Mehr Bewegungsfreiheit und weniger Übelkeit in Virtual Reality – durch die Täuschung unserer Sinne


Kaum setzen wir die Virtual-Reality-Brille auf, befinden wir uns an einem anderen Ort. Und die Illusion wird immer besser: mit leichteren Brillen, besseren Controllern, höherer Auflösung und Welten, die glaubhafte Interaktion bieten. Herausfordernd bleibt allerdings die Fortbewegung in VR. Der Tracking-Bereich der Brillen ist begrenzt. Und die Wohnungen der Nutzer auch. Wie sollen sie sich da frei bewegen können? Ein Hamburger Start-up feilt an der Lösung des Problems: mit Redirected Walking.

Von Achim Fehrenbach

VR-Games werden immer ausgefeilter. Doch selbst hochklassige Spiele wie Half-Life: Alyx haben ein Problem nicht wirklich gelöst: die Fortbewegung. Denn damit Spieler in die Spielwelt eintauchen können, darf sich die Locomotion, also die Bewegung im virtuellen Raum, nicht künstlich anfühlen. Half-Life: Alyx bietet drei Fortbewegungsarten: Teleportieren, ruckweises Versetzen („shift") und „continuous locomotion“, eine Art Gleiten über den Boden. Bei allen drei Techniken müssen Spieler die Controller per Hand bedienen. Das Spiel umschifft die berüchtigte VR-Übelkeit ganz gut, die aus der Diskrepanz von physischer und virtueller Bewegung entsteht. Wirklich intuitiv fühlt sich die Handsteuerung aber nicht an. Jedenfalls nicht wie das natürliche Herumlaufen mit den eigenen Füßen.

Curvature Games manipuliert den Laufweg der Nutzer

Etliche Tüftler haben bereits versucht, die Fortbewegung in VR natürlicher zu machen. Es gibt Treadmills, eine Art VR-Laufstall. Oder auch Cybershoes, mit denen man – auf einem Drehhocker sitzend – über den Boden gleitet. Verschiedentlich wird auch versucht, das Problem durch Armbewegungen oder Blickrichtungen zu lösen. Hundertprozentig überzeugend ist das alles nicht. Die naheliegendste Lösung wäre natürlich, die User einfach herumspazieren zu lassen – und dabei ihre Bewegungen zu tracken. Doch dafür reicht der Tracking-Space meist nicht aus. Zwar lässt die Oculus Quest die Spieler ein quadratisches Feld von maximal 58 Quadratmetern definieren, in dem sie sich frei bewegen können. Solch große Flächen bieten meist aber nur VR-Arcades wie das Holocafé in Düsseldorf oder Exit VR in Berlin. Privatnutzer haben meist nur ein deutlich kleineres „Spielzimmer“ zur Verfügung. Was tun?

Das Hamburger Start-up Curvature Games arbeitet an einer Lösung. Redirected Walking, auf Deutsch: umgeleitetes Laufen, könnte die Fortbewegung in VR sehr viel natürlicher machen. „Nutzer laufen im realen Raum und erkunden dadurch eine virtuelle Welt“, sagt der Kreativchef des Studios, Eike Langbehn zu 1E9. „Der Trick ist: Die virtuelle Welt kann sehr viel größer sein als der real zur Verfügung stehende Raum.“ Es gibt verschiedene Techniken, mit denen man den Laufweg des Nutzers entsprechend manipulieren und lenken kann. „Im Extremfall läuft der Nutzer real im Kreis, während er virtuell immer weiter geradeaus läuft“, sagt Langbehn. „Im Idealfall bemerkt er diese Manipulation nicht, weil sie unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle stattfindet.“


In diesem Video erklären Eike und Dennis, wie Redirected Walking funktioniert. Außerdem geben Game-Designer von K5 Factory einen Einblick, wie man aus der Not eine Tugend macht – und die Begrenztheit der realen Räume ins Gameplay integriert.

Curvature Games arbeitet genau an diesen Techniken – und will noch dieses Jahr ein erstes Spiel herausbringen, in dem sie zum Einsatz kommen. Das Team besteht unter anderem aus Eike Langbehn (Programmierung und Game-Design), Hannah Paulmann (3D-Art und Game-Design) und Dennis Briddigkeit (PR und Marketing). Fördermittel hat das Studio unter anderem von Hamburg Innovation (Call4Transfer) und dem nextmedia.Hamburg-Inkubator Media Lift erhalten. Derzeit nimmt Curvature Games am Wettbewerb „New Realities“ teil, den 1E9 und der XR Hub Bavaria veranstalten. Die Preisträger des Wettbewerbs werden bei der 1E9-Konferenz im November gekürt.

Virtuell drehen sich die Spieler schneller

Wie also funktioniert die Sinnestäuschung beim Redirected Walking? Eike Langbehn hat das in seiner Informatik-Doktorarbeit an der Uni Hamburg erforscht. Die Grundmechanik ist, dass Spieler in VR vermeintlich geradeaus laufen, dabei jedoch auf einem leicht gekrümmten Weg geleitet werden. „Wenn der Nutzer real im Kreis und virtuell geradeaus laufen soll, benötigt man immer noch einen Tracking-Space von 12 mal 12 Metern“, so Langbehn. Folglich setzt Curvature Games auch noch andere Manipulationstechniken ein. Wenn Nutzer sich auf der Stelle drehen – zum Beispiel, wenn sie sich im Spiel umschauen -, dann kann man eine reale Rotation auf eine größere oder kleinere virtuelle Rotation übertragen. „Da liegt die Wahrnehmungsschwelle bei einem Faktor von 1,3. Das heißt, eine virtuelle Rotation könnte 1,3 Mal schneller sein als eine reale Rotation“, erläutert Langbehn. Rotationsmapping nennt sich dieses Verfahren.


Die Tech-Demo von Curvature Games.

Die Wahrnehmungsschwelle ist je nach Nutzer unterschiedlich. Außerdem hängt sie von diversen externen Faktoren ab. „Eine ist die Hardware, zum Beispiel das Field of View oder die Auflösung des Headsets“, sagt Langbehn. „Auch die Beschaffenheit der virtuellen Umgebung spielt eine Rolle, zum Beispiel die Entfernung des Betrachters zu bestimmten Objekten.“ In einer offenen Spielwelt wie etwa bei Skyrim VR ist Redirected Walking schwierig umzusetzen, weil es dort vergleichsweise wenige optische Referenzpunkte gibt. Spiele mit kleinen Räumen und Korridoren sind dafür besser geeignet – wie etwa die Tunnel- und Laborabschnitte in Half-Life: Alyx.

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Curvature Games hat mit Unity eine Tech-Demo entwickelt, die Redirected Walking veranschaulicht. Die Demo läuft auf einem Tracking-Space von 4 mal 4 Metern, die Nutzer können darauf eine virtuelle Welt von 45 Quadratmetern erkunden. Das sei noch nicht das Maximum, zeige aber ganz gut, was jetzt schon möglich sei, sagt Eike Langbehn. „Die Grundfrage ist: Wie bleiben wir unterhalb der Wahrnehmungsschwelle? Wir wollen ja, dass der Nutzer ein gutes räumliches Verständnis von der virtuellen Welt hat, dass er nicht verwirrt oder desorientiert wird.“ Neben der Wegkrümmung und dem Rotationsmapping nutzen die Entwickler auch noch andere Tricks. Einer davon sind überlappende Räume, die in der Realität so gar nicht möglich wären. „Das kann man sich so vorstellen wie die Tardis aus Dr. Who“, sagt Langbehn. „Ein virtueller Raum scheint größer zu sein als von außen vermutet.“ Das Spiel blendet inaktive Räume aus – und blendet sie wieder ein, sobald der Spieler sie betritt. Dadurch fällt die Überlappung zweier Räume nicht weiter auf.

Den Augenblick nutzen, um Rechenleistung zu sparen

Eine weitere Manipulationstechnik ist das Eye-Tracking. Über einen Sensor wird gemessen, wann der Nutzer blinzelt – oder wann ein Blicksprung stattfindet, eine sogenannte Sakkade. Während der Nutzer blinzelt, kann man die virtuelle Welt – unbemerkt – um bis zu fünf Grad drehen. Momentan entwickelt Curvature Games ohne Eye-Tracking, weil es noch kaum VR-Brillen mit dieser Technologie gibt. Eine Ausnahme ist die Vive Pro. „Die ist aber auch recht teuer und nicht für Consumer gedacht, sondern für Business-Kunden“, sagt Langbehn. Er glaubt aber, dass in fünf Jahren fast alle VR-Brillen Eye-Tracking beherrschen werden – auch deshalb, weil man durch Foveated Rendering Rechenleistung sparen kann. Dabei wird nur der Teil des Bildes in voller Auflösung berechnet, den das Auge gerade fokussiert. „Dann können wir das natürlich auch für unsere Redirection-Techniken nutzen. Und das kann noch einen erheblichen Schub bringen.“

Das Hamburger Team sieht VR-Spiele als naheliegendste Anwendung. „Wir entwickeln Games, weil Redirected Walking für eine ungebrochene Immersion sorgen und das Storytelling auf eine neue Stufe heben kann“, sagt Dennis Briddigkeit. „Aber natürlich lässt sich Redirected Walking auch in anderen VR-Anwendungen einsetzen. Zum Beispiel in Sicherheitstrainings, in denen Nutzer lernen, bestimmten Wegen zu folgen.“ Die Möglichkeiten sind vielfältig. Und Curvature Games lässt ihnen – buchstäblich – freien Lauf.

Titelbild: Curvature Games

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