Das Wort Equilibrismus setzt sich aus den lateinischen Sprachwurzeln Equi (Gleich) und Libra (Balance) zusammen. Equilibrismus meint also ein Gleichgewicht zwischen Natur und menschlichem Kulturraum, das ausschließlich in ein sozio-ökologisches Wirtschaftssystem münden muss, in dem wir Menschen nicht gegen die Natur, sondern mit ihr leben.
Das Ziel des Equilibrismus ist ein vollständiger Paradigmenwechsel in Bezug auf ökologische und gesellschaftliche Fragen. Dazu beschäftigt sich das Konzept übergreifend mit den wichtigsten Herausforderungen der Menschheit:
Ökologische Alternativen sowie Effizienz und
neue Strukturen in allen Lebensbereichen
Equilibrismus ist tatsächlich ein recht neues Konzept – das aber aus recht bekannten Elementen zusammengesetzt ist, die weitgehend der utopischen Science Fiction entliehen sind. Ziel ist eine Möglichkeit zu entwickeln, eine Art Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu finden. Dirk C. Fleck hat die Idee daher sogar in mehreren Romanen verarbeitet, allem voran das Das Tahiti-Projekt , das eine Art Equilibrismus-Pilot-Projekt beschreibt – etwas im Geiste von Ökotopia von Ernest Callenbach. Hatte den Roman tatsächlich mal angefangen, fand ihn aber nicht so wirklich gut geschrieben.
Tatsächlich ist Equilibrismus eine nette Idee. Aber dass es umsetzbar wäre, daran zweifeln viele Experten. Unter anderem weil das Konzept auch recht naiv versucht, beispielsweise der Natur entlehnte Kreislaufgesetze auf eine Gesellschaft und Wirtschaft zu übertragen; globale Wirtschafts- und Warenwege weitestgehend ignoriert und davon ausgeht, dass beispielsweise Abhängigkeiten von Alkohol, Zigaretten und andere Drogen einfach durch „entschiedenen Verzicht“ gelöst werden können.
Ebenso ist die Idee für eine Krankenversicherung, soweit ich mich entsinne, etwas krude gewesen und setzte auf „Selbstverantwortung“, was nur die „Ach, dafür muss ich nicht zum Arzt“-Einstellung vieler Menschen befördern würde. Und es soll eine Art von Minimaldiktat herrschen, das wohl viele Formen der Vergnügung und persönlichen Entfaltung unterlaufen würde. Darunter würden unter anderem Sport, Reisen aber auch Medienkonsum fallen.
Dennoch: Ich würde ganz gerne sehen, wie das mal versucht wird, was ja auch lange schon geplant ist. Aber dass das so gut funktioniert, daran glaube ich nicht.
Mit Eric Bihl und Dirk C. Fleck habe ich vor einiger Zeit gesprochen und habe sie so verstanden, dass sie das Tahiti-Projekt als Experiment sehen (sahen), mit dem Ziel konkret ein neues Konzept wirklich auszuprobieren und nicht nur zu diskutieren, ohne einen Anspruch auf Perfektion zu erheben (learning by doing).
Es wundert mich immer wieder, dass man(n) bei allem Neuen nicht so sehr die Möglichkeiten und Chancen sieht, sondern die Schwachstellen und Ungereimtheiten (über)betont.
Zu dem Thema aus eigener Erfahrung ein kleiner lyrischer Beitrag
shit
serviert man euch ein huhn,
das goldne eier leget,
auf silbernem tablette,
so bemerket ihr alsbald,
dass das huhn doch kotet,
und die sache wird sogleich,
als unbrauchbar benotet.
Nun, es kommt eben sehr darauf an, was dieses neue Ding ist. Denn: Erweist sich ein neues Gadget, eine neue Technologie als Unfug und dysfunktional, nun gut, dann verschwindet es vom Markt und gut ist. Aber ist es eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsform, dann müssen schon gewisse Ansprüche und Fragen gestellt werden. Denn funktioniert die nicht, kann das Lebensentwürfe, ja ganze Leben zerstören oder, bei einem nicht funktionalen Gesundheitssystem, auch Tote bedeuten.
Hier müssen also die „Ungereimtheiten“ mindestens genauso genau betrachtet werden wie die Chancen und möglichen Vorteile.
Ein hinkender Vergleich wäre hier die Künstliche Intelligenz, die kein Gesellschaftssystem darstellt, aber sehr wohl eine Technologie, die sich bereits in vielen Bereichen unserer Gesellschaft eingefunden hat. Und erst sehr langsam stellen wir fest, dass sie durch Nutzungs- und Trainingsfehler wohl in Unternehmen, Ländern usw. Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Vorgeschichte, ihrer Herkunft oder aufgrund ihres Wohnortes diskriminiert hat.
Ich stimme Michael zu, dass gut gemeinte Ideen zu neuen gesellschaftlichen Strukturen katastrophale Folgen haben können (und oft genug hatten). Besonders gerne wird die Soziobiologie vergessen, weil man vielfach noch immer glaubt, Menschen seien beliebig „erziehbar“, grundsätzlich gleich und vor allem grundsätzlich gutwillig. Das ist alles nicht der Fall und daran ist auch das „Standard Social Science Model“ in seiner strengen Form gescheitert.
Zwar steht die Soziobiologie in ihrer strengen Form auch berechtigt in der Kritik, die Evolution menschlicher Gesellschaften und genetische Prägungen völlig zu ignorieren, kann jedoch fatal sein.
Es gilt also, Utopien sehr sorgfältig zu prüfen ehe man sie in einem „nicht rückholbaren Freilandversuch“ ausprobiert. Experimente mit menschlichen Gesellschaften sind kein Laborversuch, bei dem man ein paar hundert Mäuse oder Fliegen (mit mäßigen ethischen Skrupeln) „wegwirft“, wenn der Versuch schiefgegangen ist. Und selbst bei sorgfältiger Prüfung sind „Kollateralschäden“ keinesfalls auszuschließen.
Im Prinzip ist das ja richtig und von mir unbestritten! Doch wo und von wem werden Utopien sorgfältig geprüft? Alles was in der realexistierenden Marktwirtschaft abläuft sind doch ungeprüfte (und oft genug unüberlegte) „Freilandversuche“ mit sehr vielen katastrophalen „Kollateralschäden“.
Ist es nicht so, dass man(n) immer sehr erleichtert ist, wenn man bei jedem zur Diskussion gestellten alternativen Konzept mindestens ein Haar in der Suppe gefunden hat ? Gott sei Dank - wir können ohne jedes Obligo weiter (freischwebend) diskutieren !
Man könnte stattdessen vielleicht die Intelligenz auch in Überlegungen investieren, wie sich erkannte Mängel und Ungereimtheiten eines Konzepts möglicherweise überwinden lassen.
Das Tahiti-Projekt war nur als Experiment auf einer winzigen Insel gedacht, um daraus zu lernen und das Konzept zu optimieren. Eine Vorgehensweise, wie sie in Wissenschaft und Technik üblich ist und erfolgreich praktiziert wird. Der Vorwurf ist also unberechtigt.
Nein, sorry, das ist doch kein Vorwurf!
„Haare in der Suppe“ zu finden, ist eine Aufgabe der Wissenschaft!
Das gehört doch auch zur „freischwebenden Diskussion“!
Und wenn man ein solches Projekt sorgfältig abgewogen hat, dann sollte man es auch nicht abwürgen, sondern im „Containment“ ausprobieren.
(Ich bin u.a. zu der Überlegung gekommen, weil die Bundesregierung ich glaube 300 Mio in Risikoforschung für gentechnische Freilandversuchen investiert hat - als man dann keine Risiken gefunden hat, hat man’s trotzdem verboten, weil man ja Risiken nie ausschließen kann. Das finde ich nicht so gut.)
Genau dafür müssen diese Mängel aber doch erstmal erkannt werden. Und genau daher muss man solche Konzepte überprüfen, abklopfen und kritisieren. Denn ein Problem bei solchen neuen Gesellschafts-, Wirtschafts-, etc.-Modellen ist, dass jene, die sie erdenken, immer auch von Idealen und Annahmen ausgehen, die so einfach nicht real und umsetzbar sind. Eben wie @serigala schrieb.
Das heißt nicht, dass diese Konzepte und Utopien einfach weggewischt werden sollten. Aber man sollte sich nicht vollkommen blauäugig und optimismustrunken hineinwerfen, sondern sie eben in kleinen Versuchen oder sogar in ihren einzelnen Facetten erproben – und wenn diese funktionieren, sie in größerem Maßstab implementieren. Auf diese Weise haben sich schön einst utopische Vorstellungen wie eine allgemeine Krankenversicherung in weiten Teilen der Welt durchgesetzt.