Teenage kicks in wishful mnemonics

Derzeit geht ein Thread auf Twitter herum, in Leute aufgrund eines TikTok-Teenage-Filters, der sie wieder jung aussehen lässt, ausflippen und in Tränen ausbrechen.


Im Zusammenhang mit einem „Face through time“-Paper schrieb ich in meinem Newsletter: „Diese KI-Anachronismen sind mit die faszinierendsten Dinge, die aus dieser Technologie hervorgehen, wie eine imaginäre Wiedergeburt mit einer Zeitmaschine (…) ich erwarte innerhalb eines Jahres einen voll funktionsfähigen generationalen Face-DeLorean.“ Dieser DeLorean ist gerade gelandet, und die Reaktionen sind zutiefst beunruhigend.

Was bedeutet es, wenn Vergangenheit nicht durch Artefakte aus ihrer eigenen Zeit, wie Fotografien oder Andenken, zurückgerufen wird, sondern durch die Anwendung ihrer visuellen Muster auf die Gegenwart?

Wir haben bereits das Phänomen einer durch Social Media-verursachten verzerrten Selbstwahrnehmung, die als Snapchat-Dysmorphie und Instagram-Face bezeichnet wird und zu einem Boom in der plastischen Chirurgie geführt hat, um Gesichter kompatibler mit Foto-App-Filtern zu machen. Es gibt heute bereits Menschen, die digitale Zwillinge ihrer jugendlichen Vergangenheit aus alten Tagebüchern erstellen, und ich erwarte, dass sich diese Trends weiter verstärken.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf einer gesellschaftlichen Ebene gesund ist, wenn die Vergangenheit nicht in der Vergangenheit bleibt und mit einem Klick auf die Gegenwart angewendet werden kann und das Selbstbild der Menschen verzerrt.

Wir leben heute schon in einer Medienumgebung, die tief atemporal und unendlich ist, in der es keinen Anfang und kein Ende gibt. Die Erzählstrukturen unseres Lebens werden in einem endlosen Strom von Items aus allen Epochen aufgelöst und vermischen sich zu einem Raum ohne zeitliche Dimension, der auf dem kontinuierlichen Verlauf der Zeit in der Gegenwart basiert. Nun kann diese Art von Atemporalität auf die Bilder von uns selbst in immer ausgefeilteren Weisen angewendet werden.

Wie transformiert Technologie den Menschen, wenn man die zeitliche Dimension entfernt, die unsere narrative Struktur zusammenhält, das Fundament unserer Psyche? Schließlich ist das, was wir als Ich bezeichnen, nichts anderes als die Geschichte, die wir über uns über uns selbst erzählen, indem wir Erinnerungen und aktuelle Ereignisse verwenden, um herauszufinden, wer wir sind und wohin wir wollen.

Unsere sich entwickelnde Fähigkeit, diese Geschichte auf digitale Weise in immer genaueren Details zu bearbeiten, Erinnerungen noch weiter zu verzerren als unser Gehirn es bereits tut, ist besorgniserregend.


Wishful Mnemonics“ halte ich für den bislang schönsten und poetischsten Begriff für AI-Technologien, und er beschreibt in seiner kurzen und prägnanten Form, wie Large Language Models einerseits Zugriff auf eine neuartige Form menschlichen Wissens in interpolierbaren Latent Spaces erlaubt, andererseits diesen Zugriff aber durch den eigenen Input beeinflusst. Ich hatte über diesen Begriff neulich hier auf 1E9 geschrieben.

In diesem Video analysiert Thomas Flight den Film „Everything Everywhere All At Once“ im Zusammenhang mit Wishful Mnemonics und künstlicher Intelligenz und in einem Interview mit Slashfilm erklären die Daniels - die Regisseure von „Everything Everywhere All At Once“ - warum dieser Film von der Unendlichkeit unserer digitalen Welt handelt:

Scheinert: Wir haben viel darüber gesprochen, wie es ist, mit dem Internet aufzuwachsen, und wie das die typische Kluft zwischen den Generationen verschärft, und wie es sich für jeden anfühlt, egal wie alt man ist, mit dem Internet zu leben (…) Wir wollten, dass der Maximalismus des Films ausdrückt, was es bedeutet, durch eine unendliche Menge an Zeug zu scrollen, was wir alle viel zu oft tun.

Kwan: Es geht darum, sich in einer sehr lauten Welt zurecht zu finden. Im Moment kämpft jeder darum, herauszufinden, wie man das macht, und unsere Geschichten haben Schwierigkeiten damit, Schritt zu halten. Der Lebenszyklus im Kino beträgt Jahre, der Lebenszyklus des Internets beträgt Millisekunden. Und so können unsere Geschichten nicht wirklich mithalten. Dieser Film ist ein Versuch, all das auf eine Weise anzugehen, die die kleinsten Dinge und die größten Dinge kombiniert. Was ist das Persönlichste?

Was ist ein realistischer TikTok-Filter, der Teenage-Versionen von Usern in Echtzeit visualisiert, wenn nicht eine Methode, um die Gegenwart mit einem Layer der persönlichsten Erinnerungen der Menschen zu überlagern?


Diese atemporalen Aspekte der AI-Anachronismen und digitaler Technologie ist das Versprechen eines Jungbrunnens, einer Trennung vom Fluss der Zeit selbst. Du kannst alles sein, überall, in jedem Alter, durch die ganze Geschichte des Universums, „all at once“.

Wir wissen, dass diese Geschichten nie gut ausgehen, denn Sterblichkeit, das Ende aller Dinge für das Ich, definiert uns als Mensch. In der griechischen Sage von Tithonus verliebt sich die Göttin der Morgendämmerung Eos in einen Mann und Zeus gewährt ihr den Wunsch, ihn unsterblich zu machen. Aber Eos vergaß, um ewige Jugend zu bitten, und so alterte Tithonus für immer, bis Eos ihn von seinem Leid erlöste und in eine Zikade verwandelte.

Nun haben wir eine Technologie, die eine Illusion von „Forever Young“ erzeugt, und im wirklichen Leben erschüttert sie unsere Erfahrung des Selbst.

Wir leben bereits in einem Zeitalter, das tief mit Retromanie gesättigt ist, die seit mehr als 20 Jahren anhält und Ende der 90er Jahre mit der Wiederkehr des 80er Jahre Electro-Sounds im Techno-Underground begann, sich zu Electroclash entwickelte und dann einfach niemals aufhörte.

Ich nenne dieses Phänomen „The Big Flat Now“: Digitale Technologie löst die Erfahrung des Zeitverlaufs in einer gegenwärtigen Kakophonie aller Dinge auf, indem sie narrativen Strukturen auflöst. Die Möglichkeit, sich in seine Teenager-Version zu verwandeln, ist die neueste Iteration dieses Phänomens.

Ich mache mir nicht so sehr Sorgen um die legendären Paperclip Maximizer einer Künstlichen Superintelligenz von Nick Bostrom, aber ich denke, dass Technologie, die die narrative Struktur des Selbst in atemporales, editierfähiges Grey Goo auflöst, schädlich für die psychologische Verfassung der Gesellschaft sein kann.

In einem Zeitalter der Wishful Mnemonics sollten wir mit unseren Wünschen vorsichtig umgehen.


Zuerst veröffentlicht in meinem Newsletter GOOD INTERNET.

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Danke für den interessanten Text! Welche schädlichen Auswirkungen befürchtest du?

Ich könnte mir adhoc auch positive Effekte der Selbsterkenntnis vorstellen, nachdem mich dieses T-Shirt kürzlich stark angesprochen hat:

Wir sehen ja bereits Verzerrungen des Selbstbildes in Phänomenen wie Snapchat Dysmorphia, das wird durch Filter, die Dein vergangenes Ich in die Gegenwart holen sicher nicht besser. Aber diese Atemporalität ist ja viel umfassender: Massenmedien haben eine gesellschaftliche Funktion der Synchronisation, die dafür sorgt, dass die Gesellschaft halbwegs gleichermaßen über Dinge informiert ist. Atemporalität wirkt auf diesen Prozess doch sehr störend und viel von dem, was wir in sozialen Medien als Empörungskultur wahrnehmen, rührt eben auch daher, dass diese Synchronsation nicht mehr funktioniert.

Freilich mag die Konfrontation mit einem Echtzeit-Zwilling Deines Teenage-Selbst auch therapeutisch wirken können, ganz abgesehen natürlich von reiner Unterhaltung. Ob das allerdings eine langfristige psychologische negative Wirkung aufwiegen kann, wage ich zu bezweifeln.

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