e-NABLE: Ehrenamtliche schenken Menschen neue Hände aus dem 3D-Drucker

Die Verkleidung für ein Steampunk-Festival sorgte dafür, dass Tausende Menschen weltweit Handprothesen aus dem 3D-Drucker bekommen haben. So lässt sich die ungewöhnliche Geschichte des Open-Source-Netzwerks e-NABLE zusammenfassen. Die Gründerin und ein Community-Mitglied haben uns erzählt, wie alles anfing, was Kinder von e-NABLE lernen können und wie das Netzwerk auf die Covid-19-Pandemie regiert hat.

Von Adriano D’Adamo

„Das Universum hat uns irgendwie dahin geführt, wo wir hinmussten“, beginnt Jen Owen im Gespräch mit 1E9 ihre Erzählung davon, wie es zur Gründung von e-NABLE kam. E-NABLE ist ein weltweit agierendes Netzwerk, das mit 3D-Druckern Handprothesen anfertigt. Es umfasst mehr als 10.000 Mitglieder in über 140 Ländern, die bereits über 15.000 künstliche Hände hergestellt haben. Ehrenamtlich, kostenlos und Open Source.

Vom Steampunk-Kostüm zum Hoffnungsschimmer

Der Auslöser für die Gründung von e-NABLE war eine selbstgebaute Metallhand. Zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Ivan besuchte Jen 2011 ihre erste Steampunk-Convention. Für sein dazu passendes Kostüm fertigte sich Ivan eine große, bewegliche Metallhand mit Krallen an. Weil diese bei den Besucher:innen der Convention gut ankam, lud Ivan bei YouTube ein kurzes Video hoch, um zu zeigen, wie die Hand funktioniert. Außerdem bot er sie auf der Webseite Etsy zum Verkauf an. Die entscheidende Wendung passierte sechs Monate später: Ein Schreiner namens Richard aus Südafrika wurde auf die Metallhand aufmerksam. Er kontaktierte Ivan und bat ihn darum, für ihn neue „richtige“ Finger anzufertigen, weil er bei einem Arbeitsunfall Finger verloren hatte. So begann die Kooperation von Richard in Südafrika und Ivan in den USA.

Über einen Zeitraum von über einem Jahr – und eine Distanz von mehr als 15.000 Kilometern – arbeiteten sie zusammen an den neuen Fingern, die allerdings noch nicht aus dem 3D-Drucker kamen. Wie schon die Herstellung der Metallhand schafften es auch die echten Prothesen ins Netz: Jen dokumentierte die Arbeit der Männer auf ihrem Blog, was zum nächsten wegweisenden Kontakt führte. Während Ivan schon die Reise nach Südafrika plante, um die Prothese für Richard vor Ort zu finalisieren, meldete sich die Mutter eines kleinen Jungen namens Liam bei Jen und Ivan. Der damals fünfjährige Liam kam ohne Finger auf die Welt – und konnte ebenfalls die Hilfe von Ivan gebrauchen. Der fertigte für ihn zunächst eine kleinere Version seiner Metallhand an. Doch Ivan war klar, dass Liam aus der Prothese rauswachsen wird. Deswegen fing er an, mehr über 3D-Drucker zu recherchieren und erhielt sogar Hilfe vom 3D-Drucker-Hersteller MakerBot, der ihm zwei 3D-Drucker spendete, um Liams Prothesen zu drucken.

Und wieder sorgte das Internet für noch mehr Aufmerksamkeit. Ein von MakerBot produziertes Video über Ivan, Liam und seine neue Prothese wurde zigtausend Fach geklickt. Dieses Momentum nutzten Ivan und Jen, um die Gründung von e-NABLE in die Wege zu leiten. Der schnelle Erfolg des Netzwerks war auch dem späteren Mitgründer Jon Schull zu verdanken, der eine digitale Karte gestartet hatte, auf der sich Personen mit einem 3D-Drucker eintragen lassen konnten. Diese Karte machte es möglich, dass Freiwillige und Menschen, die Handprothesen brauchten, in Kontakt treten konnten. Ein Patent auf ihre 3D-gedruckte Hand hatten Ivan und Jen bewusst nicht angemeldet. Schließlich sollte jeder helfen können.

Von der Werkbank bis in die Schule

Von Anfang der 2010er Jahre springen wir in die Gegenwart. e-NABLE ist, wie gesagt, in über 140 Ländern mit über 10.000 Mitgliedern vertreten. Bis vor ein paar Jahren organisierten sich diese noch über eine Google-Plus-Gruppe, bis Google die Plattform dicht machte. Mittlerweile haben die einzelnen Unterverbände und Zusammenschlüsse von Freiwilligen eigene Systeme und Wege zu kommunizieren entwickelt, um zu entscheiden, wer was macht. Bei e-NABLE sind längst nicht mehr nur Personen aktiv, die einen 3D-Drucker besitzen. Das Netzwerk besteht auch aus Designer:innen, Autor:innen, Monteur:innen – und vor allem: Schüler:innen.

„Um ehrlich zu sein, mein liebster Aspekt ist es, junge Schüler:innen zu sehen, die realisieren, dass sie gerade ihre Ideen, Vorstellungskraft, Talente, Fähigkeiten und Designs genutzt haben, um das Leben anderer zu verändern“, schwärmt Jen Owen. Neben der Hilfe für Menschen mit Bedarf für Handprothesen ist die Bildung von Schüler:innen sehr wichtig für die Arbeit von e-NABLE. Viele Schulen weltweit nehmen das Angebot des Netzwerks wahr, um Schüler:innen im STEM-Bereich zu unterrichten und dafür zu motivieren. STEM steht für Science, Technology, Engineering, and Math. Das deutsche Äquivalent dazu ist MINT: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.

Laut Jen Owen kommt ein Großteil der Mitglieder über die Bildungsarbeit zu e-NABLE, also Schüler:innen, die selbst an Kursen teilnahmen. Auch andere Interessierte können sich online bei e-NABLE anmelden und müssen dafür nicht extra wieder die Schulbank drücken. Wenn aber jemand wortwörtlich eine helfende Hand braucht, kann diese Person über die Internetseite des Netzwerks in Kontakt mit freiwilligen Helfer:innen treten.

So entsteht eine Hand von e-NABLE

Um mehr über den Prozess zu erfahren, wie die Handprothesen von e-NABLE eigentlich entstehen, befragte 1E9 auch einen der Experten des Netzwerks befragt: Thierry Oquidam aus Frankreich.

Bevor gedruckt werden kann, muss geklärt werden, wie die Prothese eigentlich designet sein muss. Damit ist nicht ihre Farbe gemeint, sondern der wichtigste Teil des Werkstücks: die Schnittstelle zum Körper. Für eine normale Hand- oder Armprothese braucht Oquidam normalerweise nur drei Fotos der betroffenen Stelle des Arms aus verschiedenen Perspektiven. Wenn es ein komplizierterer Fall ist, benötigt er zusätzlich 3D-Scans. Die Schnittstelle zum Körper ist somit immer individuell angefertigt, die restliche Prothese nicht. Mittlerweile gibt es bei e-NABLE zehn verschiedene Modelle für Handprothesen aus dem 3D-Drucker, aus denen – je nach Bedarf – gewählt werden kann. Das Open-Source-Netzwerk teil ihre Designs online – mit ihren Mitgliedern und der ganzen Welt.

Eine Handprothese zu drucken dauert laut Oquidam insgesamt 20 Stunden. Zum Vergleich: Eine Hülle für ein Smartphone zu drucken dauert rund 20 Minuten. Die 20 Stunden kommen zusammen, da die einzelnen Bauteile separat gedruckt werden müssen. Für seine Handprothesen verwendet Qquidam meistens PLA-Filament, einen aus Polymilchsäuren bestehenden Kunststoff. Er betont jedoch, dass er auch andere Stoffe und Materialien für bestimmte Teile der Prothese nutzt, wenn die Prothese zum Beispiel beweglicher oder robuster sein soll.

Für die Mitglieder von e-NABLE ist eine gedruckte Hand kein unbeweglicher Block, der einfach an den Arm einer Person gebunden wird. „Unsere Prothesen sind rein mechanisch. Die Bewegung der Finger wird durch den Unterarm oder Ellbogen ausgelöst, abhängig von der körperlichen Behinderung“, beschreibt Oquidam die Handprothesen. Der Experte erklärt, dass sie nicht nur beweglich, sondern auch abnehmbar sind. Er vergleicht moderne Prothesen mit Handschuhen, die nicht direkt mit dem Körper verbunden, sondern angesteckt werden. Im Auftrag von e-NABLE erledigte er auch mehrere Spezialanfertigungen. Manche seiner Handprothesen wurden beispielsweise entworfen, damit die Klient:innen damit schwimmen, einen Bogen spannen oder Klavier spielen können.

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Es wurde noch keine Impfung gedruckt, aber…

Die Covid-19-Pandemie traf auch e-NABLE hart. Ein Grund, warum die Freiwilligen zu Beginn der Pandemie die Produktion der Handprothesen nicht weiterführen konnten, war die Ungewissheit, ob das Corona-Virus auch durch Oberflächen und Gegenständen übertragen werden konnte. Somit bestand die Befürchtung, dass sie durch ihre Handprothesen oder Utensilien das Virus weitertragen könnten. Dann handelten die Freiwilligen schnell und stellten ihre Produktion vorerst auf das Drucken von Gesichtsschutzschildern und Visieren um. Nach über einem Jahr Pandemie hat sich das Open-Source-Netzwerk den neuen Umständen inzwischen angepasst – auch durch neue Hygiene-Maßnahmen. Für Treffen, um zum Beispiel finale Abnahmen für eine Prothese zu machen, gibt es strikte Auflagen, was erlaubt ist und was nicht, um das Infektionsrisiko möglichst gering zu halten.

Die Anzahl der Neuzugänge stagnierte durch Corona, weil Schulen die meiste Zeit geschlossen hatten oder auf Online-Unterricht umstiegen und deswegen nicht mit den 3D-Druckern arbeiten konnten. Dennoch bleibt e-NABLE-Gründerin Jen Owen weiterhin glücklich und stolz auf ihr Netzwerk, weil sie sieht, wie Freiwillige auch in Corona-Zeiten jegliche kulturellen, religiösen und sozialen Differenzen beiseitelegen und sich auf eine Sache konzentrieren: Menschen helfen.

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Teaserbild: e-NABLE

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