Das Coronavirus breitet sich weiter aus. Doch vielerorts sind bei weitem nicht genug Ressourcen vorhanden, um alle potentiell infizierten Menschen zu überprüfen. Eine Künstliche Intelligenz soll nun einen Test per Röntgenaufnahme möglich machen. Die Entwickler haben sie frei im Internet verfügbar gemacht.
Von Michael Förtsch
Die mittlerweile berühmte Weltkarte der Johns Hopkins University zeigt derzeit insgesamt 422.989 bestätigte Corona-Fälle, 18.916 Tote und 108.573 Menschen, die wieder genesen sind. Das Problem mit diesen Zahlen: Es dürfte eine hohe Dunkelziffer existieren. Denn bestätigt werden kann eine Infektion erst durch den eindeutigen Ausbruch der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankung COVID-19 – oder durch einen Test. Bei Letzteren wird ein Rachenabstrich, ein Abstrich aus der Nase oder auch Proben aus den tiefen Atemwegen genommen. Diese müssen dann in einem Labor mittels einer Polymerase-Kettenreaktion untersucht werden, die das Erbgut des Virus nachweist. Bei einem Negativtest und anhaltenden Symptomen soll nach zwei Tagen erneut getestet werden. Die Ergebnisse liegen dem Patienten selbst jeweils in zwei oder drei Tagen vor.
Jedoch sind die Testkapazitäten begrenzt. Es fehlt sowohl an Test-Kits als auch an Zeit, Geräten und Labormitarbeitern. Möglicherweise könnte eine Künstliche Intelligenz helfen, infizierte Menschen zu identifizieren. Die Software heißt COVID-Net und wird von Linda Wang und Alexander Wong von der kanadischen University of Waterloo und der KI-Firma DarwinAI entwickelt. Sie trainieren ein Künstliches Neuronales Netz darauf, die Eigenheiten der COVID-19-Erkrankung in einem möglichst frühen Stadium auf Röntgenaufnahmen zu erkennen. „In frühen Studien wurde festgestellt, dass Patienten verschiedene Anomalien in Bruströntgenbildern aufzeigen“, schreiben Linda Wang und Alexander Wong.
Daher wurde COVID-Net mit bisher 5.941 Röntgenaufnahmen der Brust- und Lungenbereiche von 2.839 Menschen mit verschiedenen Lungenerkrankungen trainiert. Darunter sind Personen mit COVID-19 und Menschen, die an anderen viralen und bakteriellen Infektionen leiden. Die Künstliche Intelligenz soll optische Unterschiede zwischen den Erkrankungen, ihrem Verlauf und deren sichtbaren Ausprägungen auf den Röntgenbildern ausmachen können – und dadurch auch die Anomalien, die COVID-19 hervorruft, oder COVID-19-Charakteristiken, die menschlichen Diagnostikern bisher eventuell gar nicht aufgefallen sind. Das ist etwas, das bei der Früherkennung von Krebserkrankungen schon jetzt in vielen Fällen funktioniert.
COVID-Net ist als Open Source frei verfügbar
Noch ist COVID-Net aber nicht für Diagnosen und Tests geeignet oder eine „in irgendeiner Weise produktionsfertige Lösung“, wie Sheldon Fernandez von DarwinAI sagt. Noch fehlt es nämlich an ausreichend Bildmaterial. Denn nur mit genügend Röntgenaufnahmen von COVID-19-Patienten und Menschen mit andern Lungenerkrankungen kann COVID-Net so trainiert werden, dass das Programm verlässliche Aussagen trifft. Dafür sind möglicherweise noch Zehntausende oder mehr Aufnahmen erforderlich. Stehen die zur Verfügung, könne aus COVID-Net eine „präzise und doch praktisch Lösung zur Erkennung von COVID-19-Fällen“ werden, heißt es in der Abhandlung von Wang und Wong.
Um diesen Prozess zu beschleunigen, geben die Entwickler sowohl COVID-Net als auch ihre Sammlung von Röntgenaufnahmen frei. Das KI-Programm ist Open Source – genauer: es steht unter der GNU Affero General Public License 3.0 – und kann dadurch von jedem der mag, weiterentwickelt, modifiziert, verbessert und weiter trainiert werden. Damit soll das Projekt von möglichst vielen Menschen aufgegriffen und unterstützt werden können. Gleichzeit bitten die Entwickler und Wissenschaftler andere Forscher und Ärzte darum, ihre Röntgenaufnahmen zu spenden, um nicht nur COVID-Net, sondern auch andere KI-Projekte, die zur Erkennung der Atem- und Lungenerkrankungen gestartet wurden, voranzubringen.
Teaser-Bild: University of Waterloo