Eine Kolumne von Sebastian Hofer
Ist es nicht fantastisch, wie leer und leise es aktuell auf unseren Straßen zugeht? Ist es sehr naiv, zu hoffen, dass es so bleibt? Oder sollte ich mich vielmehr emotional auf diesen altbekannten Zustand einstellen, wenn ich mit meinem Fahrrad keine Schlangenlinien mehr auf der linken Spur machen kann? Jedenfalls ohne aggressiv angehupt zu werden. Ich fühle Freiheit – auch wenn man das bei all der sonstigen Unfreiheit ja gerade kaum laut schreiben darf. Doch genau darum geht es doch schließlich bei Mikromobilität: um Freiheit.
Ich weiß natürlich nicht, was jeder Einzelne von euch gerade in den emotionalen und faktischen Fokus nimmt. Für alle Mobilitätswende-Aktivist:innen und Greta-Thunberg-Pilger:innen da draußen ist das hier jedoch ein lange nicht mehr dagewesener transformativer Moment. Strukturen brechen auf und wollen in der Post-Corona Zeit wieder neu zusammengefügt oder neu geschaffen werden. Natürlich ist die aktuelle Lage auch ein gefundenes Fressen für so manche Interessenspolitik. Denn die Weichen, die wir im Anschluss stellen werden, folgen keinem Automatismus. Interessenverbände der Automobilindustrie versuchen bereits zaghaft, das Auto als Quarantänemobil zu positionieren oder die Gunst der Stunde zu nutzen, um die CO2-Emissionsziele zu lockern. Zudem nutzen Populisten aller Couleur die Angst und Unwissenheit, um das Momentum des Klimaschutzes zu bremsen.
Wissenschaftler:innen und Expert:innen auf der anderen Seite rufen nun in offenen Briefen an die Regierungen, zum Beispiel in England aber auch hierzulande dazu auf, unverzüglich pandemietaugliche Infrastruktur für den Fuß- und Radverkehr deutschlandweit zu ermöglichen – wohl auch, weil Bus und Bahn vorerst zu riskant erscheinen. So schreibt Changing Cities e.V., eine der führenden Initiativen, welche von Heinrich Strößenreuther gegründet wurde und aus dem Radentscheid in Berlin hervorgegangen ist: „Das Auto als individuelle Lösung stellt keine Alternative dar. Würden nach der Lockerung der Kontaktbeschränkungen alle ihre Wege im Pkw erledigen, käme niemand voran. Das Ergebnis wären unendlich lange Staus. Fortbewegung mit dem Rad und zu Fuß ist – wie vom Gesundheitsministerium empfohlen – die einzig wirklich pandemieresiliente Mobilität. Vor allem für Pendler:innen müssen alternative Lösungen zum Pkw zur Verfügung stehen, sonst droht ein Verkehrskollaps in den Städten.“
Christian Scheler, Verkehrsplaner und Mobilitätsvisionär vom Planungsbüro ARGUS Stadt und Verkehr erinnert dazu in Folge 18 meines Podcasts außerdem daran, „dass wenn bereits 20 bis 30 Prozent der täglichen Pendler leicht verschoben ins Büro fahren würden, wir unsere Stauprobleme in den Griff bekämen, da das vor allem ein Problem der Gleichzeitigkeit ist“. Wenn man das dann auch noch mit einem Home-Office-Tag pro Woche kombiniere, was sich jetzt ja als absolut gangbar und produktiv herausstellt, „hätten wir hier ein starkes Instrument für das Spitzenstundenmanagement des Autoverkehrs zur Hand“. Flatten the Curve , nur eben mit Autos.
Hier könnt ihr die gerade erschienene Folge 18 des Freifahrt-Podcasts mit Christian Scheler vom Planungsbüro ARGUS anhören.
Wie ein Elfmeter ohne Torwart
Die Autos sind von der Straße und die ersten temporären Pop-Up-Fahrradspuren sind in Berlin oder New York City – dem Vorbild von Bogota folgend – Realität geworden. Weltweit gibt es weitere Beispiele von Vilnius über Auckland bis nach Oakland. „Angesichts des verringerten Autoverkehrs werden wir eine Reihe von Straßen absperren, damit Radfahrer und Fußgänger dort Platz haben, sich bewegen können und sicher an die frische Luft kommen“ , kommentierte etwa die Bürgermeisterin von Oakland, Libby Schaaf, letzte Woche die 120 Kilometer für Mikromobilität gewonnenen Straßenraum.
Geht doch, möchte man jubeln! Doch hier muss ich direkt an Max Goldt und seinen schönen Titel Der Zauber des seitlich daran Vorbeigehens denken. Schön wäre es doch, wenn wir durch die jetzige Situation feststellten, dass der tatsächliche Zauber, welcher durch das Schlendern vorbei an Schaufenstern in autofreien Quartieren entsteht (wie vor kurzem in Hamburg getestet), mitgenommen werden könnte als Zielbild für die Zukunft. Mich beschleicht jedoch die Befürchtung, dass hier – im eigentlichen Sinne von Herrn Goldt – die Gefahr lauert, dass „ruhiges und friedliches Desinteresse“ von Verkehrsminister Scheuer & Co. dazu führen könnte, dass sie an diesem Elfmeter vorbeigehen und nach Corona Dienst nach Vorschrift Einzug erhält. Oder noch schlimmer, wenn sogenannten Experten gefolgt und erstmal die Mehrwertsteuer für neue Autos ausgesetzt wird. Autohäuser werden ja bereits durch Aufhebung der sonst gültigen 800 Quadratmeter Regelung bei der Wiederöffnung des Einzelhandels bevorzugt.
Was ist eigentlich systemrelevante Mobilität?
Besonders unfair bei den mobilitätsspezifischen Einschränkungen durch COVID-19 ist jedoch, dass der Teil der Bevölkerung mit höherem Einkommen einen eigenen PKW besitzt und häufig Jobs hat, welche Home Office ermöglichen. Jener Teil mit geringerem Einkommen wiederum ist angewiesen auf den ÖPNV. Häufig also genau die Personen, welche wir jetzt als systemrelevant bezeichnen. Gut, dass der ÖPNV trotz stark reduzierter Nachfrage um bis zu 90 Prozent vielerorts das Angebot wenig bis gar nicht eingeschränkt hat. Dies bestätigen verschiedene Quellen (Transit, Visual Capitalist und Citymapper) anhand ihrer Nutzeraktivität, welche ein gutes Indiz für die Nutzung des ÖPNV und von Sharing-Diensten ist.
Was ist denn nun aber die pandemietaugliche Alternative für jene, die den ÖPNV meiden wollen? Sozusagen die systemrelevante Mobilität für systemrelevante Personen? Die amerikanische National Association of City Transportation Officials, kurz: NACTO, hat ein Toolkit herausgegeben mit Empfehlungen, wie Städte mit COVID-19 umgehen können. Erstaunlicherweise zielt ein Großteil davon auf Fahrrad- und Fußverkehr ab. Ich wage an dieser Stelle mal die Behauptung, dass Mikromobilität ein hohes Maß an Resilienz mitbringt, da sie naturgemäß hervorragend die Lücken füllen kann, welche der ÖPNV offen lässt und sich zudem schneller und flexibler an neue Lücken anpassen kann. Genau darum geht es mal abgesehen von der Widerstandsfähigkeit bei Resilienz nämlich: um die Zukunftsfähigkeit gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen und die Kunst, leichtfüßig und souverän mit solch einem Wandel wie der Coronakrise umzugehen.
Professor Stephan Rammler, Techniksoziologe und Zukunftsforscher aus Berlin, spricht in diesem Kontext in unserem neuen gemeinsamen Podcast Resilient Futures auch von einem Reallabor, welches wir als Gesellschaft jetzt durchlaufen. Ein Element davon ist nun, zu lernen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, was gerade auf unseren Straßen und in unseren Köpfen passiert.
Müssen die selbst ernannten Retter der urbanen Mobilität nun selbst gerettet werden?
Bezogen auf die Landschaft der Sharing-Anbieter sehen wir derzeit, wie unterschiedlich diese mit dem Rückgang der Nachfrage umgehen. Praktisch jeder Anbieter versucht gerade, das Mögliche zu tun. Mein Gast Augustin Friedel, der Stratege für neue Mobilitätsangebote bei Volkswagen aus Folge 03, hat zur Nachverfolgung der Corona-Aktivitäten vieler Anbieter, welche von selbstreinigenden Griffen bis zu Freiminuten für medizinisches Personal reichen, eine gute Übersicht zusammengestellt, die täglich aktualisiert wird.
Hier könnt ihr Folge 03 des Freifahrt-Podcasts mit Augustin Friedel von Volkswagen nachhören, die im November 2019 erschienen ist.
Valerian Seither, ein weiterer Podcast-Gast und CEO des Elektro-Moped-Sharing Anbieters Emmy aus Folge 06 sagt zu der aktuellen Situation: „Wir bieten das an, was in diesen Zeiten ganz besonders wichtig ist: kontaktlose, individuelle Mobilität. Gerade in solchen Zeiten, in denen das ö ffentliche Leben in diesem Ausmaß eingeschränkt ist, wollen wir als zuverlässiger Bestandteil der innerstädtischen Mobilität zur Verfügung stehen. Auch wir haben mit drastischen Umsatzrückgängen zu kämpfen, haben uns daher um die Erschließung von neuen Umsatzquellen bspw. durch Langzeitvermietung bemüht, aber mussten ebenso auf der Kostenseite ordentlich einsparen. Mit den Maßnahmen konnten wir nun aber das Schlimmste abfedern und weiter unseren Service anbieten.“
Hier könnt ihr Folge 06 des Freifahrt-Podcasts mit Valerian Seither, Co-Founder und CEO von Emmy, nachhören, die im Dezember 2019 erschienen ist.
Wenn man den Aufschwung an Fahrradmobilität und Pop-Up-Bikelanes und das Engagement einer vergleichsweise kleinen Firma wie Emmy sieht, erscheint es widersprüchlich, dass ausgerechnet die großen E-Scooter Sharing Anbieter wie Lime, VOI, Bird & Co. als selbst ernannte Retter der Urbanen Zukunft als erstes die Straßen räumen. Bis auf TIER, welche vermutlich wegen der austauschbaren Akkus geringere Betriebskosten haben, verweilen fast überall in Europa die E-Scooter in den Lagerhallen. Sie könnten doch stattdessen ihre Flotten in den Dienst der Allgemeinheit stellen? Ist das nun der Beweis dafür, dass sich der Vorwurf bewahrheitet, es handele sich um Spielzeuge für Touristen und nicht um ein ernstzunehmendes Transportmittel?
Tatsächlich hat VOI nach eigener Aussage Städten und ÖPNV-Verbünden eine subventionierte Ersatzmobilität angeboten. Jedoch scheint bis auf Vilnius kaum eine Stadt solch eine Zusammenarbeit anzunehmen, geschweige denn anzufragen. Beim Bike-Sharing sieht das anders aus. Hier bietet Nextbike, der Betreiber der Sharing-Systeme in 15 Städten, in finanzieller Zusammenarbeit mit Städten und ÖPNV 30 Minuten kostenlose Fahrt an. Nach Aussage der Pressesprecherin Mareike Rauchhaus sei „die Nachfrage nach dem Lockdown um 25 Prozent gefallen, dann jedoch schnell wieder auf das Vorjahresniveau gestiegen. Die 10.000 kostenlosen Fahrten beim Metropolrad Rhein-Ruhr System waren nach drei Wochen verbraucht und zudem verzeichnen wir viele Neuregistrierungen.“
Lieber langweilig, dafür partnerschaftlich
Dass Städte und ÖPNV so zögerlich sind, liegt meiner Einschätzung nach zum einen daran, dass das es bei Ersatzmobilität für den ÖPNV primär um den Weg zur Arbeit geht und Pendelfahrten üblicherweise nicht in der Innenstadt beginnen, wo Sharing-Fahrräder und E-Scooter häufig oder sogar ausschließlich angeboten werden. Als Ersatz für U- oder S-Bahn kommen sie für viele daher einfach nicht in Frage. Auf der anderen Seite genießen E-Scooter-Sharing-Anbieter immer noch nicht das Vertrauen, welches sich die (stationären) Bike-Sharing-Anbieter inzwischen aufgebaut haben – und so kristallisiert sich im Überlebenskampf der E-Scooter-Verleiher gerade heraus, wie schwer es sein kann, ohne die Städte als Partner zu überleben.
Eine Resilienz- und aktuell auch eine Überlebensstrategie für Sharing-Anbieter ist also offenbar auch, sich im Mobilitäts-Ökosystem, in dem man sich tummelt, umsichtig zu verhalten. Die kommunikative Einbahnstraße, solch ein Angebot – in Form von Hunderten, über Nacht aufgestellten E-Scooter – einfach in Städten zu platzieren, bewährt sich nicht. Deshalb müssen jetzt vor allem Lime und Bird, die ähnlich wie Uber dem Prinzip „lieber um Vergebung als um Erlaubnis fragen“ huldigen, auf die harte Tour lernen, was Partnerschaft auf Augenhöhe bedeutet. Die neoliberale Natur von amerikanischen Unternehmen zeigt ihre fiese Fratze zudem bei den eigenen Mitarbeiter:innen: Bird hat gerade mit einer Sprachnachricht über 400 Mitarbeiter:innen entlassen, die das Unternehmen für Bird-Gründer Travis VanderZanden auf der Straße aufgebaut haben.
Unternehmerische Entscheidungen sind dieser Tage sicherlich keine leichten, jedoch frage ich mich schon, welche Rolle das Geschäftsmodell und das Auftreten der Unternehmen bei dem schnellen Verschwinden von der Straße spielt. Was sagt uns das über das extrem schnelle Venture-Capital-getriebene Geschäft der großen Anbieter? Und was über die vermeintlich uncooleren Bike-Sharing-Anbieter wie Nextbike oder Citi Bike in New York, deren Nutzerzahlen stabil blieben oder sogar gewachsen sind? Sean Flood, der CEO von Gotcha aus den USA, einem Anbieter für multimodale Flotten, bringt es in diesem Interview auf den Punkt: „Ich glaube, es liegt an der Idee des Blitz-Scalings und daran, wie man ein Unternehmen aufbaut. Meiner Meinung nach lässt sich die Welt der Apps nicht auf die Welt der physischen Güter übertragen. (…) [Geteilte Mobilität] ist ein langfristiges Spiel, bei dem es darum geht, der Partner der Wahl zu werden. Und der einzige Weg, das zu erreichen, ist mit einer partnerschaftlichen Einstellung. Man kann eine Kommune nicht zwingen, das zu tun, was man will. Die Menschen, die das probiert haben, lernen eine sehr teure Lektion.“
Stadtentwicklung als co-kreativer Prozess
Was aber heißt das alles für die Mobilitätswelt der Zukunft? Werden neue Mobilitätsanbieter in der Krise untergehen, Pop-Up-Fahrradspuren verschwinden und werden wir auf ein Angebot wie vor zehn Jahren zurückgeworfen, welches stärker geprägt sein wird durch den privaten PKW als „Quarantänemobil“? Ausschließlich gepaart mit der „Seuchenschleuder“ ÖPNV? Meine Antwort lautet entschieden: Nein! Ich hoffe sehr, dass die Gewinner dieser Krise nicht nur die Hersteller von Toilettenpapier sind, sondern vor allem Treiber der Mobilitätswende, die schon seit Jahren für eine Neuverteilung des Straßenraums kämpfen und gerade ebenfalls die Gunst der Stunde nutzen, um eine Petition durchzusetzen [Empfehlung des Autors: Bitte sofort unterschreiben!]
Das letzte Wort gebe ich heute dem Mobilitätsvisionär Christian Scheler. Denn aus seiner Sicht ist jetzt die richtige Gelegenheit, „Stadtentwicklung in Zukunft integriert zu denken und als kooperatives Planungsverfahren zu gestalten. Idealerweise auch mit Bürger:innen in einem co-kreativen Prozess. Das ist erstmal eine Phrase und nicht ganz einfach. Da müssen wir uns als Planer:innen ein neues Handwerkszeug zulegen, um mit dieser Komplexität umgehen zu lernen.“
In diesem Sinne: gute Fahrt und lasst die Haare wehen!
Die bisherigen Kolumnen von Sebastian könnt ihr hier nachlesen.