Wir sehen sie nur selten, wir hören sie nicht und wir spüren sie kaum. Und doch kann Luftverschmutzung tödliche Folgen haben. Insbesondere für Stadtbewohner, die ihr ständig ausgesetzt sind. In der Corona-Pandemie scheint sich das zu bestätigen. Doch der Shutdown zeigt auch, dass sich die Luftverschmutzung deutlich reduzieren lässt. Das Start-up Hawa Dawa möchte einen Beitrag leisten, damit das so bleibt.
Von Wolfgang Kerler
Noch gibt es keine eindeutigen Belege, dass die Gefahr an Covid-19 zu sterben durch schmutzige Luft steigt. Aber die Indizien mehren sich. Eine Studie der Universität Halle-Wittenberg stellte fest, dass Regionen in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland, in denen die Luft dauerhaft stark mit Stickstoffdioxid belastet ist, deutlich mehr Todesfälle verzeichneten als andere. Stickstoffdioxid, kurz: NO2, kann die Erkrankung der Atemwege und Herz-Kreislauf-Probleme begünstigen. Das ist lange bekannt.
„Da das neuartige Coronavirus ebenfalls die Atemwege befällt, liegt die Vermutung nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen der Luftverschmutzung und den Todeszahlen bei Covid-19 geben könnte", sagt Yaron Ogen, der die neue Untersuchung durchgeführt hat – und dafür auch auf Daten des europäischen Satelliten Sentinel-5P zurückgriff.
Ein Forscherteam um Xiao Wu und Rachel Nethery von der Harvard University entdeckte einen ganz ähnlichen Zusammenhang – allerdings zwischen der Corona-Sterblichkeitsrate und der Verschmutzung der Luft mit Feinstaub. Schon eine geringe Zunahme der dauerhaften Luftbelastung könne demnach zu deutlich mehr Todesfällen führen.
Einige der besonders betroffenen Regionen sind Industriezentren und Metropolen. Noch gilt es herauszufinden, welche Rolle genau ihre dichtere Besiedelung, ihre internationale Vernetzung und eben ihre oft schlechtere Luftqualität gespielt haben. Doch auch der Rückblick auf vergangene Epidemien spricht für einen Zusammenhang von Luftverschmutzung und Todesfällen. Beim SARS-Ausbruch der Jahre 2002 und 2003 war die Sterblichkeit in Städten mit besonders dreckiger Luft doppelt so hoch. Und auch während der Spanischen Grippe von 1918/19 führte Luftverschmutzung wohl zu mehr Todesopfern. Die Frage ist: Was sollten die Folgen aus dieser Erkenntnis sein?
Der Lockdown ließ die Stickoxidbelastung sinken
Karim Tarraf bemerkt jedenfalls, dass sich jetzt noch mehr Städte um bessere Luft bemühen, um etwas für die Gesundheit ihrer Bevölkerung zu tun. Genau dazu will auch das von ihm mitgegründete Münchner Start-up Hawa Dawa einen Beitrag leisten – und dabei ein Grundproblem der gesamten Debatte über Luftverschmutzung angehen: „Die Datenlage ist einfach nicht optimal“, sagt Karim im Gespräch mit 1E9. „Viele Städte wissen gar nicht genau, wann und wo die Luftqualität schlecht ist.“ Denn oft gibt es dort nur wenige, dafür teure Messstationen.
Hawa Dawa hat als Ergänzung dazu eine KI-gestützte Software herausgebracht, die zusammen mit ebenfalls selbst entwickelten, kleinen, günstigen und robusten Messgeräten ein flächendeckendes und hochauflösendes Bild der Luftqualität erzeugt. Die Sentience genannten Geräte lassen sich etwa an Gebäuden, Straßenlaternen oder Werbetafeln anbringen. Die Entwicklung der kompakten Messstation war nötig, da die Kosten für bisherige Stationen recht hoch sind. Sie brauchen eine aufwendige mechanische Aufbereitung der Luft innerhalb des Messcontainers, um Störfaktoren wie die Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Wind zu minimieren.
Durch den Einsatz moderner Kalibrierungsalgorithmen und Künstlicher Intelligenz lassen sich mit den neu entwickelten Kompaktgeräten zusätzliche Schadstoffmessungen an vielen verschiedenen Orten innerhalb einer Stadt durchführen. Zusätzlich werden Wetter-, Geo-, und Verkehrsdaten von Satelliten verarbeitet – und fertig ist ein System, mit dem die Luftqualität flächendeckend gemessen, verstanden und gemanaged werden kann.
In 25 Städten in mehreren europäischen Ländern misst Hawa Dawa bereits die Luftqualität und konnte den Effekt des Corona-Lockdowns seit März daher genau nachverfolgen. Insbesondere in den ersten Tagen ging die Belastung mit Stickstoffdioxid etwa in München deutlich zurück, danach pendelte sie sich auf etwas höhere, aber immer noch klar unterdurchschnittlichen Werte ein. Weltweit machten Satellitenbilder, die diesen Effekt für viele Regionen zeigten, die Runde.
„Wir haben eine deutliche Verringerung der täglichen NO2-Konzentration im Zusammenhang mit dem Lockdown – und zwar auf etwa 55 Prozent der Konzentration, die wir normalerweise an stark frequentierten Standorten im Stadtzentrum von München erwarten würden, und auf etwa 70 Prozent an Messpunkten außerhalb des Stadtzentrums“, erklären Karim und seine Mitgründerin Birgit Fullerton, die in Neurowissenschaften promoviert hat, gegenüber 1E9. „Auf dem Land haben wir keine Veränderung der Hintergrundkonzentration von NO2 festgestellt.“
Obwohl auch das Wetter die Luftqualität verändern kann, geht Hawa Dawa davon aus, dass vor allem die Abnahme des Autoverkehrs zur sinkenden Luftverschmutzung beigetragen hat. Das ergaben Vergleiche mit den Vorjahren und die Verwendung statistischer Modelle, um den Einfluss des Wetters herauszurechnen. Aus dieser Erkenntnis lassen sich Schlüsse für die Zeit nach Corona ziehen.
In vielen Teilen Europas ist die NO2-Konzentration in der Luft durch den Shutdown gesunken, wie diese Animation der europäischen Luftfahrtbehörde ESA und der gemeinnützigen European Public Health Alliance zeigt. Grafik: ESA / EPHA / James Poetzscher
Genauere Daten für besseres Verkehrsmanagement
Der Lockdown wird irgendwann vorübergehen, doch die verkehrsbedingte Luftverschmutzung in den Städten sollte danach nicht wieder auf die Werte vor der Corona-Krise steigen. Das findet nicht nur Karim, sondern auch Umweltschützer und Aktivisten. So fordert Sascha Marschang, der geschäftsführende Generalsekretär der gemeinnützigen European Public Health Alliance von der EU „sofort nach Ende der Corona-Krise entschlossene Maßnahmen zur drastischen Senkung der Luftverschmutzung“. Das jahrelange Einatmen von schmutziger Luft aus Verkehrsabgasen und anderen Quellen habe wahrscheinlich die Gesundheit vieler geschwächt, die jetzt in einem Kampf um Leben und Tod gegen das Coronavirus steckten, sagt Marschang.
„Wir analysieren die Luftqualität nicht getrennt, sondern bringen die Messwerte mit Klima-, Wetter und Verkehrsdaten in Verbindung“, sagt Karim Tarraf. Schließlich geht es Hawa Dawa nicht nur darum, den Städten – und auch Einzelpersonen, zum Beispiel Asthmatikern – bessere Daten zu liefern, sondern die Grundlage für ein besseres Gesundheits- und Verkehrsmanagement, für eine strategische Logistikplanung und für die Stadtentwicklung zu schaffen. Nur mit genauen Daten, die auch Wetter und Luftqualität berücksichtigen, ließen sich lokale Hotspots nachvollziehen, erklären und durch gezielte und dynamische Maßnahmen stoppen, erklärt Karim. So solle für jeden Euro, der in Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Verkehrslenkung investiert wird, der ökologische Output maximiert werden.
Dass die Steuerung des Verkehrs einen positiven Einfluss auf die Gesundheit der Stadtbevölkerung haben kann, lässt sich übrigens sehr deutlich durch historische Beispiele belegen: Während der Olympischen Spiele 1996 in Atlanta wurde der Straßenverkehr kontrolliert und eingeschränkt, was die Zahl der Autos in der morgendlichen Rush Hour um 23 Prozent verringerte. Gleichzeitig registrierten die Krankenhäuser 42 Prozent weniger Behandlungen, die mit Asthma zu tun hatten.
Rendite und Nachhaltigkeit schließen sich nicht aus
„Man kann erst nachhaltig und wirklich zukunftsorientiert wirtschaften, wenn man Klima- und Umweltschutz – und auch Faktoren wie die Luftqualität – in seine Entscheidungen einbezieht. Dabei stehen attraktive Renditen mit Nachhaltigkeit keineswegs im Widerspruch, sondern werden durch neue Technologien in Balance gebracht“, sagt Karim. „Deswegen koche ich, wenn ich die Forderung lese, man sollte die Klimaziele aussetzen, damit die Wirtschaft wieder anläuft. Wer das fordert, hat es nicht begriffen.“
Insgesamt, erzählt er, werde die Bereitschaft auch die Umwelt mitzudenken, aber immer größer. Vor allem beim Thema Verkehrsmanagement beobachtet Hawa Dawa verstärktes Interesse. Wird daraus ein Trend, wären die Städte für künftige Krisen und Pandemien besser gerüstet. Denn sie hätten eine gesündere Bevölkerung.
Titelbild: Sonst zählt Los Angeles zu den schmutzigsten Städten der Welt und liegt unter einer Smog-Glocke. Das hat sich durch den Shutdown geändert. Jorge Villalba / Getty Images