Ein Interview von Krischan Lehmann
Thomas Baekdal ist seit den späten 90er Jahren als Experte für die digitale Transformation von Unternehmen tätig. Im Jahr 2004 gründete er Baekdal Media, eine Mischung aus Online-Magazin und Strategieberatung. Zu seinen Kunden gehören große Medienunternehmen wie Schibsted, Condé Nast, Haymarket, Bonnier und Google. In traditionellen Business-Meetings wird man ihn aber niemals antreffen. Er kommuniziert – wie auch in diesem Interview – am liebsten über Email und schreibt seine Texte und Analysen gerne mitten in der Natur, bevorzugt an einem einsamen See in Dänemark.
1E9: In seinem Vortrag bei unserer ersten 1E9-Konferenz sprach der KI-Forscher Joscha Bach von der Masse an Dopamin, die bei der Nutzung digitaler Medien ausgeschüttet wird und „unsere Aufmerksamkeit weg von der Relevanz hin zum Engagement lenkt“. Wie siehst du die Medien im digitalen Zeitalter?
Thomas Baekdal: Das ist eine schwierige Frage, weil dies von Medium zu Medium und von Land zu Land sehr unterschiedlich ist. Es gibt einige Verlage und Zeitungen, die total in einem dopamingetränkten Nachrichtenzyklus gefangen sind. Allerdings bin ich kürzlich auf ein Video von Brian Stelter von CNN gestoßen, der davon spricht, dass wir keine Nachrichtenzyklen mehr haben, sondern jetzt eher in Schockzyklen leben:
Aber im Großen und Ganzen denke ich, dass wir ein anderes Problem haben. Ray Kurzweil hat das auf einer Konferenz im Jahr 2016 so zusammengefasst:
Die Leute denken, dass die Welt schlimmer wird, und wir sehen das im politisch linken wie rechten Lager und in vielen verschiedenen Ländern. Die Leute denken, dass die Welt immer schlimmer wird. (…) Das ist die Wahrnehmung. Aber tatsächlich werden nur unsere Informationen darüber, was in der Welt falsch läuft, immer besser. Vor einem Jahrhundert hätte es eine Schlacht geben können, die das Nachbardorf auslöscht, und man hätte nie davon gehört. Heute gibt es einen Vorfall irgendwo auf der Welt und wir hören nicht nur davon, wir erleben es mit.
Ich denke, das beschreibt das Problem genauer. Wir leben heute in einer Welt, in der wir so viele Nachrichten von so vielen Orten in einer solchen Detailtreue bekommen, dass wir diese gar nicht mehr als Nachrichten wahrnehmen. Wir reagieren lediglich darauf. Und darüber hinaus haben wir die Nachrichten so optimiert, dass sie in immer kürzeren Formen von Snacks funktionieren.
Das Resultat ist eine Medienlandschaft, in der unsere Medienmarken nicht mehr mitkommen. Und so kriegen wir keine tatsächlichen Informationen mehr, sondern nehmen all diese Geschichten einfach als eine Art Geräusch wahr. Wir leiden schlicht unter Überlastung.
Dann treten wir doch mal einen Schritt zurück und sehen uns die Medien aus der Vogelperspektive an. Welche großen Trends siehst du derzeit? Auf welche Art von Internet steuern wir zu? Und vor allem: Wer sitzt am Steuer?
Thomas Baekdal: Hm, darüber könnte ich tagelang schreiben, ohne zum Kern der Sache zu kommen. Denn die Realität heute ist, dass die Medien fragmentiert sind und verschiedene Teile der Medien auf ihre ganz eigenen Trends reagieren.
Um mal ein paar Beispiele zu nennen: Ich habe erst kürzlich über die Veränderungen in der Zeitschriftenbranche geschrieben, wo ich darüber sprach, warum Verlage wie Popular Photography schließen mussten. Einer der Hauptgründe ist, dass wir heute – anstatt uns von Journalisten über Fotografie erzählen zu lassen – professionellen Fotografen auf YouTube folgen können, die uns selbst mit Tipps und Einblicken versorgen.
Das ist eine drastische Veränderung und etwas, mit dem Journalisten nur schwer konkurrieren können. Warum sollten wir auf Zwischenhändler hören, wenn wir direkt zu den Experten gehen können?
Einen weiteren großen Trend sehen wir z.B. in der Welt der Fitness, wo es immer weniger um Publishing und immer mehr um tatsächliches Training geht. Während traditionelle Fitness-Verlage immer noch über Fitness schreiben, stellt inzwischen jeder YouTube-Fitnesskanal Videos bereit, die den Menschen helfen, selbst Fitness zu machen. Sie schreiben also nicht über Fitness, sie tun es. Das ist eine weitere massive Trendwende.
Oder nehmen wir Webseiten zum Thema Wirtschaft und Business, wo wir gerade großes Wachstum bei hochspezifischen Nischen-Verticals sehen. Anstatt eine große Wirtschaftszeitung für alles zu machen, gibt es neue Business-Websiten nur für Reedereien, eine nur für Anwälte, für Immobilienmakler usw.
Und auch die Video-Streaming-Welt funktioniert zunehmend so. Hier gibt es ein massives Wachstum bei den General Interest-Anbietern, aber auch Hunderten von kleinen, spezialisierten und klar fokussierten Playern.
Das Internet atomisiert also alles, was wir früher „Medienindustrie“ nannten, und ich glaube nicht, dass es jemand steuert.
Eines der beeindruckendsten Merkmale des Internets ist sicherlich seine Tendenz, eine Branche nach der anderen zu demokratisieren. Am laufenden Band bringt es neue Programmierer, Designer, Verkäufer, Autoren, Verleger, Fotografen, Musiker, Liveberichterstatter, Podcaster, „Maker“ usw. hervor – und dies in einem immer schnelleren Tempo. Nimmt man jetzt noch die Netzwerkeffekte und die steigende Rechenleistung hinzu, erhält man einen exponentiell wachsenden Strom an Innovationen. Wie viel Neues kann die Menschheit eigentlich verkraften?
Thomas Baekdal: Darüber kann man auf vielerlei Arten nachdenken. Natürlich bekommen wir gerade überall mit, dass Menschen mit dem ständigen Wandel wirklich zu kämpfen haben. Aber auf der anderen Seite wird die nächste Generation das alles als völlig normal betrachten.
Ich hatte vor kurzem eine ähnliche Diskussion im Zusammenhang mit dem Video-Streaming. Ein Medienmanager hat mich gefragt, wie viele Streaming-Kanäle sich die Leute wohl merken können. Er glaubte, dass wir bald an eine natürliche Grenze stoßen werden. Meine Antwort aber war, doch einfach einmal auf YouTube oder Twitch zu schauen. Hier gibt es Tausende von Kanälen und jeden einzelnen Tag kommen neue hinzu. Die Leute wählen einfach das aus, was sie wollen. Die Menge der Kanäle ist für sie gar nicht das Problem.
Oder denkt mal an Spotify, wo ihr Millionen verschiedener Songs hören könnt, ohne jemals überhaupt darüber nachzudenken, dass man eine Wahl trifft.
Andererseits haben wir aber auch das Problem, das ich vorhin schon in bezug auf Nachrichten angesprochen habe: Dass es den Leuten oft schwer fällt zu entscheiden, worauf sie sich wirklich konzentrieren sollen.
Es geht also eigentlich nur darum, wie wir den Wandel gestalten. Zu viele neue Dinge zu haben ist nur ein Problem, wenn wir denken, dass wir sie alle gleichzeitig machen müssen, oder wenn es so wenig Unterschiede zwischen ihnen gibt, dass wir nicht wissen, was wir auswählen sollen.
Du musst ja selbst aus beruflichen Gründen immer an vorderster Front dabei sein. Wie gehst du mit dem stetigen Wandel um?
Thomas Baekdal: Früher habe ich versucht, über alles auf dem Laufenden zu bleiben, indem ich mir für jede Kleinigkeit Ordner auf dem Rechner angelegt habe – was aber schnell nicht mehr zu managen war. Heute bleibe ich up to date, indem ich es gar nicht erst versuche. Stattdessen notiere ich die Trends und die Muster dessen, was ich sehe, und setze dann da an. Aber ich konzentriere mich eben nicht mehr auf die Details. Wenn ihr mich zum Beispiel fragt, wie es einem bestimmten Medienhaus gerade geht, könnte ich mich vermutlich nicht erinnern. Aber wenn ihr mich fragt, welchen Trendmustern ein bestimmter Teil der Medienwelt gerade folgt, würde ich es wissen.
Lass uns mal über Online-Werbung und die Monetarisierung von digitalen Medien sprechen: In einem deiner letzten Newslettern hast du die derzeitige Ad-Tech-Landschaft analysiert, die - wie du gezeigt hast - ja bereits 2010 so aussah:
Du hast verschiedene Studien zitiert, nach denen mittlerweile zwischen 40 und 70% der Werbeumsätze bei diesen neuen Ad-Tech-Mittelsmännern landen. Aus Perspektive der Medienhäuser ist das ein Desaster. Welchen Ausweg siehst du für die Publisher?
Thomas Baekdal: Ich glaube nicht, dass sich in absehbarer Zeit an dieser Situation etwas ändert. Aber ich hoffe, dass die Verlage endlich erkennen, dass wir ein völlig neues Werbemodell brauchen. Wir müssen ein Modell bauen, bei dem wir Publisher den Ad-Tech-Firmen sagen können, auf welche Weise sie Werbung ausspielen und wen sie adressieren sollen, anstatt ihnen unsere ganzen Daten zu geben und sie alles kontrollieren zu lassen.
Traditionelle Medienhäuser kritisieren Facebook, Google und andere Plattformanbieter oft, weil sie mit den Daten ihrer Nutzer Geld verdienen. Gleichzeitig haben sie selbst Dutzende von Daten-Trackern auf ihren Seiten verbaut. Wie beurteilst du das?
Thomas Baekdal: Um es kurz zu machen: Es ist einfach nur peinlich. Und ich schreibe darüber jetzt schon eine ganze Weile. Es gibt derzeit eine ganze Menge Dinge, die wir als Verleger anderen verbieten wollen, aber dann selbst tun. Nehmen wir zum Beispiel das Urheberrecht: Die Verleger sagen, dass Google illegal handelt, indem es ihre Artikel indexiert und sie in den Suchergebnissen verlinkt. Aber täglich berichten Zeitungen Geschichten, die sie in anderen Zeitungen gefunden haben – oft ohne irgend etwas Neues hinzuzufügen.
Oder schaut euch an, wie viele Verlage Facebook auffordern, irreführende Anzeigen zu entfernen, während sie es auf ihren eigenen Seiten auch nicht tun. Es ist wirklich nur noch peinlich, da zuzusehen.
Du hast auf deiner eigenen Seite schon vor vielen Jahren ein Bezahlmodell für deinen Content eingeführt. Zahlende Leser können deine Analysen kostenlos sharen und werden dann sogar als „Präsentatoren“ namentlich im Artikel genannt. Hat sich diese Strategie ausgezahlt? Wie viele „Freerider“ konntest du in zahlende Kunden verwandeln?
Thomas Baekdal: Nun, das ist schwer zu beurteilen, denn ich kann nicht messen, wie viele User, die einen Artikel kostenlos gelesen haben, weil er von einem Abonnenten geteilt wurde, später wiederkommen, um selbst ein Abo abzuschließen. Aber in den ersten Jahren (2010-2013) war das sicherlich die Hauptquelle für das Wachstum meines Geschäfts. Denn nur so konnten neue Leser einen Vorgeschmack davon bekommen, wie meine kompletten Plus-Artikel wirklich waren.
Heute sind es viele verschiedene Faktoren, und das Sharing funktioniert viel schlechter als vorher, weil sich die sozialen Medien stark verändert haben und die Leute ihrer überdrüssig geworden sind. Akquisitionen über meinen Newsletter und Probeabos machen heute vermutlich den Löwenanteil meines Wachstums aus.
Du beschäftigst dich viel mit den Daten und den Metriken, die die digitalen Medien nutzen, um ihre Erfolge zu messen. Nicht selten kommst du in deinen Analysen zu dem Schluss, dass Medien die völlig falschen Dinge messen. Außerdem zeigen unsere Daten ja immer nur das, was wir schon haben und was bereits passiert ist – was im Journalismus oft zu einer „Lasst uns mehr vom Alten machen“-Mentalität führt. Gibt es also überhaupt eine Wahrheit in den Daten? Und welche Metriken sollten die Medien heute verwenden, um relevant zu bleiben?
Thomas Baekdal: Gibt es eine Wahrheit in den Daten? Ja, absolut. Aber eben nur, wenn wir uns die richtigen Kennzahlen ansehen. Einen solchen Fall behandle ich gerade in meinem nächsten Podcast. Ich spreche darüber, wie wenig „Likes“ zur Bewertung der Realität taugen. Nehmt zum Beispiel einen Nachrichtenartikel über einen Autounfall, der stundenlang eine Straße blockiert. Und jetzt stellt euch vor, man würde die Leute bitten, einen solchen Artikel entweder zu liken oder eben nicht zu liken. Was würde passieren?
Da es sich um einen Autounfall handelt, der eine Straße blockiert, auf der die Leute fahren wollen, würde fast jeder diese Geschichte mit einem „Daumen runter“ bewerten. Aber wenn man über den Wert dieses Artikels nachdenkt, der die Menschen ja darüber informiert, dass eine Straße blockiert ist, kommt man zu einem ganz anderen Schluss, nämlich dass es hier durchaus um wertvolle Informationen geht. Dies ist eines von vielen Beispielen dafür, wie das Messen der falschen Kennzahlen zu falschen Ergebnissen führen kann. Der Schlüssel zu jeder Form der Messung besteht also darin, zu verstehen, was den tatsächlichen Wert für den User ausmacht, und dann zu identifizieren, welche Metriken dies erfassen.
Deshalb würde ich immer versuchen, den tatsächlichen Wert zu messen, nicht die Aktivität allein. Messt zum Beispiel den Umsatz der Leser pro Artikel anstatt nur die Anzahl der Views. Und messt auch die Metriken, die tatsächliche Entscheidungen der User tracken, und nicht nur Menschen, die auf zufällige Dinge klicken.
Die eine Erfolgsmetrik gibt es im Publishing aber leider nicht. Es hängt immer davon ab, welche Art von Publisher du bist und was du konkret vorhast.
Du stammst aus Dänemark und lebst dort, betonst aber immer wieder, dass du dich als Kosmopoliten siehst, der ein globales Geschäft betreibt. Kürzlich hast du einmal bedauert, dass es immer noch verschiedene Sprachen auf der Erde gibt, da das Wesen der Sprache ja eigentlich die Kommunikation zwischen den Menschen ist. Wenn sich die Menschen nicht verstehen können, versagt die Sprache. Auch durch politische Ansichten und Tribalismen sind die Menschen voneinander getrennt. Es gibt im Internet keine Bürgerschaft, die die Menschen eint. Im Gegenteil: Der Nationalismus erlebt eine Renaissance. Wenn wir uns also eine optimistische Sicht auf die Welt bewahren und das Internet als ein großartiges Instrument betrachten wollen, das die Welt zu einem besseren Ort machen kann, was sollte dann getan werden, um uns Menschen näher zusammenzubringen?
Thomas Baekdal: Hierzu würde ich gerne zwei Sachen sagen.
Erstens: Ja, das ist ein großes Problem. Hier in Europa zum Beispiel bräuchten wir wirklich ein großes europäisches Medium, das nicht aus einem Land stammt, welches sich gerade aus der europäischen Gemeinschaft ausklinkt.
Ich würde gerne aus europäischer Sicht über den Brexit lesen können, aber wir haben eben nur nationale Zeitungen, die in ihrer Muttersprache veröffentlichen, und der Guardian reicht nicht, weil er eben aus England kommt.
Zweitens: Wir tun das bereits. Das Internet bringt die Menschen jeden Tag näher zusammen. Es sieht vielleicht nicht so aus, wenn wir die Nachrichten lesen, aber schaut euch so etwas wie YouTube an. Jeden Tag sehen Menschen Videos aus der ganzen Welt über tausend verschiedene Dinge. Menschen interagieren mit anderen Menschen aus verschiedenen Kulturen. Wir machen das alles schon.
Wir haben im Moment allerdings eine Generation, die damit nicht gut zurechtkommt. Das hat man beim Brexit sehr deutlich gesehen. Wenn wir uns ansehen, wie die Menschen abgestimmt haben, segmentiert nach Alter, wird ein dramatischer Unterschied sichtbar:
Ich glaube also nicht, dass wir wirklich etwas tun müssen. Nehmt die obige Grafik und verschiebt sie eine Generation vorwärts. Was wird passieren? Nun, das wird passieren:
Was wir also gerade erleben, ist der letzte Schrei der älteren Generationen, die mit der Idee einer globalen Welt nicht umgehen können. Aber das wird bald enden.
Als kleinen Bonus für 1E9-Leser stellt Thomas seinen neuesten Report inklusive Podcast übrigens kostenlos zur Verfügung: Hier geht es um Unit Economics und Relevanzmetriken im Journalismus, ein Thema, das für unseren @Journalismus -Zirkel sehr relevant sein dürfte. Viel Spaß beim Hören und Lesen!
Titelbild: Julius Drost / Grafiken: Baekdal.com