Ein Zug rollt in einen Bahnhof ein. Das klingt nicht besonders spektakulär. Aber diese Szene ist eine der bedeutendsten Filmaufnahmen aller Zeiten. Denn gedreht wurde der 45-Sekunden-Film im Jahre 1895. Entsprechend unscharf und ruckelig sieht er aus. Ein YouTuber hat den 135 Jahre alten Filmschnipsel nun mittels Künstlicher Intelligenz in 4K-Qualität restauriert.
Von Michael Förtsch
Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat – im Original Arrivée d’un train (à la Ciotat) – ist eine der ersten und bekanntesten Filmaufnahmen. Er zeigt, wie der Titel schon sagt, eine Lokomotive, die mit dampfendem Schornstein in einen Bahnhof einfährt. Auf dem Bahnsteig sind die wartenden Passagiere zu sehen, darunter eine Frau mit Kindern. Ebenso ist ein Schaffner mit einem dichten Schnurrbart zu erblicken, der wenig später auf die Kamera zugeht.
Gedreht wurde der nur 45 Sekunden kurze Stummfilm im Jahre 1895 von Auguste und Louis Lumière in der Hafen- und Industriestadt La Ciotat im Süden Frankreichs. Am 6. Januar 1896 führten sie ihn erstmals einem Publikum vor – im Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris. Bis heute hält sich das Gerücht, dass die Zuschauer, die ihn sahen aus Panik geflohen wären. Sie haben angeblich Tische umgerannt, seien gestürzt und von ihren Stühlen gesprungen, weil sie glaubten, vom Zug auf der Leinwand überfahren zu werden.
Dass es eine echte Panik gab, ist heute zwar widerlegt – aber diese Sage verdeutlicht, wie imposant und überraschend der Film seinerzeit gewirkt haben muss. Denn auch wenn sich die ersten bewegten Bilder bis zur berühmten Bildserie eines galoppierenden Pferdes von Eadweard Muybridge im Jahre 1878 zurückverfolgen lassen und der erste echte Film durch Louis Le Prince bereits im Jahre 1888 aufgenommen worden war, hatten viele Menschen derartiges noch nicht mit eigenen Augen gesehen.
Nicht die erste Filmaufnahme – aber eine der wichtigsten
Laut Historikern hatten die Brüder Lumière 1894 auf einer Ausstellung in Paris das Kinetoskop von William K. L. Dickson und Thomas Alva Edison gesehen. Es war der erste Filmbetrachter, der wiederum Aufnahmen zeigte, die mit der von Dickson und Edison entwickelten Kinetograph-Kamera aufgenommen wurden. Die Brüder Lumière, beide passionierte Fotografen und Söhne eines Fotofabrikanten, fühlten sich durch das Kinetoskop und den Kinetograph inspiriert, und enthüllten im Jahr darauf ihren Cinématographe. Das war eine Kombination aus Kamera und Projektor. Damit fertigten sie auch ihre berühmte Filmaufnahme des einfahrenden Zuges an.
Die geschichtsträchtige Aufnahme der beiden Brüder – ebenso wie zahlreiche weitere Filme, die sie drehten und vorführten– wurden mit Bedacht erhalten und archiviert. Dennoch ist der Film kein optisches Glanzlicht. Schon bei seiner Entstehung kam es zu flackernden Lichteinfällen, Überbelichtungen und einer ruckeligen Kameraführung. Die Zeit sorgte dann für Kratzer, Griesel und Unschärfen. Ein YouTuber namens Denis Shiryaev machte es sich daher zur Aufgabe, die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat aufzubereiten.
Er nutzte dafür eine bereits stabilisierte und entwackelte Fassung, die ein anderer YouTuber im 2017 ins Internet gestellt hatte. Dann griff er zu AI Gigapixel, einer Software des Entwicklers Topaz Labs, die genutzt wird, um unscharfe oder niedrig aufgelöste Fotos zu vergrößern und dabei Details und Schärfen herauszuarbeiten. Das geht mittels Künstlicher Intelligenz, die von den Machern mit Millionen von Fotos trainiert wurde, um Gesichter, Oberflächenmuster, Strukturen und Objekte zu erkennen und nachzustellen, die durch die niedrige Ausgangsauflösung eigentlich nicht mehr vorhanden sind.
Bis zu 600 Prozent soll sich ein Foto damit vergrößern lassen und das mit einem Grad an Details und Strukturen, der durchaus beeindruckt. Denis Shiryaev überarbeitete mit AI Gigapixel nun jedes Einzelbild der historischen Aufnahmen, wie er auf Reddit erläuterte. Er habe eine ganze Weile an den Einstellungen der Software getüftelt, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Tatsächlich sind in der 4K-Auflösung nun die Nieten am Kessel des Zuges und den Wagons zu sehen. Ebenso lassen sich Steine auf dem Bahnsteig, die Struktur der Kleiderstoffe der Passagiere oder sogar Falten in ihren Gesichtern zu erkennen.
4K und 60 FPS
Durch die Nachbearbeitung mit der KI-Software sah die Aufnahme optisch zwar nun schon deutlich moderner aus. Aber sie wirkte dennoch noch sehr historisch, war sie doch mit einer unsteten und niedrigen Zahl an Einzelbildern pro Sekunden angefertigt worden. Die Bewegungen der Menschen und des Zuges wirkten dadurch abgehackt, zu schnell und einfach nicht flüssig. Hier griff Denis Shiryaev zu einer Technik namens Depth-Aware Video Frame Interpolation. Mit dieser kann beispielsweise die auf Github erhältliche Software DAIN ein Video und seine Einzelbilder analysieren und mit eigens generierten Bildern auffüllen.
DAIN schätzt, wie sich ein Objekt womöglich zwischen zwei Originalbildern bewegt. Diese Technik wird unter anderem in Kinofilmen genutzt, um Superzeitlupenaufnahmen noch langsamer und damit besonders imposant zu machen. Denis Shiryaev generierte hingegen mit DAIN genügend Einzelbilder, um der Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat einen natürlichen Bewegungsablauf zu spendieren – und das mit einer Bildgeschwindigkeit von 60 Bildern pro Sekunde statt stellenweise nur 10 bis 15 Bildern pro Sekunde. Das Ergebnis ist imposant, lebensecht und lässt diese historische Aufnahme mit ganz neuen Augen sehen.
Update: Ein weiterer YouTuber namens Deoldify videos hat das Video von Denis Shiryaev genutzt, um es einzufärben. Dafür nutze er die Open-Source-KI-Software DeOldified. Jedoch ist das nur teilweise gut gelungen. Denn aufgrund des Schwankungen bei Kontrast und Belichtung wechseln auch Farben auf den einzelnen Flächen. Der Zug erscheint dadurch mal in Schwarz, mal in Blau und dann in Grün. Gleiches gilt für die Mäntel einiger wartender Passagiere.