Schweizer Forscher haben „tragbare Muskeln“ zum Anziehen entwickelt

Durch Krankheit, einen Unfall oder mit zunehmendem Alter kann die Kraft in den Armen schwinden. Das Heben und Halten von Alltagsgegenständen kann dadurch zum Mühsal werden. Ein Forschungsteam aus der Schweiz arbeiten daher an einer Weste, die die natürliche Muskelkraft unterstützen soll.

Von Michael Förtsch

Es ist eine der großen Visionen der Science Fiction, dass moderne Technologien irgendwann Menschen die Fähigkeiten zurückgeben, die sie durch Alter, Krankheit oder einen Unfall verloren haben. Und dass Technologien die Fähigkeiten eines gesunden Menschen noch steigern – sie gar multiplizieren. Insbesondere die Bewegungsfähigkeit. In Science-Fiction-Werken wie Elysium oder Edge Of Tomorrow sind es wuchtige Exoskelette aus Metall, die die Muskelkraft ihrer Träger verstärken. Geht es nach Marie Georgarakis, Michele Xiloyannis und Robert Riener braucht es jedoch nicht gleich solche Ungetüme aus Motoren, Hydraulikpumpen und Metallstangen. Die Robotik-Ingenieurin, der KI-Entwickler und der Professor für Sensomotorische Systeme des Sensory-Motor Systems Lab an der ETH Zürich haben stattdessen tragbare Zusatzmuskeln entwickelt, die einfach angezogen werden können.

„Die Idee kam durch einen Patienten mit Muskeldystrophie, der sich auf der Suche nach einem Gerät zur Unterstützung seiner Arme an Professor Riener wandte“, sagt Marie Georgarakis im Gespräch mit 1E9. Denn Riener forscht bereit seit Jahren an Systemen, die Menschen mit Bewegungseinschränkungen in ihrem Alltag helfen sollen. Wie Georgarakis ausführt, habe sie sich daraufhin intensiv mit den Konzepten und Ansätzen befasst und entschieden, selbst darauf aufzubauen. Und zwar, um ein technologische Vorrichtung zu entwickeln, die konkret „die Schulter gegen die Schwerkraft unterstützt“ – also hilft, den Arm zu heben und zu halten. „Da die Schulter das proximalste Gelenk des Arms ist, kann die Unterstützung gegen die Schwerkraft einen grundlegenden Einfluss auf die Gesamtmobilität des Arms haben“, sagt Georgarakis. „Entsprechend vielen verschiedenen Patienten kann es helfen.“

Entsprechend der aktuellen Position des Arms wird die erforderliche Hilfskraft in der Myoshirt-Sehne berechnet.

Marie Georgarakis

Das Resultat der Entwicklung nennt sich Myoshirt und gleicht einer eng anliegenden Weste mit zwei Manschetten, die Ober- und Unterarm umschließen. Auf der Rückseite der Weste finden sich zwei Kabelverteiler, die zu einer Schatulle mit einem Elektromotor führen, der eine metallene Sehne fein dosiert anspannen kann, die durch die Manschetten verläuft. Dadurch kann beim Heben des Armes assistiert werden. Und das ohne, dass der Träger des Myoshirts irgendein Kommando geben oder das Gerät steuern müsste. Denn erkennen, wann Unterstützung nötig ist, sollen die künstlichen Muskeln ganz von selbst. Und zwar dank Künstlicher Intelligenz.

Hebehilfe

In den Manschetten, die die Arme einfassen, und der Weste sollen zahlreiche kleine Sensoren eingesetzt sein, die Bewegung, Krafteinsatz und Beschleunigung der Extremitäten feststellen. Ein von Marie Georgarakis und Michele Xiloyannis konzipiertes KI-Programm interpretiert die Daten in Echtzeit, um daraus zu schlussfolgern, was für eine Bewegung ausgeführt werden soll. Und: „Entsprechend der aktuellen Position des Arms wird die erforderliche Hilfskraft in der Myoshirt-Sehne berechnet, um den Arm gegen die Schwerkraft auszugleichen“, so Georgarakis. Dadurch soll immer nur so viel Zusatzkraft geliefert werden, wie wirklich nötig und erwünscht ist. Für jeden Nutzer muss daher ein eigenes biomechanisches Datenmodel als Berechnungsgrundlage generiert werden, das auf die individuelle körperliche Verfassung abgestimmt ist.

Dass das System funktioniert, haben die Entwickler bereits erprobt. Insgesamt zwölf Personen haben es getestet. Davon war die Mehrheit zwar ohne körperliche Einschränkungen. Aber auch eine Person mit Muskeldystrophie und eine mit einer Wirbelsäulenverletzung waren in der Testgruppe. Laut den Entwicklern war es den Testern mit dem Myoshirt möglich, Objekte deutlich einfacher und für längere Zeit anzuheben. Die nicht beeinträchtigten Probanden steigerten ihre Stamina um durchschnittlich 30 Prozent. Der Tester mit Muskeldystrophie konnte ein Objekt rund 60 Prozent länger heben. Und der Proband mit der Wirbelsäulenverletzung konnte seine Ausdauer beim Heben sogar um das Dreifache steigern.

Laut Georgarakis ist das Myoshirt ein Gerät, das zahlreichen Menschen den Alltag erleichtern könnte. Noch ist es allerdings ein Prototyp und müsste noch verfeinert und die Technik noch weiter verkleinert werden – insbesondere müssten Elektronik und Motor in die Weste integrierte werden. Ob es als Produkt irgendwann auf den Markt kommen könnte, das ist noch nicht sicher. „Wir sind in der Forschung tätig, was bedeutet, dass wir uns normalerweise neuen Herausforderungen zuwenden, nachdem wir ein Konzept bewiesen haben“, sagt Georgarakis. Daher hänge es davon, ob sich ein Unternehmen findet, das ernsthaftes Interesse hat, das Konzept aufzugreifen und zu perfektionieren.

Interesse ist da

Wie die Forscher sagen, gebe es offenbar einiges an Interesse an der Idee des Myoshirt. Seit Bekanntwerden des Projektes habe das Sensory-Motor Systems Lab zahlreiche Anfragen erreicht. Vor allem von Einzelpersonen, die die tragbaren Muskeln gerne selbst nutzen würden oder mit ihnen einer ihnen nahestehende Person das Leben erleichtern möchten. „Das zeigt uns, dass Bedarf und Produktpotential vorhanden ist“, meint Georgarakis. Myoswiss, ein Spin-off-Start-up des Sensory-Motor Systems Lab, das bereits ein Exoskelett für gehbeeinträchtigte Personen entwickelt, prüft derzeit eine mögliche Übernahme des Projektes.

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Wie Georgarakis meint, würde es aber auch, wenn sich mit Myoswiss oder einem anderen Unternehmen ein Partner findet, noch Jahre dauern, bis das Myoshirt in der Breite verfügbar wird. Denn es sei letztlich ein medizinisches Produkt, das zahlreiche Vorgaben erfüllen und eine gewisse Zuverlässigkeit garantieren muss. Jedoch ist Georgarakis überzeugt, dass solche Entwicklungen nach und nach in den Alltag vieler Menschen einziehen könnten – und irgendwann vielleicht sogar zur Normalität werden.

[Wir] stehen erst am Anfang, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Roboteranzüge auf die eine oder andere Weise ein Bestandteil unseres Lebens werden.

Marie Georgarakis

„[Wir] stehen erst am Anfang, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Roboteranzüge auf die eine oder andere Weise ein Bestandteil unseres Lebens werden“, meint Georgarakis. Sie sieht einer solchen Entwicklung auch sehr positiv entgegen. Derartige Technologien könnten schwere körperliche Arbeit in vielen Berufen weniger fordernd machen und dadurch langfristige Schäden verhindern. Und sie könnten Menschen mit unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen im Alltag und der Arbeitswelt auf ein ähnliches Kraft- und Ausdauerniveau bringen. „Wir haben heute schon das Beispiel der E-Bikes“, vergleicht die Entwicklerin. „Die erlauben es mir und meiner Mutter gemeinsam und gleichberechtigt Fahrradtouren unternehmen!“

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