Wir hatten so große Hoffnung in Facebook und Twitter, so viel Spaß mit Instagram und TikTok – und doch sind die großen Social-Media-Plattformen zu ziemlich unangenehmen Orten geworden. Sind sie noch zu retten? Oder ist es Zeit für neue, bessere soziale Netzwerke? Genau darum geht’s im Auftaktartikel unseres 1E9-Themenschwerpunkts „This is Fine?! Was wird aus Social Media?“
Von Wolfgang Kerler
Tja, wozu noch Social Media? In den letzten Wochen erleben wir eher, wofür wir Plattformen wie X oder Instagram nicht gebrauchen können: Um komplexe Konflikte zu diskutieren oder gemeinsam Lösungen für vielschichtige Probleme zu finden. Angefacht von Algorithmen, die – koste es, was es wolle – auf Engagement optimieren, und getrieben von menschlicher Eitelkeit, die nach Likes, Shares, Followern giert, haben sich soziale Netzwerke in Orte einfacher Antworten verwandelt. Zu einfacher Antworten.
Bist du nicht für uns, bist du gegen uns. Die Lauten, Meinungsstarken und Selbstdarsteller dominieren die Timelines. Wer nicht in Freund oder Feind denkt, Zweifel hat, Hintergrundinformationen möchte, um sich eine differenzierte Meinung zu bilden, Komplexitäten erkennt, gar mit Ambiguitätstoleranz umgehen kann, ist längst zum weitgehend stillen Beobachter geworden – oder hat sich in WhatsApp-Gruppen mit Freunden, Vereinen, Initiativen und der Familie zurückgezogen.
Wem der gnadenlose Kulturkampf noch nicht genug ist, der bekommt es mit Videos, Bildern, Livestreams abscheulicher Verbrechen zu tun, mit Fake News, Gewaltaufrufen und Desinformation, mit überinszenierten perfekten Leben und Körpern, die Selbstzweifel nähren. Bin ich zu langweilig? Bin ich zu dick? Zu hässlich? Und das alles wird garniert mit der Gewissheit, dass die eigenen Nutzerdaten abgegriffen und an Werbetreibende vermarktet werden.
Wäre es angesichts dessen nicht endgültig an der Zeit, X, Facebook, Instagram und TikTok zu canceln? Was soll das noch?
Die großen Plattformen waren nicht immer so.
„Alles in allem: War und ist Social Media gut oder schlecht für die Welt?“ Diese Frage haben wir den Mitgliedern unserer 1E9-Community in einer Umfrage gestellt. Das Ergebnis fiel knapp aus: 55 Prozent der Befragten antworteten mit „gut“, 45 Prozent mit „schlecht“. Social Media wird also als Kraft des Guten gesehen – trotz all der Abgründe. Das heißt, es gibt etwas, wofür es sich lohnt, dabeizubleiben.
Wir haben daher auch gefragt, wieso unsere Mitglieder soziale Plattformen nutzen. Fast alle gaben an, dass sie dort Kontakte pflegen und sich informieren, gerade über speziellere Themen. Einige nutzen die Dienste beruflich, insbesondere LinkedIn, zum Beispiel, um mit Kunden zu kommunizieren. Knapp die Hälfte gab an, selbst etwas zu posten. Genauso viele sagten, dass es ihnen bei Social Media auch um Spaß geht.
Deshalb galt Facebook als „heißeste Plattform im Internet“.
Kontakte pflegen, Informationen bekommen, Spaß haben. Keine Überraschung, dass das bei der Befragung herauskam. Genau dafür sind die Plattformen einst angetreten. Sie wurden übergroß, weil die Menschen Bedarf danach hatten und haben. Facebook wurde doch nicht gegründet, um Populisten ein Tool an die Hand zu geben, mit dem sie Wähler manipulieren können, sondern um Menschen zu vernetzen. „Die Leute haben bereits ihre Freunde, Bekannten und Geschäftskontakte“, sagte Mark Zuckerberg vor 16 Jahren der amerikanischen WIRED. „Wir bauen also keine neuen Kontakte auf, wir kartieren sie nur.“
Genau darin lag für viele Facebook-User anfangs der Zauber. Neue und alte Freunde, frühere Mitschülerinnen und Kommilitonen, ehemalige und aktuelle Kolleginnen, Bekannte aus dem In- und Ausland: Plötzlich gab es im Internet einen Ort, um mit allen in Kontakt zu bleiben, um zu erfahren, was sich in ihrem Leben tut, um über eigene Erlebnisse, Urlaube, Job- oder Beziehungswechsel zu berichten oder interessante Links zu teilen. Deshalb galt Facebook als „heißeste Plattform im Internet“ – und wuchs später auf über drei Milliarden User an.
X, früher Twitter, gilt inzwischen vielen als die unappetitlichste der großen Plattformen. Shitstorms, Desinformation, Hetze. Dabei wurde der Mikroblogging-Dienst Twitter – übrigens laut Mitgründer Jack Dorsey ganz explizit „kein soziales Netzwerk“ – anfangs als „Seinfeld des Internets“ bezeichnet. Ganz witzig, aber nichtssagend. Nett gemeint war das nicht. Aber der Vergleich mit der erfolgreichen TV-Sitcom trifft die frühe Stimmung bei Twitter ziemlich gut. Twitter machte Spaß. Die Userinnen und User nahmen sich nicht allzu ernst, gaben oft selbstironische Einblicke in ihr Leben. Doch die als fehlend bemängelte Substanz folgte bald.
Journalisten entdeckten Twitter für sich und berichteten bei Breaking News in Echtzeit vom Ort des Geschehens. Wissenschaftlerinnen ordneten aktuelle Debatten mit ihrer Expertise ein, führten gleichzeitig Fachdebatten. Tech-Milliardäre gaben Buchtipps, Aktivistinnen prangerten Ungerechtigkeiten an, Fans und Nerds versammelten sich um ihre Lieblingsthemen. Und Memes entwickelten sich zur globalen Popkultur. Twitter war von Anfang an mehr Social Media als Social Network, aber ein schöner, interessanter, witziger digitaler Raum. Der Puls der Welt in einer App.
Instagram mit seinen Filtern und seiner intuitiven Bedienung machte das Teilen von Schnappschüssen, Selfies, eindrucksvoller Fotografie oder künstlerischen Arbeiten einfacher als je zuvor, war ein inspirierender Platz zum Wohlfühlen – bevor dort fragwürdige Schönheitsideale propagiert wurden und Influencer mit Millionen von Followern zu Werbe-Ikonen wurden. TikTok brachte die Menschen auf der ganzen Welt zum Tanzen, bevor junge Menschen dort auf die Propaganda islamistischer Terroristen hereinfielen. Und LinkedIn, immerhin schon 20 Jahre live, funktioniert als Business-Network ohnehin noch ganz passabel, zieht man Purpose-Kalendersprüche einmal ab.
Souveräne User können auch die Problem-Plattformen sinnvoll nutzen.
Nach all dem Abgesang die gute Nachricht: Die schönen Dinge, deretwegen wir den Diensten einst beigetreten sind, sind nicht verschwunden. Wer auf Katzenvideos steht, wird auf Instagram immer noch fündig. Wer als Frau mit dem Motorrad die Welt bereisen will, stößt in einer Facebook-Gruppe garantiert auf Gleichgesinnte, die wertvolle Tipps haben. Wer wissen will, was die internationale Ägyptologie-Community gerade umtreibt, erfährt das auf Twitter alias X. Und Zerstreuung liefert TikTok allemal.
Die Herausforderung besteht inzwischen allerdings darin, die eigene Timeline frei von Bösem und Schlechtem zu halten. Da das fast unmöglich ist, braucht es außerdem ein dickes Fell. Doch die meisten Nutzer scheinen das im Griff zu haben, empfohlen die Mitglieder der 1E9-Community in unserer Umfrage doch Dinge wie: „Filtern und die Nutzung reduzieren“, „nicht alles für bare Münze nehmen“, „nicht ohne Hintergrundrecherche nutzen“, „Quellen checken“, „gelassen bleiben“, den „Sinn und Zweck“ der eigenen Nutzung definieren, „Feeds sorgfältig kuratieren“, „möglichst wenig Persönliches preisgeben“, „nervige Accounts muten oder blocken“.
Nicht alle, sondern nur wenige Prozent der Nutzer werden süchtig nach Social Media.
Souveräne und mündige User, die über die skizzierten Schwächen und Probleme Bescheid wissen, sind in der Lage, die Megaplattformen sinnvoll für sich zu nutzen. Nicht alle, sondern nur wenige Prozent der Nutzer werden süchtig nach Social Media. Bei weitem nicht alle einst redlichen Journalistinnen, Wissenschaftler oder Unternehmerinnen lassen sich zu zugespitzten Posts und Schlammschlachten hinreißen, um die Weltsicht ihrer Follower zu bestärken. Und viele Timelines sind weitgehend frei von Hetzkampagnen, Fake News oder Gewaltvideos.
Alles in Ordnung ist deshalb noch lange nicht. Die Situation der sozialen Netzwerke ähnelt eher dem legendären „This is Fine“-Meme, in dem ein Hund mit Hut gemütlich eine Tasse Kaffee trinkt – während das Haus um ihn herum in Flammen steht. Genau deshalb haben wir eine Abwandlung dieses Memes auch zum Titelbild unseres 1E9-Themenmonats „This is Fine?! Was wird aus Social Media?“ gemacht.
Das Geschäftsmodell der Plattformen basiert auf dem Verkauf unserer Aufmerksamkeit an Werbekunden – also tun sie alles dafür, uns möglichst lange in ihren Apps zu fesseln. Die Algorithmen, die über unsere Feeds entscheiden, adressieren daher oft niederste Instinkte. Sie präsentierten uns Inhalte, die uns ärgern, wütend machen, provozieren. Der Mechanismus von Likes, Shares, Followern packt uns bei unserem Wunsch nach Bestätigung – und verleitet uns nicht nur dazu, zu viel zu posten und zu Thema unseren Senf dazuzugeben, von denen wir kaum Ahnung haben. Er lässt uns auch Posts verfassen, die gar nicht das widerspiegeln, was wir wirklich denken oder tun, sondern das, was die Follower vermeintlich von uns erwarten.
Und wahrscheinlich sind die Dienste schlicht zu groß. Wer Milliarden von Menschen auf ein und dieselbe Plattform holt, holt sich alle gesellschaftlichen Konflikte, jede extremistische Gruppe, alle fragwürdigen Trends und Hypes gleich dazu. Die Welt ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen – wie sollen es dann digitale Gebilde sein, die mehr Mitglieder haben als die größten Staaten? Es ist also höchste Zeit für eine Disruption der heutigen Social-Media-Plattformen.
Ein besseres Internet zeichnet sich bereits am Horizont ab.
Glücklicherweise tut sich etwas. Nicht erst, seit Elon Musk Twitter mit bisher zweifelhaftem Erfolg übernommen hat, suchen Nutzerinnen und Nutzer nach Alternativen zu den angestammten Angeboten. Sie wechseln zu BlueSky, Mastodon oder Friendica, die natürlich auch nicht frei von Problemen sind. Doch sie sind zum einen kleiner, sympathischer, nerdiger und zum anderen verfolgen sie dezentrale Ansätze, die auch der wichtigste Baustein des oft zu Unrecht verspotteten Web3 sind.
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Jetzt Mitglied werden!In dezentralen sozialen Netzwerken gibt es keine mächtigen Zentralinstanzen wie die Firmen Meta oder X, die alle Informationen horten und de facto im Besitz der digitalen Identität der User sind. Stattdessen verteilen sich die Daten über dezentrale Servernetzwerke vieler Betreiber. Einige der neuen Alternativen versprechen sogar Interoperabilität und Portabilität. Das heißt, die User sollen die Kontrolle über ihre digitale Identität bekommen. Sie entscheiden dann, wer welche Daten bekommt, und sie können ihre Profile von einem Social Network zum nächsten mitnehmen, sind also weniger gefangen.
Außerdem versprechen manche dezentralen Apps die Möglichkeit, selbst die Algorithmen auszuwählen, die Inhalte vorsortieren. Wer nur schöne Tierfotos, aber keine politischen Endlosstreitereien will, kann das haben. In so einer digitalen Welt funktionieren die Geschäftsmodelle der aktuellen Plattformen, die Ursache vieler Probleme sind, nicht mehr.
Im Metaverse könnte es wieder um persönliche, unmittelbare Begegnungen gehen.
Und auch hinter einem weiteren Buzzword, über das viele nur lachen, steckt zumindest das Versprechen einer freundlicheren digitalen Welt: dem Metaverse. Sollten wir uns häufiger als digitale Avatare in virtuellen Räumen bewegen, anstatt durch endlose Timelines zu scrollen, würden wir natürlich auch auf andere User treffen. Aber nicht auf Millionen von ihnen gleichzeitig. Wie sollen die in eine Virtual-Reality-Kneipe passen? Im Metaverse könnte es wieder um persönliche, unmittelbare Begegnungen gehen. Und in denen neigen wir erfahrungsgemäß weniger dazu, Menschen mit anderen Meinungen sofort als Linksextremisten oder Nazis abzustempeln.
Das Internet ist noch gar nicht so alt und wird vermutlich nie perfekt sein, dafür sind menschliche Gesellschaften, die sich im Internet tummeln, viel zu komplex. Aber bessere soziale Medien als Facebook, Instagram, X oder TikTok sollten auf jeden Fall drin sein. Das Internet macht es möglich, dass sich Freundeskreise und Nachbarschaften, genau wie grenzüberschreitende Communities vernetzen, dass sich Menschen gegenseitig mit ihrer Kreativität, ihrem Wissen und ihren Gedanken bereichern und dass wir uns über völlig neue Formen des Entertainments freuen können. Warum sollten wir darauf dauerhaft verzichten, nur weil die paar Firmen, die diese Ideen als erstes hatten, es nicht hinkriegen?
Titelbild: Michael Förtsch mit Stable Diffusion
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