KI aus Japan – für schlaue Roboter, Hochwasserschutz oder Autos ohne Rückspiegel

Was tut sich eigentlich in Japan bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz? Das wollten Björn Eichstädt und Nina Blagojevic von unserem Partner J-BIG herausfinden und haben deswegen mit Hiroshi Sugie gesprochen, der im November auch als Speaker bei der 1E9-Konferenz dabei war. Er ist Division Manager für Forschung und Entwicklung im Europageschäft von Mitsubishi Electric, einem der größten Technologieunternehmen Japans.

Ein Interview von Björn Eichstädt und Nina Blagojevic

Björn Eichstädt: Mitsubishi Electric wird in diesen Tagen 100 Jahre alt – und findet sich in einer Branche wieder, die sich durch die Fortschritte bei der Entwicklung von KI stark wandelt. Seit wann hat Mitsubishi Electric das Thema denn auf dem Schirm?

Hiroshi Sugie: Künstliche Intelligenz wird oft als ein eher junges Phänomen wahrgenommen. Tatsächlich forschen wir aber schon seit den 1970er Jahren in diesem Bereich. In den 1980ern nahm die Arbeit dann richtig Fahrt auf. Damals entwickelten wir hauptsächlich so genannte Expertensystemen. Diese frühe Form der KI sollte es einem Computer ermöglichen, menschliche Entscheidungsprozesse nachzuahmen. Sie zielte darauf ab, Probleme durch logisches Schlussfolgern auf der Basis von Wissensdatenbanken zu lösen und folgte meist einer Wenn-Dann-Logik. Dieser Ansatz eignet sich hervorragend, um streng regelbasierte Aufgaben auszuführen, zum Beispiel das Putten eines Golfballs, kann bei komplexeren Problemen aber auch an seine Grenzen stoßen. Erst als um 2012 maschinelles Lernen auf der Bildfläche erschien, begann eine ganz neue Ära der datengesteuerten KI.

Nina Blagojevic: Maschinelles Lernen oder Machine Learning ist zwar gerade in aller Munde – aber für alle, die nicht mehr genau wissen, was damit gemeint ist: Wie würden Sie es erklären?

Hiroshi Sugie: Maschinelles Lernen ist ein Teilbereich der KI und umfasst selbst wiederum zwei Teilbereiche: Deep Learning und Reinforcement Learning.

Deep Learning basiert auf neuronalen Netzwerken, die dem menschlichen Gehirn nachempfunden sind und dieses in Form eines mathematischen Modells nachbilden. So ein Netzwerk ist sehr komplex und verarbeitet Informationen auf mehreren unterschiedlichen Ebenen. Die Hoffnung ist, dass Computer damit Tätigkeiten ausführen können, die sie bisher nur schwer bewältigen konnten, wie komplexe Identifizierungs- oder Objekterkennungs-Aufgaben. Maschinen würden uns so immer ähnlicher werden.

Das Reinforcement Learning hingegen soll den Computer gewissermaßen von den Menschen, die ihn erschaffen haben, unabhängig machen. Im Idealfall folgt das System nicht einfach einem vordefinierten Programm, sondern wertet eine Situation aus, stellt passende Regeln auf und bestimmt selbst, was zu tun ist – ganz ohne menschlichen Input. Damit das gelingt, braucht ein Computer viel Erfahrung, genau wie wir Menschen. Und dazu gehören auch Erfahrungen des Scheiterns. Wenn man einem Roboter beibringen will, eine bestimmte Aktion auszuführen – zum Beispiel eine Schraube anzuziehen – läuft das folgendermaßen ab: Man lässt ihn die Aktion immer wieder wiederholen und „belohnt“ ihn je nachdem, wie gut er das Ziel erreicht hat. So lernt die KI. Reinforcement Learning folgt also dem Prinzip „Übung macht den Meister“.

Das letzte Puzzlestück ist Big Data Analysis. Hierbei geht es darum, das stetig zunehmende Volumen an Sensordaten von IoT-Systemen effizient zu scannen und Irregularitäten zu erkennen. So können wir Problemen bereits entgegenwirken, bevor diese auftreten. Man spricht daher auch von Predictive Maintenance.


Hiroshi Sugie nahm auch an der 1E9-Konferenz 2020 teil – an einem Panel über die japanische Art der Innovation. Hier könnt ihr die Diskussion anschauen.

Björn Eichstädt: Und wie genau geht Mitsubishi Electric jetzt an das Thema KI heran?

Hiroshi Sugie: Wir nennen unsere originäre KI-Technologie Maisart . Das steht für „Mitsubishi Electric‘s AI creates the State-of-the-ART in technology“ – und ist außerdem ein Anagramm von „Smart AI“. Maisart ist eine kompakte und schnelle KI für eingebettete Geräte am Punkt der Dateneingabe. Das bedeutet auch, dass wir das neurale Netzwerk, welches man sich am besten wie einen Baum mit vielen Ästen vorstellen muss, bedeutend simplifizieren konnten. Normalerweise wird eine Unmenge an Daten kalkuliert, aber wir haben unsere Kenntnis von Maschinen dafür genutzt, diese Daten auf die essentiellsten Punkte zu begrenzen. Auf diese Weise konnten wir die notwendigen Berechnungen auf ein Dreißigstel reduzieren und den Deep Learning Prozess äußerst effizient umsetzen.

Entgegen dem allgemeinen Trend setzen wir zudem eher auf Edge Computing statt auf die Cloud. Das bringt eine Reihe von Vorteilen: Edge-Computing-Geräte sind nicht mit einem externen Netzwerk verbunden, sie sind also nicht anfällig für Netzwerkverzögerungen oder -unterbrechungen. Außerdem entfallen beim Edge Computing zusätzliche Kosten für Server und Netzwerkgeräte. Ein weiterer Vorteil ist: Da die Daten nicht in der Cloud gespeichert werden, ist diese Art der KI auch deutlich sicherer.

Wir konnten auch den Rechenaufwand für Deep-Learning-Anwendungen auf einen Bruchteil – in manchen Fällen auf ein Hundertstel des vorherigen Wertes – komprimieren. Deep Learning kann so auf viel mehr unterschiedlichen Geräten implementiert werden. Für das Reinforcement Learning hat Mitsubishi Electric eine eigene Technologie entwickelt, die die Anzahl der Versuche, die eine KI zum Erlernen einer Aufgabe benötigt, auf etwa ein Fünfzigstel oder weniger reduziert. Dadurch sinken Zeit und die Kosten für die Implementierung von KI erheblich. Und nicht zuletzt legen wir großen Wert darauf, dass unsere Design-Tools einfach zu bedienen und die Trainingsalgorithmen schnell sind. Man muss also kein KI-Experte sein, um unsere Technologie zu nutzen.

Nina Blagojevic: In welchen Bereichen sehen Sie denn das größte Potenzial für KI?

Hiroshi Sugie: In Zukunft wollen wir KI in all unseren Produktbereichen integrieren – von Haushaltsgeräten bis hin zur Raumfahrttechnik. Im Moment sehen wir allerdings drei große Anwendungsbereiche, in denen KI bereits erfolgreich eingesetzt wird: Fabrikautomation, Automobilanwendungen und öffentliche Systeme.

In der Fabrikautomation kann unsere KI die Trainingszeit von Robotern verkürzen und diese so effizienter machen. Bei Präzisionsanwendungen, etwa bei der Montage von elektronischen Bauteilen, ist die Toleranz für Abweichungen sehr gering – ohne KI sind in der Regel viele Trainingsversuche nötig, bis ein Roboter den Arbeitsablauf perfektioniert hat.

Im Automobilbereich sind spiegellose Autos eine sehr spannende Perspektive. Das Konzept wurde bereits 2016 in Europa zugelassen- In Japan werden die ersten Serienmodelle voraussichtlich noch dieses Jahr auf die Straße kommen. Die Idee: Anstatt ständig mehrere Spiegel im Blick zu behalten, wird der Fahrer oder die Fahrerin direkt vom Auto auf potenzielle Gefahrensituationen aufmerksam gemacht. Eine Reihe leistungsfähiger Objekterkennungskameras sind an Bord installiert und überwachen ununterbrochen die Straße. Auf Basis von Maisart haben wir eine Technologie entwickelt, die verschiedene Fahrzeugtypen aus einer Entfernung von bis zu 100 Metern erkennt. Ein solches System könnte helfen, Unfälle zu vermeiden und macht den Verkehr für alle Teilnehmer sicherer.

Im öffentlichen Sektor gibt es verschiedene Anwendungsmöglichkeiten, an denen wir zum Teil bereits arbeiten. Ein vielversprechendes Beispiel ist der Einsatz von Flussüberwachungskameras in hochwassergefährdeten Gebieten. In den letzten Jahren haben starke Regenfälle in einigen Teilen Japans zu großen Schäden durch Überschwemmungen geführt. Gefragt war daher eine Möglichkeit, Wasserstände zuverlässig, genau und in Echtzeit zu messen. Bestehende Pegelmesser eignen sich dafür aber nur bedingt: Sie basieren entweder auf Wasserdruck oder schwimmen an der Wasseroberfläche und sind nur schwer zu überwachen, sobald das Wasser stark ansteigt. Sie verschwinden einfach in den Fluten.

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Wir haben einen berührungslosen, bildbasierten Wasserstandsanzeiger namens Field Edge entwickelt. Die Technologie basiert auf Maisart und besteht aus hochpräzisen Kameras, die mit Bildern des Flusses unter normalen Bedingungen vortrainiert wurden. Das System kann auch bei widriger Witterung dadurch Änderungen im Wasserstand mit einer Genauigkeit von zwei Zentimetern erkennen. Die Aufnahmen können über das Internet gestreamt werden, so dass alle Beteiligten einfachen Zugang zu Echtzeitdaten haben. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um die Anwohner zu schützen und sie darüber auf dem Laufenden zu halten, wie sich die Situation entwickelt.

Björn Eichstädt: Künstliche Intelligenz sollte kein Selbstzweck sein. Und viele Menschen sind ohnehin skeptisch, dass KI außer Kontrolle geraten könnte oder zum Abbau vieler Arbeitsplätze führen könnte. Wie kann KI denn aus Ihrer Sicht dabei helfen, eine bessere Zukunft für alle Menschen zu schaffen?

Hiroshi Sugie: KI wird bisher nur in klar definierten Bereichen für ganz bestimmte Aufgaben unter konkreten Parametern eingesetzt. Sie ist daher vor allem ein Werkzeug, um Effizienz oder Mehrwert für den Nutzer zu generieren.

Generell betrachtet hat KI das Potenzial, viele alltägliche Aufgaben bequemer und komfortabler zu machen. Einige Szenarien haben wir bereits angesprochen, aber es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele. Eines ist das autonome Fahren: Wie toll wäre es, wenn Sie das nächste Mal, wenn Sie im Stau stehen – oder einfach nur hundemüde sind – Ihr Auto bitten könnten, das Steuer zu übernehmen? Gerade bei langen Fahrten, zum Beispiel in der Logistikbranche, könnte so ein System das Unfallrisiko deutlich reduzieren. Darüber hinaus könnte KI im Gesundheitsbereich Diagnosetechnologien unterstützen und Ärzten dabei helfen, eventuelle Anomalien früher zu erkennen. Automatisierte Übersetzungstools könnten außerdem Reisen ins Ausland und die Kommunikation über Sprachbarrieren hinweg erleichtern.

Etwas weiter gedacht kann KI auch dazu beitragen, Lösungen für jene übergreifenden Transformationsprozesse zu finden, mit denen sich viele Gesellschaften heute auseinandersetzen müssen. Beispielsweise sehen sich sowohl Deutschland als auch Japan mit einer alternden Bevölkerung konfrontiert. In Rehabilitationszentren und anderen Einrichtungen könnten Roboter das Pflegepersonal dabei unterstützen, ältere Menschen angemessen zu betreuen. Und automatisierte kleine Mobilitätsroboter könnten Postämter und Lieferdienste entlasten, die durch einen rasant wachsenden Online-Handel an ihre Grenzen stoßen. Die technologischen Möglichkeiten sind vielfältig und machen Hoffnung – es kommt nur darauf an, wie man sie einsetzt.

Titelbild: Hiroshi Sugie von Mitsubishi Electric, Collage: Michael Förtsch, 1E9

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