Durchs Web3 weht der idealistische Geist des frühen Internets – aber wie lange noch?

Was sollen wir nun vom Web3, was auch immer es genau sein soll und wird, halten? Ist es nur ein Hype, ein Buzzword, der neue Liebling der Investoren – oder der Beginn einer Revolution, die uns endlich das Internet bringt, das uns immer versprochen wurde? Diese Fragen hat sich auch Yannic Plumpe gestellt, der viel zum Web3 recherchiert hat. Einen Auszug aus seiner Materialsammlung veröffentlichen wir hier als Essay.

Von Yannic Plumpe

Heute steht das Wort Unix für eine ganze Reihe von Betriebssystemen. Doch in der frühen Phase des Computerzeitalters gab es nur das eine, das ursprüngliche Unix. Ab den 1970er-Jahren wurden damit fast alle Großrechner betrieben. Ohne die einfache Benutzeroberfläche oder vorinstallierte Programme, wie man sie von Windows kennt. Um dieses System versammelte sich eine Community von Idealisten, die Unix im Laufe der Jahre immer weiterentwickelten – und die die eine oder andere glühende Streitschrift schrieben. Für offene Standards und Open Source, gegen Kommerzialisierung.

Gerade zu Beginn der Computerära herrschten eine spezielle Atmosphäre des Neuen, des Entdeckergeists und eine Kultur, die durch Offenheit und Freiheit geprägt war. Es gab keine formal ausgebildeten Informatiker, Experten oder Standards. Jeder war Quereinsteiger und darauf angewiesen, von den Fähigkeiten des anderen zu lernen. Weil digitale Systeme etwas komplett Neues waren und von der Community selbst gestaltet wurden, gab es keine oder minimale Pfadabhängigkeiten.

Natürlich entstand auch Reibung. Kommerzielle Interessen von Unternehmen spielten eine immer größere Rolle und innerhalb der Community bildeten sich unterschiedliche Strömungen und Abspaltungen. Es kam sogar zu den „Unix Wars“. Schlussendlich führte die (technische) Diversität der Community aber zu enormer Innovationskraft. Damals gesetzte Standards bilden noch heute die Grundlage der Software-Entwicklung. Und macOS, iOS, Android oder Linux basieren auf Unix oder sind zumindest davon inspiriert.

Der Traum vom Internet – und die Enttäuschung

Die beschriebene Hacker-, OpenSource- und Unix-/Linux-/Gnu-Kultur hatte außerdem einen enorm prägenden Einfluss auf Pamphlete wie Die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (1996) von John Perry Barlow oder A Cypherpunk’s Manifesto (1993) von Eric Hughes, die schon früh den Weg in ein freies Internet weisen sollten. Beide Texte formulieren die Ansprüche der neuen, durch das Internet ermöglichten Netzwerkgesellschaft, die alte Hierarchien und Machtstrukturen in Frage stellt. Aus einer zentralisierten Organisationsstruktur soll eine dezentrale Netzwerkstruktur werden.

Staatliche Macht wurde von vielen Internetpionieren angezweifelt. Sie verlangten radikale Transparenz und bevorzugten Kollaboration statt Wettbewerb. Ähnlich wie die Unix-Community zeichnete sich die frühe Internetszene durch all das aus, was das Silicon Valley noch heute gerne wäre. Sie war offen, innovativ, schlau, pragmatisch, lösungsorientiert und ein klein bisschen nerdy.

Das Problem: Es wurden Erwartungen ans Internet geweckt, die bis heute fast nur enttäuscht wurden – auch wenn sich der Mythos des „freien Internets“ fest in unseren Köpfen verankert hat. Anstatt der versprochenen Verlagerung von Macht aus zentralisierten Institutionen – den „weary giants of flesh and steel“ – auf die Netzwerkgesellschaft oder gar auf das Networked Individual , von dem im Jahr 2000 erstmals Barry Wellmann sprach, haben wir – nach der wenig idealistischen Goldgräberstimmung vor der Dotcom-Blase – einen Walled Garden aus GAFAM-Plattformen bekommen.

Google, Amazon, Facebook (Meta), Apple und Microsoft beherrschen und monetarisieren den westlichen Teil des Web 2.0. Besser gesagt eines Splinternets, eines zersplitterten Netzes, in dem China und Russland hinter Firewalls ihr eigenes Ding machen. Dazu kommen Institutionen, die bis heute nicht wissen, wie sie mit dem Internet umgehen sollen. Idealisten der ersten Stunde äußern sich seit Jahren immer kritischer zur tatsächlichen Entwicklung des Internets, zum Beispiel der WWW-Erfinder Tim Berners-Lee.

Kann das Web3 das Versprechen des Internets einlösen

Was aber haben die Geschichte von Unix und dem frühen Internet mit dem Web3 beziehungsweise der Krypto- und Blockchain-Szene zu tun?

Zum einen ähneln deren Anfänge den dargestellten Entwicklungen. Auch um das Pseudonym Satoshi Nakamoto – den (oder die) Erfinder von Bitcoin – versammelte sich nach der Veröffentlichung des Bitcoin-Whitepapers im Jahr 2008 eine kleine eingeschworene Gemeinde, die gemeinsam an der wichtigsten Kryptowährung und den damit verbundenen Ideen arbeitete. Bis Bitcoin Ende 2010, Anfang 2011 durch die Whistleblower-Plattform Wikileaks, die fortan zu Spenden in Bitcoin aufrief, der breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, passierte das in einer überschaubaren Szene.

Doch die Verbindung zwischen Wikileaks und Bitcoin ist nicht nur aus der Notwendigkeit heraus geboren, dass es zu der Zeit fast keinen Dienstleister mehr gab, der noch Zahlungen für Wikileaks abwickeln wollte oder konnte. Julian Assange, Gründer und Sprecher von Wikileaks, hatte genau zu dieser Zeit ein Buch über die Kultur der Cypherpunks geschrieben und stellte damit unmissverständlich sein Bekenntnis zu dieser Kultur klar. Dieses starke Signal nahmen auch die Entwickler um Satoshi Nakamoto wahr, denn auch sie fühlten sich allesamt der Cypherpunk-Kultur verpflichtet.

Auch das auf der Idee von Bitcoin aufbauende, wohl wichtigste Blockchain-Ökosystem wurde und wird von einer idealistischen Community entwickelt: Ethereum, das von seinem Erfinder Vitalik Buterin in der Einleitung zum dazugehörigen Whitepaper als „Next-Generation Smart Contract and Decentralized Application Platform“ beschrieben wird.

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Die andere Parallele zu den Unix- und Internetpionieren sind die Ideale der frühen Krypto- und Web3-Community: Dezentralisierung von Macht, maximale Transparenz, Open Source, Netzwerkgesellschaft. Bitcoin ist eine Antwort auf die Weltfinanzkrise von 2007, 2008. Durch kryptografische Verfahren sollen Mittelsmänner, vor allem Banken, ersetzt werden. Open-Source-Code übernimmt ihre Position. Ethereum wiederum fordert mit der Möglichkeit, Dezentrale Autonome Organisationen, kurz: DAOs, zu schaffen, nicht nur Staaten und Unternehmen heraus, sondern durch Smart Contracts und dApps, dezentralisierte Applikationen, auch Plattformbetreiber wie die GAFAM-Konzerne.

Es scheint also, dass die Akteure des Web3 die Erwartungen an das frühe Internet nun erfüllen, vielleicht sogar eine gesellschaftliche Revolution auslösen wollen. Doch auch innerhalb der Blockchain-Community hat sich längst eine Konfliktlinie herausgebildet: die zwischen Idealismus und Big Business.

Banken und Konzerne finden Gefallen am Web3

Der aktuelle Web3-Diskurs ist vielstimmig, die Crashs von milliardenschweren Projekten wie FTX, Terra Luna oder Celsius, der anfängliche Hype um NFTs und die Kursschwankungen von Kryptowährungen, die Milliardensummen von Wagniskapital-Investoren erinnern an die Zeit der Dotcom-Blase.

Während manche ursprünglichen Idealisten aus dem engsten Kreis an Entwicklern um Satoshi Nakamoto die Entwicklung von Bitcoin zunehmend kritisch beurteilen – oder gar als Desaster bezeichnen, findet das Web3 bei Akteuren, die es eigentlich überflüssig machen wollte, Anklang. Banken richten eigene Abteilungen für Decentralized Finance ein, amerikanische Bundesstaaten bringen eigene Coins heraus, Facebook verwandelte sich zu Meta und öffnet seine Plattformen für NFTs.

Ist das nur die Flucht nach vorne? Oder wird auch das Web3 die ursprünglichen Erwartungen an ein freies Internet enttäuschen? Ist das Web3 vielleicht nur der Ausdruck der Unzufriedenheit über eine gefühlte Machtlosigkeit? Wäre es womöglich austauschbar, weil es mehr um das geht, wofür das Web3 steht? Ist es Hype oder (soziale) Revolution? Eine umfassendere, reflexive Betrachtung des Web3, die über Technologie, Hypes und schnelle Profite hinausgeht, wäre aus meiner Sicht auf jeden Fall wünschenswert.

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