Der Frust über Spitzenpolitiker – in den USA, aber auch in Deutschland – ist groß. Mut, Urteilsvermögen, Integrität und Hingabe: Die vier Eigenschaften, die John F. Kennedy einst als Basis für verantwortungsvolle „Leadership“ benannte, scheinen in Vergessenheit zu geraten. Dabei sollten wir sie von Regierenden einfordern, meint Thomas Lange. Unsere eigene Verantwortung sollten wir dabei nicht vergessen.
Von Thomas Lange
Alle Augen sind dieser Tage auf die USA gerichtet: Wer wird Joe Biden ins Weiße Haus nachfolgen? Eine Schicksalswahl, die weit über Amerika hinaus wirken wird. Denn zumindest einem der Präsidentschaftskandidaten würde man aus hiesiger Sicht sicherlich alle Qualitäten abschreiben, die man von einem verantwortungsvollen „Anführer der freien Welt“ erwarten würde.
Wie die Zeiten sich ändern. Nur wenige Tage bevor John F. Kennedy seinerzeit als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde, hielt er eine viel beachtete Rede über die besondere Verantwortung der Regierenden in herausfordernden Zeiten. Sie ist als „City Upon a Hill Speech“ in die Geschichte eingegangen und greift die zum Gründungsmythos der USA gehörende Idee einer vorbildlichen Gemeinschaft auf, die anderen als Leuchtturm dienen kann – wie eine „Stadt auf einem Hügel“, auf die alle Augen gerichtet sind.
Aber was zeichnet verantwortungsvolle „Leader“ in schwierigen Zeiten aus? Für Kennedy sind es vor allem vier Eigenschaften.
Erstens: Mut. Verantwortungsvolle Leader hätten den Mut, Gegnern – und notfalls auch den eigenen Verbündeten – die Stirn zu bieten. Den Mut, öffentlichem Druck und privater Gier zu widerstehen.
Zweitens: Urteilsvermögen. Verantwortungsvolle Leader bildeten sich ein scharfsinniges Urteil über unsere Zukunft und die Vergangenheit. Über die eigenen Fehler und die Fehler anderer. Sie besäßen die Weisheit zu wissen, dass wir nicht alles wissen – und genug Aufrichtigkeit, dies auch zuzugeben.
Drittens: Integrität. Verantwortungsvolle Leader ließen weder die eigenen Prinzipien im Stich, noch die Menschen, die an sie glauben. Sie ließen sich nicht durch materiellen Gewinn und nicht durch politischen Ehrgeiz von der Erfüllung ihres Auftrags ablenken.
Und schließlich: Hingabe. Verantwortungsvolle Leader verpfändeten ihre Ehre weder einem Einzelnen noch einer Gruppe. Und kompromittierten sich auch nicht dadurch, dass sie nur ihre Eigeninteressen verfolgten. Sie dienten vielmehr dem Gemeinwohl und dem Interesse ihres Landes.
Mut, Urteilsvermögen, Integrität und Hingabe – diese Qualitäten können wir mit gutem Recht von den Regierenden erwarten, denen wir unser Vertrauen schenken.
Aber wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Wir sollten auch unsere eigene Haltung hinterfragen – in den Bereichen, in denen wir Verantwortung tragen. In Unternehmen, NGOs, wissenschaftlichen, sozialen oder kulturellen Einrichtungen.
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Sind wir mutig genug, für unsere Überzeugungen einzustehen – auch wenn wir einen „Preis“ dafür bezahlen müssen? Weil wir uns etwa gegen den Mainstream und damit ins Abseits stellen müssen? Konfrontieren wir uns selbstbewusst mit anderen Meinungen und suchen den Dialog mit Andersdenkenden? Reden wir nur über Veränderung und Transformation – oder machen wir auch selbst ernst damit?
Fordern wir kritisches Denken nur von anderen – oder sind wir auch selbst dazu in der Lage? Leugnen wir Fehler – oder lernen wir aus ihnen? Gehen wir souverän damit um, dass es in einer immer komplexeren Welt keine einfachen Antworten auf einfache Fragen gibt?
Und wie steht es um unsere Integrität und Hingabe? Verdienen wir das Vertrauen unserer Kunden, Kollegen und „Stakeholder“, weil wir fair, verlässlich, berechenbar und transparent sind? Weil Reden und Tun für uns zwei Seiten einer Medaille sind? Weil wir über den eigenen Tellerrand hinausblicken und soziale Verantwortung keine Hohlphrase für uns ist?
Es steht viel auf dem Spiel dieser Tage. Es geht – auch hierzulande – um nicht weniger als die Zukunft der Demokratie und der offenen Gesellschaft, die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft – in einer ganz neuen geopolitischen Realität und vor dem Hintergrund immer radikalerer technologischer Revolutionen –, unsere Verteidigungsfähigkeit, den Erhalt unserer Umwelt, die Bekämpfung von Armut und Elend.
Wir alle werden uns von zukünftigen Generationen fragen lassen müssen: Welchen Regierenden haben wir unser Vertrauen geschenkt? Und sind wir selbst – im Rahmen unserer Möglichkeiten – unserer eigenen Verantwortung gerecht geworden?
Dr. Thomas Lange arbeitet seit fast zwei Jahrzehnten an der Schnittstelle von Wirtschaft, Wissenschaft und Politikberatung an Innovations- und Zukunftsthemen. Zunächst als Wissenschaftler am ifo Institut für Wirtschaftsforschung, später als Bereichsleiter bei der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und als Strategiechef beim Aufbau einer nationalen Innovationsagentur nach dem Vorbild der amerikanischen DARPA. Er fungiert als Sherpa für den Zukunftsrat des Bundeskanzlers und ist Mitglied im Expert Network des World Economic Forum. Bei Achleitner Ventures investiert Thomas in vielversprechende Technologie-Startups und ist als Senior Advisor tätig. Er ist promovierter Volkswirt, Certified Private Equity Analyst und Qualifizierter Aufsichtsrat.
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