Kunst liefert nicht nur wichtige Beiträge zur gesellschaftlichen Debatte. Manchmal funktioniert sie sogar prophetisch, ob von den Künstlerinnen und Künstlern beabsichtigt oder nicht. Und weil Kunst außerdem Spaß macht, dachte ich, ich starte mal eine Liste von „prophetischer Kunst“. Wäre super, wenn sie von euch erweitert wird!
Disclaimer: Ich bin Kultur-Fan, aber normalerweise kein Kultur-Redakteur, sondern kümmere mich um Dinge wie Tech, Politik, Wirtschaft und investigativen Kram. Geübte Feuilleton-Leser sollten also Nachsicht haben, falls etwas nicht den gängigen Standards entspricht.
Kraftwerk: Computerwelt – und das Zeitalter der Daten
Starten wir mit einem eher naheliegenden Beispiel, bevor es weiter unten etwas abseitiger wird. Schon 1981 veröffentlichten die deutschen Elektropioniere von Kraftwerk das Album und den Song Computerwelt. Lange bevor in jedem Haushalt PCs, Internet oder Smartphones vorhanden waren und vor den Massenprotesten gegen die Volkszählung in den 1980ern prophezeiten sie, wie wichtig unsere Daten in Zukunft werden würden. Hier der – überschaubare – Songtext:
Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Flensburg und das BKA haben unsere Daten da. Nummern, Zahlen, Handel, Leute. Computerwelt. Denn Zeit ist Geld. Automat und Telespiel leiten heute die Zukunft ein. Computer für den Kleinbetrieb, Computer für das eigene Heim. Reisen, Zeit, Medizin, Unterhaltung. Computerwelt. Denn Zeit ist Geld.
Noch prophetischer wäre gewesen, sie hätten „Denn Daten sind Geld“ gesungen – und hätten noch Google und Facebook erwähnt. Hier jedenfalls ein Live-Auftritt von 1981:
Von Kraftwerk stammt übrigens auch diese Textzeile: „Es wird immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen.“ Damit ist eigentlich alles gesagt.
Fritz Lang: Die Frau im Mond – und der erste Raketenstart zum Mond
Der Stummfilm-Klassiker Die Frau im Mond von 1929 – Regie: Fritz Lang, Drehbuch: Thea von Harbou – gilt heute als einer der ersten Science-Fiction-Filme, da ist es naheliegend, dass er eine Vision der Zukunft vorhersagt. Ich habe ihn trotzdem in die Liste aufgenommen, weil er es ungewöhnlich konkret und plausibel machte. Denn der Film entstand mit wissenschaftlicher Unterstützung.
Die Handlung ist eigentlich recht platt und schnell erzählt, ich zitiere aus einem sehr interessanten und umfangreichen Artikel des Tagesspiegel, der die Bedeutung des Films für die späteren Mondmissionen behandelt:
Der Film handelt vom eigenbrödlerischen Professor Manfeldt, der auf dem Mond Gold vermutet. Zwei Ingenieure und eine Astronomiestudentin unterstützen ihn beim Bau eines Raumschiffes und der ersten Mondexpedition. Der Flug gelingt, doch kommt es auf dem Mond zu einer Schießerei. Ein Sauerstofftank wird zerstört und einer der Passagiere muss auf dem Mond zurückbleiben.
Das aufregende an dem Film ist, wie treffsicher die Technik der Mondmission dargestellt wurde, obwohl die Raketenforschung 1929 noch sehr jung war und Weltraumflüge längst nicht stattgefunden hatten. Erstmals kommt bei Die Frau im Mond eine mehrstufige Rakete vor. Der Weltraumbahnhof schaut echt überzeugend aus. Das Landemodul kann aufgrund der Bremstriebwerke sanft auf dem Erdtrabanten aufsetzen. Auch Raumanzüge spielen eine Rolle – wenn auch nur eine kurze, auch aus dramaturgischen Gründen. Ein Stummfilm mit Schauspielern in Raumanzügen, die ihr Gesicht verdecken, ist… schwierig. Außerdem wird vor dem Start der Rakete zum ersten Mal überhaupt ein Countdown gezählt. Hier die Startszene mit moderner Musik unterlegt:
Das alles gelang, weil der Raumfahrtpionier Hermann Oberth wissenschaftlicher Berater des Films war. Das ist echte Science-Fiction.
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann – und das Uncanny Valley
Der Name klingt nach Gute-Nacht-Geschichte. Doch dafür würde ich die 1816 erschienene Erzählung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann nicht empfehlen. Sie ist nämlich durchaus verstörend – und damit in der künstlerischen Epoche der Romantik nicht allein. In seiner kürzesten Form lässt sich der Inhalt so zusammenfassen, ich zitiere dafür Inhaltsangabe.de:
Geschildert wird das Schicksal des Studenten Nathanaels, der unter dem Einfluss traumatischer Kindheitserinnerungen verrückt wird und letztlich Selbstmord begeht.
Die traumatischen Kindheitserinnerungen haben viel mit Augen zu tun. In seiner Kindheit hörte Nathanael die Schauergeschichte vom Sandmann, der Kindern die Augen raubt. Dieses Bild und die damit verbundene Angst projiziert er auf einen zwielichtigen Advokaten und Alchemisten, der seinen Vater immer wieder aufsucht.
Der gruselige Advokat und Alchemist, der Nathanael ein Trauma verpasst.
Als Jahre später – Nathanael ist bereits erwachsen – ein Wetterglashändler auftaucht, der genauso aussieht, beginnt Nathanaels Unruhe. Er entfremdet sich von seiner Freundin und verliebt sich stattdessen in die Tochter eines Nachbarn. Sie heißt Olimpia – und ist keine Tochter im klassischen Sinne. Sie ist ein Automat, eine Maschine, die aussieht wie ein Mensch. Allerdings fällt das niemandem auf, vor allem nicht Nathanael. Nur ihre Augen, die machen ihn misstrauisch. Hier eine Passage aus dem Originaltext, den ihr hier gratis und legal lesen könnt.
Ein hohes, sehr schlank im reinsten Ebenmaß gewachsenes, herrlich gekleidetes Frauenzimmer saß im Zimmer vor einem kleinen Tisch, auf den sie beide Ärme, die Hände zusammengefaltet, gelegt hatte. Sie saß der Türe gegenüber, so, dass ich ihr engelschönes Gesicht ganz erblickte. Sie schien mich nicht zu bemerken, und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möcht ich sagen, keine Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offnen Augen. Mir wurde ganz unheimlich und deshalb schlich ich leise fort…
Ich will nicht spoilern, also verrate ich auch nicht, wie es mit Olimpia und ihren Augen weitergeht. Kommen wir lieber zu dem „Prophetischen“ an dem Text, der wenn überhaupt als Vorläufer heutiger Fantasy-Literatur gesehen werden kann, aber wirklich nicht als frühe Science-Fiction.
E.T.A. Hoffmann hat bereits vor 200 Jahren erkannt, dass die größte Herausforderung bei der „Herstellung“ von Maschinen-Menschen, die als echte Menschen durchgehen sollen, die Augen sind. So richtig gelöst ist dieses Problem bis heute nicht und wird immer wieder diskutiert im Zusammenhang mit dem Phänomen des Uncanny Valley, des „unheimlichen Tals“.
Damit ist gemeint, dass viele Menschen (und insbesondere Kindern) sich unwohl fühlen, wenn sie künstliche Menschen vor sich haben, die fast perfekt sind, aber eben nicht ganz. Genauso wie es Nathanael ging, als er zum ersten Mal Olimpia vor sich hatte. Im Film Shrek wurde die menschliche Prinzessin daher nach einer Testvorführung weniger realistisch dargestellt. Um das Problem dauerhaft zu lösen, forschte ein Team für Disney an der ETH Zürich daran, wie man Augen so perfekt animieren kann, dass Zuschauer vollends überzeugt werden. Hier präsentieren sie das Ergebnis ihrer Forschung.
Für digitale Animationen scheint das Problem also halbwegs gelöst zu sein, wie der Cameron-Film Alita Anfang dieses Jahres demonstrierte, aber wie sieht’s mit Automaten aus? Mit humanoiden Robotern? Hier hat sich, meines Wissens nach, seit E.T.A. Hoffmann nichts getan.
Umbo: Der rasende Reporter – und der multimediale, mobile Journalismus
Als ich vor ein paar Jahren im Berliner Bauhaus-Museum zum ersten Mal auf Der rasende Reporter von Umbo (alias Otto Maximilian Umbehr) gestoßen bin, habe ich gleich ein Foto gemacht und an meine damaligen Kollegen geschickt. Denn die Montage von 1926 sagte die heutige Arbeitsrealität vieler Journalisten vorher: Sie sind im schnellen Dauereinsatz für alle Medien gleichzeitig: Text, Audio, Video, Fernsehen, Radio, Netz, Print. Das nötige Equipment dafür haben sie in Form von Kameras, Audiorekordern oder einfach nur Smartphones und Laptops immer dabei.
Das Bild zeigt übrigens den legendären Journalisten Egon Erwin Kisch.
Leonardo da Vinci – Fluggeräte, Panzer und das Schicksal der Menschheit
Schon Ende des 15. Jahrhunderts hatte Leonardo da Vinci einen Helikopter im Sinn.
So eine Liste kommt natürlich nicht ohne Leonardo da Vinci aus, auch wenn der natürlich viel mehr war als ein Künstler. Erfinder, Gelehrter, Philosoph. Schon vor über 500 Jahren entwarf er Taucherausrüstungen und Fluggeräte, er ersann den ersten Helikopter und sogar ein gepanzertes Fahrzeug fürs Militär.
Anlässlich seines 500. Todestags gibt es derzeit eine spannende Ausstellung in Tübingen. Dort sind Prototypen zu sehen, die auf Basis seiner Skizzen entstanden. Von dort nimmt man die ernüchternde Erkenntnis mit, dass sie allesamt nicht funktioniert hätten. Aber unsere heutige Gerätschaft ist zumindest sehr ähnlich. Prophetisch bleibt Leonardo also.
Außerdem sagen nicht wenige, er habe die Zukunft der Menschheit vorhergesehen. Von ihm stammt nämlich auch dieses Zitat:
„Auf der Erde wird man Geschöpfe sich unaufhörlich bekämpfen sehen, mit sehr schweren Verlusten und zahlreichen Toten auf beiden Seiten. Ihre Arglist kennt keine Grenzen. In den riesigen Wäldern auf der Welt fällen ihre grausamen Mitglieder eine riesige Zahl an Bäumen…“
Und so weiter. Weil es dann gar zu düster wird, breche ich das Zitat hier ab. Bei 1E9 sind wir ja eher Optimisten.
Teaser-Bild: Getty Images