Ihr sehnt euch nach tropischen Stränden oder belebten Städten? Zoom-Hintergründe könnt ihr auch nicht mehr sehen? Dann hat das japanische Unternehmen Atmoph vielleicht die Lösung für euch: ein digitales Fenster, das eure Wohnung an andere Orte versetzen soll. Im Interview mit Nina Blagojevic und Björn Eichstädt von unserem Partner J-BIG spricht Firmengründer Kyohi Kang über das Atmoph Window und seine Zukunftspläne.
Von Nina Blagojevic und Björn Eichstädt
Von Investoren wurde die Idee anfangs belächelt. Doch eine Crowdfunding-Kampagne verhalf dem Atmoph Window vor fünf Jahren auf den Markt. Und in der Corona-Pandemie gewinnt die Idee eines digitalen Fensters, das die ganze Welt in die eigenen vier Wände holen kann, neue Bedeutung, erzählt Atmop-Gründer Kyohi Hang. Außerdem verrät er, warum digitale Fenster aus seiner Sicht die einzigen großen Bildschirme sind, die es auch in Zukunft noch geben wird.
J-BIG: Herr Kang, was genau ist das Atmoph Window?
Kyohi Kang: Das Atmoph Window ist ein Gerät, das man sich an die Wand hängt und von dem aus man die Welt beobachten kann. Es ist wie ein Fenster mit Aussicht auf einige der schönsten Orte der Welt. Die „Fensterscheibe“ ist dabei ein Bildschirm und die Nutzer wählen den Ausblick aus den über 1.000 Videos im Atmoph Store. Das sind keine Stock-Videos, wohlgemerkt. Wir sind selbst mit einer 4K-Kamera losgezogen und haben Locations auf der ganzen Welt gefilmt. Wo immer auf der Welt Sie gerne wären, mit dem Atmoph Window haben Sie das Gefühl, dort zu sein.
Was unterscheidet das Gerät denn von den seit Jahren bekannten digitalen Bilderrahmen?
Kyohi Kang: Zunächst einmal zeigt es keine Standbilder, sondern eine dynamische, bewegte Szene, auf Wunsch auch mit Ton. Der Nutzer soll das Gefühl haben, tatsächlich aus einem Fenster zu schauen – inklusive Vogelgezwitscher und Blättern, die sich sanft im Wind wiegen. Mit dem Atmoph Window 2 haben wir dieses Erlebnis noch weiter verbessert: Ein LED-Modul an der Oberseite des Rahmens imitiert natürliches Sonnenlicht, das durch ein Fenster hereinströmt.
Ein noch tiefergehender Unterschied ist, dass das Atmoph Window den Betrachter nicht ablenkt oder durch wechselnde Bilder ständige Aufmerksamkeit fordert. Es soll einem Raum Behaglichkeit und ein Gefühl von Weite und Ruhe verleihen – und gleichzeitig dazu anregen, die Schönheit der Welt da draußen zu entdecken.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Produkt zu entwickeln?
Kyohi Kang: Eigentlich war es mein Traum, Wissenschaftler zu werden. Nachdem ich in Japan einen Abschluss in Robotik gemacht hatte, ging ich deshalb 2005 für ein Masterstudium nach Los Angeles. Das war eine sehr belastende Zeit für mich: Neben der anspruchsvollen akademischen Arbeit hatte ich mit der Sprache zu kämpfen und lernte gerade Englisch. Ich war außerdem noch recht jung und lebte zum ersten Mal allein – in einer fremden Stadt und in einer recht trostlosen Wohnung. Hier war ich also im schönen Los Angeles mit seinem blauen Himmel und grünen Palmen und alles, was ich von meinem Fenster aus sehen konnte, war die Backsteinmauer des Gebäudes nebenan.
Das hat mich extrem irritiert und ich experimentierte mit allen möglichen Gegenmaßnahmen: Ich setzte VR-Brillen auf, spielte DVDs von hawaiianischen Stränden auf meinem Fernseher oder Computer ab – alles, was mir so einfiel. Aber keine dieser Lösungen war richtig überzeugend. Selbst nach meiner Rückkehr nach Japan beschäftigte mich das Problem weiter. Und dann plötzlich die zündende Idee: Wenn das Problem das Fenster selbst ist, warum nicht einfach ein Fenster entwickeln?
Von der Robotik zum digitalen Fenster – wie kam es zu diesem Wechsel?
Kyohi Kang: Nach etwa 2,5 Jahren in den USA gab ich mein Vorhaben, Roboter-Techniker zu werden, auf und kehrte nach Japan zurück. Ich fing bei Nintendo als Softwareingenieur an und entwickelte Benutzeroberflächen für die WiiU – eine Expertise, die auch bei Atmoph eine wichtige Rolle spielt.
Während meiner Zeit bei Nintendo konnte ich außerdem aus nächster Nähe beobachten, wie die Display-Technologie immer besser und Bildschirme dünner und billiger wurden. Auch 4K-Kameras kamen um diese Zeit auf den Markt. Mir wurde klar, dass ich diese technologischen Fortschritte nutzen könnte, um ein Geschäft aufzubauen. Und 2014 taten einige meiner Kollegen bei Nintendo und ich genau das. Meinen Traum von der Robotik aufzugeben führte mich zu diesem neuen Traum – und ich bin sehr dankbar, dass sich die Dinge so entwickelt haben.
Die Anfänge des Produkts liegen also in Kalifornien. Sehen Sie auch einen gewissen Einfluss Ihres japanischen Hintergrunds?
Kyohi Kang: Der größte Faktor ist für mich die Verbindung mit der Natur. Im japanischen Shintoismus ist eine spirituelle Verbindung mit der Welt um uns herum sehr wichtig – in gewisser Weise ist die Natur das Sprachrohr der Götter. Obwohl die meisten Japaner an sich nicht sehr religiös sind, prägt diese besondere Ehrfurcht vor der Natur noch immer unsere Kultur. Besonders in Großstädten ist es jedoch manchmal schwierig, diese Verbindung innerhalb der eigenen vier Wände aufrechtzuerhalten. Das Atmoph Window kann vielleicht nicht das Haus nebenan in einen echten Garten verwandeln, aber es bringt etwas von derselben beruhigenden Kraft in Ihr Zuhause.
Was ist der Unterschied zwischen dem ursprünglichen Atmoph Window, das Sie vor über fünf Jahren vorstellten, und der zweiten Generation?
Kyohi Kang: Die Grundidee ist immer noch die gleiche, aber wir haben viele weitere Funktionen und Optionen für den Nutzer hinzugefügt. Zum Beispiel gibt es jetzt verschiedene, leicht austauschbare Fensterrahmen für unterschiedliche Einrichtungsstile und Geschmäcker. Außerdem haben wir ein Abo-Modell eingeführt, das es den Nutzern erleichtert, den gesamten Fundus an Videos zu erkunden. Wir haben zudem einginge Live-Streams in Japan eingerichtet, mit denen Atmoph-Nutzer beispielsweise den Blick aus einem Bürogebäude auf den Tokyo Tower genießen können – live und in Farbe.
In Zukunft wollen wir es Nutzern auch ermöglichen, ihre eigenen Live-Streams in die Datenbank einzupflegen – vorausgesetzt, wir können sicherstellen, dass gewisse technische Voraussetzungen eingehalten werden. Wenn das Video unscharf oder verwackelt ist, wird man bei so einem großen Bildschirm leicht seekrank. Aber wenn wir diese Herausforderungen erstmal gemeistert haben, kann ich vielleicht bald aus meinem Büro in Kyoto direkt einen Blick in die Gärten von München, Paris oder LA werfen.
Verstehe, was die Zukunft bringt!
Als Mitglied von 1E9 bekommst Du unabhängigen, zukunftsgerichteten Tech-Journalismus, der für und mit einer Community aus Idealisten, Gründerinnen, Nerds, Wissenschaftlerinnen und Kreativen entsteht. Außerdem erhältst Du vollen Zugang zur 1E9-Community, exklusive Newsletter und kannst bei 1E9-Events dabei sein. Schon ab 2,50 Euro im Monat!
Jetzt Mitglied werden!Gibt es weitere Funktionen, an denen Sie gerade arbeiten?
Kyohi Kang: Schon sehr bald werden Nutzer auch ihre eigenen Videos hochladen können. Was ist entspannender, als sich den traumhaften Ausblick aus dem letzten Urlaub ins Wohnzimmer zu holen, wann immer man Lust dazu hat? Auch hier denken wir über die Möglichkeit nach, wie Nutzer diese selbstgedrehten Videos anderen Nutzern kostenpflichtig zur Verfügung stellen können.
Seit einiger Zeit arbeiten wir auch an einem Kameramodul, welches ähnlich wie die bereits erwähnten LED-Module in den Rahmen eingebaut werden kann. Wir testen aktuelle ein Face-Tracking-Funktion, die das Fenster in einen responsiven Bildschirm verwandeln würde. Das Atmoph Window würde dadurch einem echten Fenster noch ähnlicher: Je nachdem, wo man vor einem echten Fenster steht, ändert sich schließlich die Perspektive auf die Welt „da draußen“. In Zukunft soll das auch bei einem Atmoph Window der Fall sein.
Gleichzeitig werden wir die Kamera nutzen, um Videochats in voller Körpergröße zwischen Atmoph-Nutzern zu ermöglichen. Mit der aktuellen Corona-Situation hat diese Entwicklungsrichtung eine höhere Priorität bekommen. Wir erwarten, dass wir diese Funktion im Frühjahr 2021 einführen können.
Hatte Corona noch weitere Auswirkungen auf Ihr Geschäft?
Kyohi Kang: Ja, definitiv. Als ich vor fünf Jahren Investoren den Prototyp vorstellte, sagten viele von ihnen: „Niemand braucht dieses Produkt“. Aber jetzt, wo die Menschen viel Zeit zu Hause verbringen, werden sie sich wieder bewusst, wie wichtig es ist, sich in den eigenen vier Wänden wohl zu fühlen. Außerdem dient das Atmoph Window in Zeiten, in denen das Reisen extrem eingeschränkt ist, als Fenster zur Welt.
Wohin soll die Reise für Atmoph auf lange Sicht gehen?
Kyohi Kang: Wenn ich an die Zukunft denke, stelle mir eine Science-Fiction-Welt vor, in der es in jedem Haus und in jedem Raum ein Atmoph Window gibt. Standardmäßig sehen sie wie normale Fenster aus, aber je nach Situation fungieren sie auch als smartes Interface: In der Küche könnten Sie Rezepte abrufen oder Ihre Pizzabestellung verfolgen, im Wohnzimmer ist das Atmoph Window der Rahmen für Ihr Lieblingskunstwerk.
Ich glaube, dass Smartphones über kurz oder lang von der Bildfläche verschwinden werden. Smarte Technologie wird immer kompakter werden – Chips, Kontaktlinsen, so etwas in der Art. Aber in gemeinsam genutzten Umgebungen wie dem eigenen Zuhause braucht man immer noch größere Bildschirme, die Interaktion ermöglichen. Fenster sind seit Urzeiten solche Schnittstellen. Meiner Meinung nach sind sie die einzigen großformatigen „Bildschirme“, die in der Zukunft überdauern werden.
Titelbild: Atmoph