Sensoren im Magen, Drohnen über dem Acker, das Mittagessen auf Instagram. Technologie verändert unsere Ernährung – und das tiefgreifender, als den meisten bewusst sein dürfte. In ihrem Buch Food Code zeigen Olaf Deininger und Hendrik Haase, wie KI, das Internet der Dinge oder Roboter zu besserem Essen beitragen könnten. Sie weisen außerdem auf bedenkliche Trends hin.
Ein Interview von Wolfgang Kerler
Klar, Essen lässt sich nicht komplett digitalisieren. Zumindest solange wir noch in Körpern leben und nicht einfach nur Verstandeswesen in der Cloud sind. Trotzdem wird unser Essen immer digitaler. Denn längst kommen neue Technologien entlang der gesamten Lieferkette unserer Nahrungsmittel zum Einsatz – auf dem Feld und im Stall, im Supermarkt und im Restaurant oder in der privaten Küche.
Für ihr Buch Food Code, das Ende Februar erschienen ist, haben sich der Journalist Olaf Deininger und der Food-Aktivist Hendrik Haase all diese Bereiche genau angeschaut. Im 1E9-Interview spricht Olaf vor allem über den zunehmenden Ernährungskult und die immer weiter voranschreitende Optimierung unseres Speiseplans.
1E9: Millionen von Menschen posten täglich wunderschöne Fotos von ihrem Mittagessen bei Instagram. Manche Bilder sind wahrscheinlich nur nette Schnappschüsse, andere wirken fast schon wie Statements. Für euch gleicht Instagram inzwischen sogar einer „kulinarische Kirche“. Wieso dieser religiöse Vergleich?
Olaf Deininger: Das ist natürlich eine erst einmal Metapher. Doch wir sehen häufig einen durchaus obsessiven Charakter beim Thema Ernährungsstile und beim Posten von Food-Pics. Für manche Menschen ist das ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden, für manche eine Art Berufung, ein Teil ihrer Identität. Und für wieder andere ist es ein Beruf geworden, der sich Influencer nennt.
Viele sehen sich auf der Suche nach dem besten, dem noch besseren, dem faszinierenderen und originelleren Foto oder Gericht, eine Art Streben nach dem Bild. Andere werden zu Evangelisten ihrer Ernährungsstile und wähnen sich auf Social Media auf einer Mission oder – noch schlimmer – manchmal auch auf einem Kreuzzug. Man kann den Eindruck gewinnen, manche haben sich zu einer Art bekennenden Freikirche zusammengeschlossen: der Veganer, der Protein-Pulver-Apostel oder der Grill-Freunde der geräucherten Buchenholz-Chips.
Hat Instagram verändert, wie Menschen kochen und essen?
Olaf Deininger: Bei manchen schon. Und auch in manchen Szenen oder Communities. Die Inszenierung von Essen und Tellergerichten ist in den Vordergrund gerückt. Das haben sogar viele Gastronomen verstanden und Blogger-Tische eingerichtet, die ein besseres Licht für Bilder bieten.
Mit Insta als Tool kann ich professionell und lecker aussehende Food-Bilder produzieren, für die früher ein Studio mit Food-Stylisten und professionellem Licht notwendig war. Kai Diekmann, dem ehemaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung, wird der Satz zugeschrieben: Instagram habe die Welt wieder spannend gemacht.
Neue Marktforschungsfirmen wie etwa Tastewise aus Tel Aviv analysieren außerdem systematisch Posts mit Food-Fotos und deren Texte, um etwa Aufschluss über noch nicht erkannte Bedarfe zu bekommen und zu ermitteln, welche Speisen oder Beilagen gerade boomen oder demnächst boomen werden.
Wir werden nie wissen, was die Leute vor hundert, fünfzig oder zwanzig Jahren angestellt hätten, wenn es damals schon Instagram gegeben hätte. Lässt sich trotzdem sagen, ob und wie sich der gesellschaftliche Stellenwert von Ernährung gewandelt hat?
Olaf Deininger: Das hängt sehr stark von der gesellschaftlichen Gruppe oder von dem Werte- und Lifestyle-Kontext ab, in dem ich mich befinde. Generell kann man sagen, dass Fragen von Ernährung, Gesundheit, Lebensmittel und ihrer Erzeugung noch nie so präsent waren. Denken wir an Diät-Apps. Aber auch an die Debatte um Massentierhaltung und Tierwohl, die mittlerweile sogar in der Tagesschau auftaucht.
Dank digitaler Werkzeuge und einer umfassenden digitalen Vernetzung können wir heute blitzschnell auf Informationen zu Lebensmitteln, Ernährung, Landwirtschaft, Gastronomie, Gesundheit und Kochen zugreifen. Viele Messwerte, etwa vom Nitratgehalt im Grundwasser oder von Emissionswerten von Schadstoffen in der Luft, stehen öffentlich als Daten in Echtzeit zur Verfügung. Und ich könnte noch viele weitere Beispiele aufzählen.
Noch nie stand also so viel Wissen zu diesen Themen so schnell und umfassend zur Verfügung. Dazu kommt, dass ich heute schon bei vielen Lebensmitteln sofort am Regal via Smartphone abrufen kann, wo und wie sie erzeugt wurden. Und das ist erst der Anfang.
Speziell das Wissen um Nachhaltigkeit auf dem Speiseplan verspricht soziales Prestige.
Es gibt allerdings auch viele Gruppen von Verbrauchern, die sich nicht oder nur wenig dafür interessieren, unter welchen Bedingungen die Tiere gehalten, getötet oder verarbeitet wurden, die sie als Schweinenackensteaks auf den Grill legen. Für sie stehen eher der Preis und die Menge im Mittelpunkt. Hauptsache es kostet wenig. Trotzdem prophezeien Marktforscher, dass der Fleischabsatz in Mitteleuropa weiter rückläufig sein wird, während er allerdings weltweit ansteigt.
Kulinarisches Wissen ist in unserer westlichen Kultur inzwischen auch Distinktionsmerkmal: Ich kann mich sozial mit Wissen über wertvolle Olivenöle, vermeintlich geheime Quellen von authentischem autochthonem oder indigenem Gemüse, über die richtige Herkunft und Verarbeitung von Lebensmitteln von der Masse absetzen und mich durch digitale Vermittlung oder Kommunikation dieses Wissens als Individuum sichtbar machen. Speziell das Wissen um Nachhaltigkeit auf dem Speiseplan verspricht soziales Prestige.
Immer wieder klingt in eurem Buch an, dass es inzwischen vielen darum geht, ihre Ernährung zu optimieren. Einerseits, wie besprochen, für den eigenen Instagram-Kanal. Aber nicht nur. Mit den richtigen Apps, Gadgets und digitalen Dienstleistungen kann man den eigenen Körper inzwischen komplett vermessen und die Ernährung direkt darauf abstimmen. Welche der neuen Angebote haben dich am meisten fasziniert, begeistert oder auch schockiert?
Olaf Deininger: Da gibt er immer mehr davon. Ein Beispiel: Das australische Start-up Atmo Biosciences bietet eine „Atmo Capsule“, die man schluckt und die im Darm die Gase misst. Sie soll als autonomes Diagnosewerkzeug Reizdarmsyndrome, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, krankhafte Kohlenhydratabsorption und Kohlenhydratunverträglichkeiten erkennen können. Wenn man so will: Die Nutzer schlucken den Arzt. Wie etwa im Spielfilm Die Reise ins Ich aus den Jahr 1987 mit Dennis Quaid, bei dem ein U-Boot samt Besatzung geschrumpft und in einen Menschen injiziert wird.
Wollen wir eine Welt aus lauter Kens und Barbies?
Bei der Erkennung von Krankheiten liegt der Nutzen auf der Hand. Von gesellschaftlicher Relevanz ist allerdings die Frage, an welchen Parametern oder an welchen Normmaßen sich etwa eine Fitness-App orientiert, wenn sie ausrechnet, wie ich meine Ernährung oder meinen Lifestyle optimieren soll. Am BMI? An den Normen der westlichen Zivilisation? An Barbie und Ken? An Arnold Schwarzenegger?
Wer diese Grundlagen nicht kennt, lässt sich in eine Richtung optimieren, die er vielleicht gar nicht einschlagen wollte. Und gesellschaftlich betrachtet: Wollen wir eine Welt aus lauter Kens und Barbies? Und werden dadurch nicht die Menschen, die nicht so aussehen wie Barbie und Ken, auf Dauer diskriminiert und marginalisiert? Damit entsteht die Frage: Was geschieht künftig mit Vielfalt?
Ihr greift die kritischen Anmerkungen der amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Andrea M. Matwyshyn auf, die sich mit unserer Symbiose von Gesundheits- und Ernährungs-Apps, Fitness-Trackern und zunehmend auch mit Gehirn-Computerschnittstellen beschäftigt. Sie verwendet dafür den Begriff „Internet of Bodies“. Was stört Euch denn an der derzeitigen Entwicklung?
Olaf Deininger: Wir haben es immer mehr mit digitalen Black Boxes zu tun. Sie bieten ein Nutzenversprechen, wie etwa bessere Gesundheit, mehr Fitness, größere Leistungsfähigkeit, höhere Attraktivität auf dem Beziehungsmarkt, doch kaum einer weiß, nach welchen Prinzipien sie arbeiten.
Dazu kommt: Gesundheits-Apps, Fitness Tracker, aber auch das ganz normale Smartphone, Implantate wie Herzschrittmacher, Sonden oder Chips im Körper ermitteln und erheben Daten. Nun beginnen all diese Geräte miteinander zu kommunizieren. Sie tauschen Daten aus, verdichten diese Daten, etwa zu Bewegungs-, Einkaufs-, Ernährungsprofilen oder Trinkgewohnheiten, erarbeiten und analysieren daraus Maßnahmen oder Handlungsempfehlungen.
Mit all diesen Sensoren, Geräten und implantierter oder umgelegter Rechenleistung wird der Körper zur Online-Plattform. Er bekommt eine IP-Adresse, bietet APIs, Schnittstellen, an denen Daten ergänzt oder ausgelesen werden. Das kann ganz schleichend beginnen, etwa wenn das Datum über einen Zeitserver ergänzt wird. Doch es lassen sich auch schädliche Daten einspielen, die etwa meine Gesundheits-App in die Irre führen, damit sie mir falsche Ratschläge gibt. Dem ehemaligen US-Vizepräsident Dick Cheney wurde in seiner Amtszeit geraten, die Wireless-Funktion seines Herzschrittmachers zu deaktivieren, um Hackerangriffe zu vermeiden.
Wir müssen uns deshalb zwei Dinge klarmachen. Erstens: Wir halten uns permanent in Datenräumen auf. Und zweitens: der Mensch wird maschinenlesbar.
Nehmen wir an, wir kriegen diese Probleme in den Griff. Stellt die digitale Ernährungswelt dann nicht auch eine riesige Chance auf gesundes, individuell abgestimmtes Essen für alle dar? Was wäre denn der bestmögliche Ausgang aus deiner Sicht?
Olaf Deininger: Natürlich, die neue digitale Technologie kann uns helfen, mehr über uns zu erfahren. Sie kann uns auch darin unterstützen, Therapien konsequenter umzusetzen und damit wirksamer zu machen. Maschinelles Lernen kann uns helfen, Muster zu erkennen, die wir mit bloßem Auge oder mit unserem Verstand nicht erkennen – etwa bei Risikofaktoren von Krankheiten.
Die Chancen von KI-basierten Vorhersagesystemen liegen etwa in einer nachhaltigeren Ausgestaltung der Lebensmittelproduktion und der Lebensmittellieferkette, in einer ressourcenschonenderen Produktion und Logistik, weniger Lebensmittelverschwendung, besserem und gesünderem Essen und so weiter.
Doch entscheidend ist unsere Einstellung oder Beziehung zu den Geräten, Anwendungen und zur Technologie insgesamt. Denn wir erleben im Augenblick einen grundlegenden Technologiesprung. KI wird Basis-Technologie. Und wie immer bei Technologie bietet auch sie neue Chancen und aber auch Gefahren. Darum geht es gerade.
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Jetzt Mitglied werden!Dass Ernährung inzwischen zum Statussymbol geworden ist, für manche schon fast zur Religion, heißt auch, dass wir es mit einem riesigen Markt zu tun haben? Von welchem Dimensionen sprechen wir hier? Und wer macht bisher das Geschäft – wieder nur amerikanische und chinesische Firmen oder auch welche aus Deutschland und Europa?
Olaf Deininger: Rund 370 Millionen Wearables sollen 2020 weltweit verkauft worden sein. 2024 sollen es 527 Millionen Stück sein. Ein Massengeschäft. Das sieht man auch daran, dass sich Amazon mit seinem Armband Halo in diesem Markt engagiert. Für Apple ist die Apple-Watch Teil ihres digitalen Öko-Systems, das Kunden möglichst umfassend versorgen soll. Der Wettbewerb und auch die Konflikte in der Weltwirtschaft der nächsten Jahre wird davon geprägt sein, welches Land die technologische Vorherrschaft erreichen kann. Und ich fürchte, da wird Deutschland nicht zur Spitzengruppe zählen.
Welche Start-ups aus Deutschland sollten wir denn besonders im Blick haben?
Olaf Deininger: Das hängt natürlich vom Blickwinkel ab. Das deutsche Vertical-Farming-Start-up Infarm hat mit bis jetzt rund 170 Millionen US-Dollar den größten Betrag an Risikokapitel aller deutschen Startups in diesem Bereich akquiriert. Der Schnell-Lieferdienst Gorillas folgt mit 44 Millionen US-Dollar. Miele hat das Vertical-Farming-Startup Agrilution gekauft. Es gibt aber auch viele Branchen- und Nischenlösungen aus Deutschland, die sehr spannend sind. Etwa eine Lösung wie Futuro Farming, die Krankheiten bei Kälbern voraussagen kann.
Kannst du dich nach dieser Recherche überhaupt noch entspannt und neutral ernähren?
Olaf Deininger: Entspannt? Ja klar, warum denn nicht? Ich koche leidenschaftlich gerne und nicht nur am Wochenende für Gäste, sondern auch im Daily Life. Seit Jahren kaufe oder bestelle ich nur noch Bio-Lebensmittel und bevorzuge dabei die eher höheren Standards. Wir hatten im Rahmen der Recherche natürlich viele Geräte und Apps im Test, auch den Thermomix. Doch persönlich nutze ich nur den Schrittzähler und Entfernungsmesser meines iPhones beim Joggen.
Beim Einkaufen geht es mir allerdings mittlerweile so, dass ich die digitalen Mechanismen, die digitalen Zahlungsvorgänge oder was die Kasse ans Warenwirtschaftssystem meldet, hinter den Regalen sehe. Und das ist manchmal ein wenig so, als würde man in die Matrix schauen. Und ich hoffe, in eine freundliche.
Titelbild: Getty Images