Das ist keine Selbstverständlichkeit: Mit dem Digitalen Produktpass, kurz: DPP, arbeitet die Europäische Union an neuen Regeln für Unternehmen – und sowohl Umweltaktivisten als auch Lobbyverbände der Wirtschaft können der Idee etwas Gutes abgewinnen. Sie alle sehen das Potenzial der Kreislaufwirtschaft. Und auch für Start-ups wie Loopid aus München könnte der DPP neue digitale Geschäftsmodelle schaffen.
Von Wolfgang Kerler
Habt ihr schonmal Elektrogeräte, Kleidung oder Möbel weggeworfen, anstatt sie zu verkaufen, nur weil sie euch nicht mehr gefallen haben oder etwas in die Jahre gekommen sind? Falls ja, könnte euch – und eurem schlechten Gewissen – demnächst geholfen werden.
Das frisch gegründete Start-up Loopid aus München will den Weiterverkauf von gebrauchten Waren deutlich vereinfachen. Im Idealfall müsst ihr dafür nur noch euer Smartphone ans Produkt halten und einen KI-Sprachassistenten bitten, die Waschmaschine oder Jacke bei einem Online-Marktplatz einzustellen. Die Infos zum Produkt – Alter, Materialien, frühere Reparaturen, Bedienungs- oder Waschanleitungen – sowie aktuelle Preise zieht sich die KI dann automatisch. Möglich machen soll das der DPP bzw. Digitale Produktpass, über den schon in ein paar Jahren alle physischen Produkte verfügen müssen, wenn es nach der Europäischen Union geht.
Damit sollen inzwischen bekannte, deshalb aber nicht weniger besorgniserregende Bilder der Vergangenheit angehören. Auch das Team von Loopid zeigt sie in seinem Start-up-Pitch: Berge von alten Textilien in der chilenischen Atacama-Wüste, haufenweise Elektroschrott in Agbogbloshie, Ghana. Sie veranschaulichen, wie weit die Welt von einer Kreislaufwirtschaft entfernt ist. In Deutschland, dem Land der Mülltrennung, werden nur 13 Prozent des Rohstoffverbrauchs mit Sekundärrohstoffen gedeckt, also mit wiederverwendeten Materialien.
Aktuell wird noch verhandelt, wie genau der DPP der EU funktionieren und welche Daten er enthalten soll. Ziemlich sicher dürfte es sich am Ende jedoch um einen QR-Code oder einen RFID-Chip auf oder im Produkt handeln, über den Informationen zur Reparierbarkeit, zu Materialien, Inhaltsstoffen und Ersatzteilen, zur Nachhaltigkeit, zum Hersteller sowie zur richtigen Entsorgung auf einer Webseite abgerufen werden können. Das soll nicht nur mehr Transparenz für Verbraucher und Unternehmen schaffen, sondern auch Reparatur, Recycling und Weiterverkauf erleichtern.
Verschiedene Firmen arbeiten bereits an digitalen Lösungen, mit denen Hersteller ihre Waren mit einem DPP ausstatten können. Auch Loopid gehört dazu. Doch das Start-up will es nicht dabei belassen – und entwickelt zusätzlich digitale Services, die auf dem DPP aufbauen. Pfand- und Rücknahmesysteme kann sich das Team vorstellen, genau wie die oben beschriebene Wiederverkaufs-Plattform. Auch Reparaturen in Fachbetrieben oder die Echtheit von Produkten sollen mit der Software von Loopid ergänzend zum DPP erfasst werden. „Das sind Dinge, wie wir sie vom Auto kennen“, erklärt Christian Adler, einer der Loopid-Gründer. „Wenn Sie einen Gebrauchtwagen kaufen, erwarten Sie vom Vorbesitzer, dass er sein Scheckheft gepflegt hat.“
Am Ende will Loopid alle Player vernetzen, die in einer Kreislaufwirtschaft zusammenarbeiten müssen. Möglichst viele „Rs“ sollen dann zum Standard werden: von Reduce über Resell, Repair und Refurbish bis zu Recycling. Insgesamt sieht Loopid an die 30 mögliche Anwendungsfelder. „Recycling ist dabei immer der letzte Schritt, wenn nichts anderes geht“, sagt Christian Adler. „Denn bei uns in Deutschland heißt Recycling in vielen Fällen thermische Verwertung. Thermische Verwertung ist letztendlich Verbrennung.“ Schon in ein paar Jahren werde es für Unternehmen aber zum echten Wettbewerbsnachteil, weiterhin auf lineare, nicht auf zirkuläre Geschäftsmodelle zu setzen.
Lobbyisten und Aktivisten haben den DPP schon auf dem Schirm
Der DPP könnte eine große Sache werden, nicht nur aus Sicht von ein paar Start-ups. Das lässt sich daran erkennen, dass sich Lobbyisten, Aktivisten, NGOs und Verbände längst in Stellung bringen, obwohl er in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wird. Nichtregierungsorganisationen wie Germanwatch oder der Umwelt-Thinktank Wuppertal Institut sehen im Digitalen Produktpass großes Potenzial, schaffe er doch die Voraussetzung für eine echte Kreislaufwirtschaft. Und die Wirtschaft? Die äußert sich ebenfalls optimistisch, warnt jedoch vor zu großem Verwaltungsaufwand.
Dass sich Unternehmen und Verbände vor zu viel Bürokratie sorgen, lässt sich dabei durchaus nachvollziehen. Schließlich ist der Digitale Produktpass ein zentraler Baustein der von der EU geplanten Ökodesign-Verordnung beziehungsweise Ecodesign for Sustainable Products Regulation, kurz: ESPR, die wiederum Teil des Europäischen Green Deals und des Circular Economy Action Plans, kurz: CEAP, ist, gleichzeitig aber auch zur Sustainable Product Initiative, kurz: SPI, gehört. Viele neue Regeln gleichzeitig: Das birgt die Gefahr von Parallelstrukturen oder von Daten, die mehrfach und in unterschiedlicher Form erfasst werden müssen.
Doch abgesehen davon betonen auch Positionspapiere und Stellungnahmen aus der Wirtschaft die Chancen des DPP. Der Bundesverband der Deutschen Industrie unterstützt die Zielsetzung der EU „aktiv“, der Verband der Chemischen Industrie sieht in einem effektiv gestalteten DPP „einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit der Wirtschaft“, der Branchenverband Bitkom nennt neben den Herausforderungen auch die Chancen des DPP.
Zur Offenheit gegenüber DPP und Kreislaufwirtschaft dürften sicherlich die Krisen der vergangenen Jahre beigetragen haben, die vielen Unternehmen vor Augen führten, wie fragil ihre Lieferketten sind – von der COVID-Pandemie über die Blockade des Suezkanals durch das Containerschiff Ever Given bis zur Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Mehr Kreislaufwirtschaft bedeutet weniger Bedarf an frischen Rohstoffen und damit weniger Abhängigkeit von globalen Lieferketten.
Dezentral und langlebig: Blockchains und DPPs
Die technischen Standards und Mindestanforderungen für DPPs sind noch nicht definiert. Doch das Start-up Loopid, das schon kurz nach seiner Gründung vom Chiphersteller Infineon unterstützt wird, hat sich bereits eigene Gedanken gemacht. Außer für Waren mit sehr geringem Wert hält das Team es für den besten Ansatz, die Daten des Digitalen Produktpasses dezentral zu sichern. „Wir nutzen daher eine Kombination aus IPFS und Blockchain“, erklärt Mitgründer Alex Gamboa im Gespräch mit 1E9.
Hinter dem Kürzel IPFS verbirgt sich das InterPlanetary File System, eine Art dezentrale Datenbank, um Dateien zu speichern. Dort sollen die Informationen gesichert werden. Auf einer öffentlich einsehbaren Blockchain werden dann Verweise auf diese Daten eingetragen. „Der Hauptgrund dafür ist die Persistenz, also die Beständigkeit“, sagt Alex Gamboa.
Da sowohl das IPFS als auch Blockchains nicht auf zentralen Servern einzelner Unternehmen, sondern auf einem verteilten Netzwerk vieler Rechner basieren, sei es eher gewährleistet, dass die Daten des DPP dauerhaft zugänglich seien. Genau wie es die EU verlangen werde. „Die Daten sollten auch dann noch verfügbar sein, wenn in 20 Jahren irgendjemand auf einem anderen Kontinent das Produkt scannt.“ Selbst wenn es den Hersteller gar nicht mehr gebe.
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Jetzt Mitglied werden!Die Blockchain biete darüber hinaus noch einen Vorteil: erleichterte Interoperabilität. Da die Daten dort öffentlich einsehbar sind, könnten auch die Entwickler anderer Dienste, nicht nur Loopid, darauf zugreifen. „Wir können nicht alle Lösungen selbst bauen, aber wollen möglichst viele zirkuläre Geschäftsmodelle ermöglichen“, so Alex Gamboa. Daher werde das Start-up einen Teil seiner Entwicklungen auch als Open-Source-Software veröffentlichen.
Für eine Produktkategorie – für Batterien – werden DPPs schon ab 2027 vorgeschrieben sein. Ab 2030 könnten dann Textilien, Elektrogeräte und andere Waren folgen. Loopid will mit seinen digitalen Lösungen aber schon früher auf den Markt gehen, schließlich könnten Unternehmen auch schon vor der gesetzlichen Pflicht auf Kreislaufwirtschaft setzen. Freiwillig. Und tatsächlich passiert das bereits: vom Matratzenhersteller bis zur Kosmetikmarke starten erste Firmen mit eigenen DPP-Experimenten.
Titelbild: Michael Förtsch mit DALL-E 3
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