Diese ungewöhnliche Bibliothek soll die Selbstauslöschung unserer Zivilisation verhindern

Wenn es irgendwo im Weltraum andere intelligente Spezies gibt, wieso haben wir sie bisher immer noch nicht entdeckt? Oder sie uns? Eine mögliche Antwort auf diese Fragen ist ziemlich düster: Technologisch fortgeschrittene Zivilisationen neigen demnach zur Selbstauslöschung. Vor dieser möchte uns der Experimentalphilosoph und Künstler Jonathon Keats bewahren – und startet deshalb die Library of the Great Silence, die allen Menschen, Tieren, Pflanzen und Aliens offenstehen soll.

Von Wolfgang Kerler

Ein sommerlicher Tag im Jahr 1950. Auf dem Gelände des geheimen US-Forschungslabors in Los Alamos, wo führende Wissenschaftler an Atombomben arbeiten, spazieren vier Männer in Richtung Kantine. Sie unterhalten sich über einen Cartoon im Magazin New Yorker. Er zeigt kleine grüne Wesen mit Antennen auf dem Kopf, die öffentliche Mülleimer verschwinden lassen. Im Hintergrund der Zeichnung steht ihr UFO.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es UFOs gibt? Zehn Prozent? Oder doch nur verschwindend gering? Die Männer können sich nicht einigen. Am Esstisch fragt einer der Wissenschaftler dann unvermittelt in die Runde: „Where is everybody?“ Und obwohl sich das Gespräch längst um ein anderes Thema dreht, wissen alle sofort, was Enrico Fermi, der berühmte Nobelpreisträger für Physik, meint: Wo sind die außerirdischen Intelligenzen? Wenn es sie gibt, müssten wir dann nicht längst auf sie gestoßen sein?

Unabhängig davon, ob sich die Geschichte tatsächlich so abgespielt hat – was sie vermutlich hat –, zerbrechen sich seit über 70 Jahren viele Menschen den Kopf darüber, welche Antwort auf Fermis Frage, die als Fermi-Paradox bzw. als The Great Silence in die Geschichte einging, besonders schlüssig erscheint. Auch der amerikanische Experimentalphilosoph und Künstler Jonathon Keats gehört dazu. Sein neuestes Projekt, die Library of the Great Silence, startete er, weil er ausgerechnet die Antwort für wahrscheinlich hält, die für die Zukunft der Menschheit das Schlimmste vermuten lässt.

„Seit ungefähr hundert Jahren suchen wir den Weltraum aktiv nach Signalen von anderen intelligenten Zivilisationen ab – und selbst in den Jahrhunderten davor hätten wir es bemerkt, wenn kleine grüne Männchen vor unserer Haustür gestanden hätten“, sagt Keats im Gespräch mit 1E9. Noch dazu, wo wir seit geraumer Zeit Radio- und Fernsehwellen in die Galaxis senden, die von technologisch entwickelten Alien-Gesellschaften registriert werden könnten. „Die Frage ist also: Warum hatten wir noch keinen Kontakt zu außerirdischen Intelligenzen?“

Löschen sich intelligente Spezies irgendwann selbst aus?

Eine naheliegende Antwort darauf sei, dass wir tatsächlich allein sind. Doch das hält Keats angesichts von Größe und Alter des Universums für unwahrscheinlich. Wenn es uns Menschen gebe, müssten dann nicht viele weitere Spezies im Weltraum existiert haben und existieren, die irgendwann Raumschiffe bauen und das All erkunden?

„Eine andere Möglichkeit, die ich viel überzeugender finde, ist, dass eine Zivilisation, wenn sie eine technologische Komplexität erreicht hat, die sie für andere Zivilisationen in anderen Sternensystemen wahrnehmbar machen würde, zum Zusammenbruch neigt“, erklärt Keats. Vereinfacht gesagt: Kurz bevor intelligente Spezies und ihre Gesellschaften in der Lage wären, durchs Universum zu reisen und andere Zivilisationen zu treffen, zerstören sie sich selbst. Sie filtern sich heraus, weshalb diese mögliche Lösung des Fermi-Paradox auch Great Filter genannt wird.

Entstanden ist diese Überlegung während des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion, als die atomare Selbstauslöschung der Menschheit nur einen Knopfdruck entfernt schien. Doch auch heute – angesichts von Klimakrise, Pandemie und Ukraine-Krieg – erscheint sie nicht gerade abwegig. Sind wir also dem Untergang geweiht?

„Den Great Filter mag es geben oder nicht“, meint Jonathon Keats, „doch auf jeden Fall ist er eine Warnung, die uns dazu bringen kann, ein tieferes Bewusstsein unserer Situation hier auf der Erde zu erlangen.“ Mit der Library of the Great Silence, der Bibliothek der großen Stille, will Keats nun Orte schaffen, an denen Menschen, aber auch Tiere, Pflanzen und sogar außerirdische Wesen, sollten sie es wider Erwarten zu uns schaffen, gemeinsam neue Zusammenhänge über die von uns ausgelösten Transformationen des Planeten entdecken können – und damit auch neue Lösungen finden, unsere Selbstauslöschung doch noch zu verhindern. „Mit der Bibliothek biete ich einen Raum, um darüber zu sprechen, wie wir überleben, gedeihen und in Zukunft florieren können“, sagt Keats. Die Lehren dafür sollen die Besucher der Bibliothek aus der Vergangenheit ziehen.

Objekte, die die Welt verändert haben

Anders als ihr Name es vermuten lässt, soll die Library of the Great Silence – besser gesagt: die Libraries, den es soll viele große und kleine Ableger davon geben – keine Bücher enthalten. „Die Bibliothek steht allen offen, deshalb ist sie nicht auf Englisch oder Deutsch und frei von geschriebener oder gesprochener Sprache“, erklärt Keats. „Denn solche Symbole sind exklusiv, sie schließen viele Gruppen aus und sie basieren auf bestimmten Annahmen über die Welt, die unser Denken in eine bestimmte Richtung lenken. Anstelle von Büchern haben wir also Objekte, die einfach nur sie selbst sind – ohne verborgene Symbolik.“

Allerdings werden nicht irgendwelche Objekte in die Bibliothek aufgenommen, sondern nur Objekte, die an Transformationen der Gesellschaft und des Planeten beteiligt waren. „Von der paläolithischen Handaxt über Geld und Trinitit, das nach einer Atombombenexplosion zurückbleibt, bis zu Plastiglomeraten, also Plastikmüll, der in unseren Ozeanen in eine neue Form von Stein verwandelt wurde“, sagt Keats über die mögliche Auswahl von Gegenständen. „Aber auch Stacheldraht oder Kunstdünger, Tabak, Zucker, Wein oder ein Mikroskop passen dazu, weil sie die Art und Weise, wie wir leben verändert haben.“ Mit all diesen Objekten sollen Besucher der Bibliotheken diese von unseren Erfindungen verursachten Veränderungen und ihre Konsequenzen verstehen können. Durch dieses bessere Verständnis der Vergangenheit, hofft Keats, können wir informiertere Entscheidungen für die Zukunft treffen.

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Um die Zusammenhänge zwischen scheinbar nicht zusammenhängenden Objekten und Transformationen zu ergründen, bekommen die Besucher der Bibliothek von ihm Hilfsmittel an die Hand, zum Beispiel ein hölzernes Objekt aus drei überlappenden Kreisen – geformt wie ein Venn- bzw. Mengendiagramm. In den großen Kammern lassen sich drei Objekte platzieren, in die kleineren Räume, die an ihren Schnittstellen stehen, Würfel, die mit gemeinsam erdachten und damit für alle verständlichen Symbolen bemalt werden können, die ihre Gemeinsamkeiten ausdrücken. Der Raum in der Mitte des Diagramms, an dem sich alle drei Kreise überschneiden, bleibt für die tiefere Erkenntnis, die gewonnen wird. Auch mit Logikgattern, die zwischen die Objekte platziert werden, kann spielerisch experimentiert werden – „und“, „oder“, „nicht und“ und so weiter.

Die unsichtbare Verbindung zwischen einem Teddybären, einem Mikroskop und Kupfer

Wie sollen ein Teddybär, ein Mikroskop und ein Klumpen Kupfererz zusammenhängen? Mit der Library of the Great Silence sollen wir es herausfinden können, um besser zu verstehen, wie unsere Technologien und Entscheidungen die Welt beeinflussen. „Es gibt bedeutsame Verbindungen zwischen Objekten, die auf den ersten Blick keine Verbindungen zu haben scheinen“, sagt Keats. „Durch das gezielte Anordnen der Objekte können wir unsere blinden Flecken und unsere Annahmen über die Welt um uns herum aufdecken, die in unserer Sprache begründet liegen.“

Jonathon Keats wünscht sich, dass auf der ganzen Welt Zweigstellen der Library of the Great Silence entstehen – zum Beispiel an verlassenen Orten, die selbst Zeugnisse der Transformation sind, in klassischen Museen oder auch in Form von kleinen, an Vogelhäuschen erinnernden Mikro-Filialen, die überall aufgestellt werden können. Ein Exemplar davon seht ihr auf dem Titelbild des Artikels. Erste temporärer Bibliotheken gab es in diesem Jahr bereits: in einer nach einem Erdbeben verlassenen Kirche im italienischen Dorf Fontecchio in den Abruzzen, in der Modernism Gallery in San Francisco und an einer Sternwarte in Kalifornien, dem Hat-Creek-Radioobservatorium.

Noch richten sich die Manifestationen der Library of the Great Silence vor allem an Menschen, aber sie soll eben auch für Tiere, Pflanzen und Außerirdische offenstehen. „Es ist eine Einladung an alle Geschöpfe und lebendigen Systeme“, sagt Jonathon Keats „auch, wenn es für mich noch eine offene Frage ist, wie wir diesen die Interaktion ermöglichen.“

Holt mit uns die Library of the Great Silence nach Deutschland!

Wir wollen die Library of the Great Silence auch nach München holen – und im Rahmen unseres Festivals der Zukunft vom 22. bis 24. Juli im Deutschen Museum in München eröffnen. Ihr könnt uns dabei unterstützen! Habt ihr Objekte, die einen Platz in der Bibliothek finden sollten, weil sie Transformationen repräsentieren, die das Leben auf unserem Planeten verändert haben? Dann schickt uns eine Mail mit einer kurzen Beschreibung eures Objekts und einem Foto an hallo@1e9.community – danke!

Titelbild: Patrick Shen

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Ich würde diese Argumentation weiterführen: Warum sollten sich alle Zivilisationen ausgelöscht haben? Sollten aufgrund der Größe des Universums und der schieren Anzahl potenzieller (intelligenter) Zivilisationen trotz eines möglichen Trends zur Selbstauslöschung nicht dennoch eine nicht geringe Zahl von Zivilisationen diesen kritischen Punkt überstanden haben?

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Ja.,… Da bin ich d’accord. Wenn man mal das gedankliche Experiment nach der Kardashev-Skala fortführt., von einer Zivilisation die nachdem sie sich die Energie ihres Planeten., dann ihrer Sonne und schließlich des gesamten Systems ihrer Galaxis zu eigen gemacht hat… Warum soll sie sich dann selbst zerstören?
Das würde sich für mich dann eher nach einem sehr, sehr starken Überlebenstrieb und explorativen Ansatz anhören. Das wäre dann wohl auch die Sorte Aliens die es bis zu uns (oder schon zu uns geschafft haben). Ich gehe sehr stark davon aus., dass es extraterrestrische Zivilisationen gibt. Wir sehen ja jetzt schon., das alles recht homogen im All verteilt… (Wir entdecken z. B. Immer mehr Exoplaneten). Mich langweilt dieser Ansatz der sich selbst zerstörenden oder feindlichen Aliens. Vielleicht haben sie ja verdammt viel Humor., und wir sind ihr geheimes Lieblings-Fernsehprogramm in das sie sich einklinken um uns zu beobachten…

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