten.
Aber das Geschäft machen doch jetzt andere?
Nobu Ide: Nein, auch unsere eigenen Produkte haben davon stark profitiert, die wir immer so entwickeln, dass sie mit allen Betriebssystemen und Ökosystemen kompatibel sind. Außerdem steckt unsere Technologie in vielen Geräten, auf denen andere Markennamen stehen, zum Beispiel von Samsung, Lenovo, HP und Fujitsu. Man muss sich also keine Sorgen um Wacom machen.
Ein aktuelles Grafiktablet von Wacom im Einsatz.
Hilft die Tatsache, dass Wacom ein japanisches Unternehmen ist und die japanischen Schriftzeichen, die Kanji, viel mehr Präzision erfordern als die im Westen verwendete lateinische Schrift eigentlich dabei, die Konkurrenz technologisch auf Abstand zu halten?
Nobu Ide: Spannende Frage. Spontan würde ich sagen, dass das in gewisser Weise durchaus zutrifft. Wobei man zur Erklärung zwei Dinge vorwegschicken muss. Zum einen gibt es den universell einsetzbaren digitalen Stift nicht, mit dem man Schreiben, Zeichnen und Malen kann. Dafür unterscheiden sich die Anforderungen einfach zu stark. Zum anderen würde ich nicht behaupten, dass unsere Technologie dadurch insgesamt besser ist. Sie ist eher anders optimiert.
Beim Schreiben mit Kanji kommt es noch viel stärker darauf an, den Druck des Stifts, die Geschwindigkeit, den Winkel und die Neigung zu berücksichtigen, da die Schriftzeichen aus so komplexen, kleinteiligen Formen bestehen. Genau dafür haben wir Stifte entwickelt. Mit Stiften von Apple oder Microsoft in Kanji zu schreiben, dürfte im Vergleich mit Wacom-Produkten schwierig sein, denke ich, weil diese für andere Anwendungen optimiert wurden.
Sprechen wir über die Zukunft. Viele Industrien setzen verstärkt auf die Auswertung von Daten und auf Künstliche Intelligenz. Wie sieht das bei Wacom aus?
Nobu Ide: Wir investieren sehr viel in diesem Bereich. Denn mit unseren Produkten werden nicht nur Inhalte erschaffen, sondern auch Daten. Wir nennen sie „digitale Tinte“ – und wollen jetzt herausfinden, wie wir sie sinnvoll nutzen können. Dabei arbeiten wir, zum Beispiel, mit Bildungseinrichtungen zusammen. Unser Ziel ist es dabei, zu einer personalisierten Bildung beizutragen. Dafür erfassen wir, wie ein Schüler schreibt – Geschwindigkeit, Druck, was er löscht – und verknüpfen das mit anderen relevanten Daten, zum Beispiel seinem Fortschritt in bestimmten Fächern. Diese Datensätze können wir einsetzen, um mit Deep-Learning-Algorithmen einen adaptiven Lernplan für genau diesen Schüler zu entwickeln.
Wenn wir schon über Schule sprechen. Warum sollten Kinder überhaupt noch lernen, mit der Hand zu schreiben? Sie verwenden doch ohnehin nur noch Touchscreens und Keyboard und zunehmend auch Spracherkennung.
Nobu Ide: Natürlich benutzen heutige Schüler seltener einen Stift. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass es für uns Menschen immer entscheidend sein wird, auch mit der Hand schreiben zu können. Im Gehirn sind im Vergleich zum Schreiben mit dem Keyboard andere Bereiche aktiv, wenn wir handschriftlich arbeiten. Vor allem, wenn man Ideen entwickeln oder etwas dauerhaft lernen will, können wir durch die Verwendung eines Stifts einfach viel erfolgreicher neue Synapsen im Gehirn bilden. Aber nur, um das klarzustellen: Ich will weder die Tastatur noch die Maus abschaffen. Ich denke nur, dass wir verschiedene Instrumente brauchen.
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Jetzt Mitglied werden!Einige gehen davon aus, dass Datenbrillen die nächsten Personal Computer werden könnten – und Augmented Reality die nächste große Plattform. Wie stellt sich Wacom darauf ein?
Nobu Ide: Wir glauben auch, dass Extended-Reality-Technologien eine große Zukunft haben. Zunächst konzentrieren wir uns aber auf Virtual Reality. Einerseits, weil VR schon mehr im Mainstream angekommen ist. Andererseits, weil wir in VR ein völlig neues Erlebnis für Kreative bieten können. Vergangenes Jahr haben wir deshalb einen digitalen Stift speziell für VR vorgestellt, der mit allen gängigen VR-Ökosystemen kompatibel ist.
Nobu Ide stellt den VR-Pen von Wacom vor.
Was soll es denn den Kreativen bringen, in VR zu arbeiten?
Nobu Ide: Sie können sich komplett fokussieren, schließlich befinden sie sich in einem virtuellen Raum, in dem es nur um ihren Schaffensprozess geht. In VR kann man selbst ein Fahrrad oder ein Auto in Originalgröße designen, was am Computerbildschirm nicht möglich ist. Sonst fängt man in 2D an, macht dann ein 3D-Design daraus, dann baut man vielleicht ein Vorführmodell in Originalgröße. Viele dieser Schritte fallen weg. Bei unserem VR-Stift haben wir darauf geachtet, dass man sehr feine Linien in die Luft zeichnen kann und sehr akkurat arbeiten kann.
Die immersive Kreation in VR eröffnet außerdem eine ganz neue Dimension: Denn man kann seine Erfahrung mit anderen Menschen teilen. In VR können Kollegen oder die eigene Community beim Entstehungsprozess unmittelbar dabei sein. Sie müssen nicht warten, bis das nächste Modell, das am Bildschirm entworfen wurde, fertig ist. Mir geht es wirklich darum, so neue Formen der kreativen Zusammenarbeit zu ermöglichen – und vielleicht sogar ganz neue Formen, um gemeinsam Kunst zu erleben.
Dennoch klingt das wieder mehr nach einer lukrativen Nische als nach Mainstream. Was aber, wenn in zehn Jahren alle Menschen rund um die Uhr AR-Brillen tragen? In den Konzeptvideos einiger Brillenhersteller sieht man schon jetzt virtuelle Tastaturen, die dann zum Einsatz kommen könnten. Was ist mit Stiften?
Nobu Ide: Ich gehe zwar nicht davon aus, dass die Menschen dann ihr Textnachrichten immer mit virtuellen Stiften in die Luft schreiben. Vielleicht gibt es dann intuitive kurze Bewegungen, mit denen wir durch die Programme navigieren. Doch wir arbeiten daran, dass unsere Stifte auf jeden Fall auch in AR eine neue kreative Erfahrung bieten werden. Dabei geht es dann ja ebenfalls um zeichnen, malen und schreiben in der Luft.
Zu viele Details kann ich noch nicht verraten, aber wir arbeiten an neuen Wegen, damit unsere Nutzer beim Arbeiten in der Luft Feedback bekommen, das über das Vibrieren der Geräte hinausgeht, wie man es von den Controllern von Spielekonsolen kennt. Dafür experimentieren wir mit verschiedenen Formen von Neurofeedback.
Gab es denn bei Wacom auch schon Experimente mit Gehirn-Computer-Schnittstellen, also mit Geräten, die zum Beispiel über Elektroden Gehirnströme messen?
Nobu Ide: Ja, tatsächlich. Wir haben einen Prototypen für das Schreiben wirklich gefühlvoller Briefe entwickelt. Die Daten aus dem Stift wurden dabei mit der Messung der Gehirnströme verknüpft. Wenn ich also ein paar Zeilen an meine Frau schreibe, in der ich ihr für alles danke, was sie jeden Tag für mich tut, und ich in dem Moment wirklich so empfinde, wird der Text in einer warmen Farbe dargestellt. Sind die Gefühle allerdings nicht echt, wird auch das zu sehen sein.
Wenn das Internet die Wahrheit sagt, steckt im Namen Wacom das japanische Wort für Harmonie: Wa. Was soll harmonisch sein an einem digitalen Stift?
Nobu Ide: Als die Firma vor fast 40 Jahren gegründet wurde, war das Ziel, Technologien zu entwickeln, die das Zusammenspielen von Menschen und Computern harmonisieren sollten. „Com“ stand also für Computer. Heute streben wir immer noch Harmonie an, aber das „Com“ steht eher für Kommunikation und Community. Wir wollen die Menschen dabei unterstützen, noch besser miteinander zu kommunizieren.
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