Dem Video-Netzwerk TikTok droht in den USA ein Verbot, wenn es nicht von seinem chinesischen Eigentümer an ein anderes Unternehmen verkauft wird. Bisher scheint der Entwickler ByteDance jedoch nicht nach einem Abnehmer zu suchen – obwohl es mehrere Interessenten gibt. Was also, wenn TikTok in den USA tatsächlich verboten wird?
Von Michael Förtsch
Im April hat der US-Senat ein Gesetz verabschiedet, das den Verkauf von TikTok an einen nicht-chinesischen Betreiber erzwingen soll. Andernfalls droht dem Video-Netzwerk ein Verbot in den USA. Die von der chinesischen Firma ByteDance entwickelte App ist mit rund 1,7 Milliarden Nutzern weltweit eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Social-Media-Plattformen überhaupt. In den USA wird sie von 170 Millionen Menschen genutzt, das ist fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung. US-Geheimdienste, Politiker, aber auch unabhängige Sicherheitsexperten sehen darin eine Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten. Denn ByteDance soll wie andere große chinesische Technologieunternehmen eng mit der autokratisch regierenden Kommunistischen Partei Chinas verbandelt sein.
Zwar wird die westliche Version der im Original Douyin genannten App mit TikTok Ltd. bereits von einem Unternehmen mit Sitz in Singapur und Los Angeles betrieben. Diese befindet sich jedoch im Besitz der Entwicklerfirma in Peking. Daher besteht die Befürchtung, dass beispielsweise Nutzerdaten an chinesische Behörden weitergegeben werden könnten. Oder dass über die App gezielt Desinformationskampagnen betrieben und Einfluss auf die gesellschaftliche, kulturelle und politische Stimmung genommen werden könnte – nicht nur in den USA, sondern in allen Teilen der Welt, in denen TikTok genutzt wird. Die Technologie hinter TikTok basiert weitgehend auf Künstlicher Intelligenz. Die Entscheidung darüber, welche Videos an wen und in welchem Umfang verbreitet werden, erfolgt automatisiert und wird von einem komplexen Algorithmus gesteuert.
Das Unternehmen bemüht sich seit Jahren, die Befürchtungen in Bezug auf politische Einflussnahme und einen Datenabfluss nach China zu zerstreuen. Bereits 2020 drohte die Abschaltung von TikTok. Daraufhin verpflichtete sich das Unternehmen, im Rahmen des Project Texas die Daten amerikanischer Nutzer ausschließlich auf Servern in den USA zu speichern und den Empfehlungsalgorithmus, der TikTok so erfolgreich macht, hinter verschlossenen Türen für Experten transparent zu machen. Tatsächlich gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass die chinesische Führung nachhaltigen Einfluss auf TikTok nimmt.
Dennoch scheint das Misstrauen nicht ganz unbegründet. Erst im Dezember 2022 wurde bekannt und von TikTok bestätigt, dass ByteDance-Mitarbeiter die TikTok-App genutzt haben, um Bewegungsprofile von Journalisten zu erstellen, die über TikTok berichteten. Damit hofften sie, deren Informationsquellen aufzudecken. Ziel waren unter anderem die Buzzfeed-Autorin Emily Baker-White und die Financial-Times-Reporterin Cristina Criddle.
Ein geopolitisches Signal
Bis zum 19. Januar 2025, dem letzten Tag der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden, muss TikTok den Besitzer wechseln. Wird die Video-App bis dahin nicht verkauft, könnte sie aus allen US-App-Stores verschwinden. TikTok scheiterte in der zweiten Dezemberwoche mit einer Klage gegen das Gesetz, das den Verkauf erzwingen soll. Die Anwälte von TikTok hatten sich auf den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung berufen, der die Redefreiheit garantiert. Doch das Gericht wertete die Interessen der nationalen Sicherheit höher. Eine letzte Chance sieht TikTok nun offenbar in einem Eilantrag an den Supreme Court, dem höchsten Gericht der Vereinigten Staaten. Damit soll zunächst ein Aufschub der Frist erreicht werden.
Sollte der Termin verrückt werden, würde der Fall TikTok in die Amtszeit von Donald Trump fallen. Dieser hatte im November erklärt, er werde „TikTok retten“. Trump hatte sich auch zuletzt sehr positiv über die App geäußert. Sie habe „einen warmen Platz in meinem Herzen“, sagte er. Konkret bestätigen, dass er versuchen werde, den Verkauf und ein mögliches Verbot zu verhindern, wollte er zuletzt aber nicht mehr.
Bislang gibt es laut Branchenbeobachtern keine Anzeichen dafür, dass ByteDance einen Käufer für TikTok sucht. Vielmehr wolle das Unternehmen seinen Dienst in den USA eher einstellen als verkaufen, wurde berichtet. Auch weil es wohl Druck von der Regierung in Peking gibt, die den einflussreichen Dienst nicht in den Händen von US-Unternehmen sehen will. TikTok ist eine chinesische Erfolgsgeschichte und damit auch ein geopolitisches Signal. Fraglich ist auch, wer die App übernehmen könnte – und in welchem Umfang.
Denn falls ByteDance einen Verkauf in Erwägung ziehen sollte, ist unklar, ob nur das von einem Verbot bedrohte US-Geschäft veräußert werden soll oder auch andere englischsprachige Regionen wie Kanada, Australien und Neuseeland. Oder ob die gesamte westliche TikTok-App veräußert werden könnte. Beteuert hat ByteDance aber bereits, dass der Empfehlungsalgorithmus nicht in fremde Hände fallen dürfe und könne. Denn dieser sei geistiges Eigentum von ByteDance selbst und nur an die Tochterfirma TikTok Inc. lizenziert. Wer TikTok kauft, kauft den Algorithmus nicht mit, sondern müsste ihn wohl separat lizenzieren oder einen eigenen entwickeln.
Verschiedene Erhebungen schätzen den Wert von TikTok aber auch ohne Algorithmus und je nach Geschäftsregion auf 15 bis 45 Milliarden Euro. Viele Unternehmen, die solche Summen, die Infrastruktur für einen reibungslosen Weiterbetrieb und die Kapazitäten für die Entwicklung eines eigenen neuen Algorithmus aufbringen könnten, gibt es nicht. 2020 hatten aber unter anderem Google, Microsoft, Walmart, Softbank und Oracle Interesse an einer Übernahme von TikTok bekundet. Auch Netflix, der Immobilienmilliardär Frank McCourt und ein Konsortium um den ehemaligen Chef von Activision-Blizzard, Bobby Kotick sollen im Falle eines Verkaufs ein Gebot in Erwägung ziehen.
Was ist mit den Nutzern in der EU?
Ein Verkauf oder Verbot von TikTok würde nicht nur die USA, sondern auch die Europäische Union betreffen. Denn die Europäische Kommission hat gerade ein Verfahren gegen TikTok eröffnet. Es soll geprüft werden, ob die Plattform genug gegen die Einmischung ausländischer Akteure bei den jüngsten Wahlen in Rumänien unternommen hat. Laut Ermittlern soll es einen „aggressiven hybriden Angriff“ auf die Wahlen aus Russland gegeben haben, weshalb die Ergebnisse annulliert werden mussten. Auch der Umgang der Plattform mit politischer Werbung und bezahlten politischen Inhalten steht zur Debatte. Um Klarheit zu bekommen, müsste das Empfehlungssystem untersucht werden.
TikTok hatte nach eigenen Angaben zwischen Februar und Juli 2024 durchschnittlich 150 Millionen aktive Nutzer in der EU – davon rund 22,9 Millionen in Deutschland. Europa ist damit fast genauso wichtig wie die USA. Sollte das Geschäft in der Europäischen Union ebenfalls verkauft werden, würde sich auch für User in Europa einiges ändern – vor allem das Nutzererlebnis auf der Plattform, wenn der neue Eigentümer einen eigenen Empfehlungsalgorithmus entwickelt. Sollte TikTok hingegen in den USA verboten werden, weil kein Verkauf erfolgt, würde sich an der grundsätzlichen Nutzung der App in der EU wahrscheinlich nichts ändern.
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Jetzt Mitglied werden!Der Umfang der Inhalte könnte sich jedoch drastisch reduzieren. Zwar kann die App von denjenigen, die sie bereits in den USA heruntergeladen haben, weiterhin genutzt werden, doch dürften viele Creator auf andere Plattformen ausweichen – wie etwa Instagram Reels, YouTube Shorts oder gänzlich neue Angebote. Denn mit dem Verbot dürften das TikTok Creator Rewards Program, der TikTok Creator Marketplace und andere Möglichkeiten wegfallen, mit der App Geld zu verdienen.
Sowohl einflussreiche Influencer als auch kleinere Creator befürchten im Falle eines Verbots Umsatzeinbußen. Nicht nur wegen wegfallender Partnerprogramme, sondern auch wegen sinkender Sichtbarkeit. Nicht wenige Unternehmen und Medienmacher in den USA und Europa haben ihr Geschäft auf der TikTok-Viralität aufgebaut. Insbesondere Cafés, Restaurants und Geschäfte in den großen europäischen Hauptstädten buhlen regelmäßig mit schick inszenierten Kurzvideos um Kunden.
Vor allem reichweitenstarke TikToker dürfte infolge eines TikTok-Verbots ihre primären Verbreitungskanäle auf Alternativen verlagern. Derartiges ist in Indien bereits geschehen. Dort wurden TikTok und andere chinesische Anwendungen im Jahr 2020 verboten. TikTok wurde innerhalb weniger Wochen durch lokale TikTok-Klone wie Josh, Moj und Chingari, vor allem aber durch Instagram Reels und YouTube Shorts ersetzt. Da TikTok ohne Nutzer aus den USA eine gewisse kulturelle Relevanz verlieren würde, dürften auch für nicht wenige Nutzer aus der EU andere Plattformen bald interessanter werden, spekulieren Medienexperten. Wenn auch nicht sofort.
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