Diese Idee rettet Millionen von Menschen vor dem Erblinden

Vor über 40 Jahren setzte sich ein indischer Augenarzt ein scheinbar unerreichbares Ziel. Er wollte die Welt von vermeidbarer Blindheit befreien. Dank gnadenloser Effizienz, neuester Technologie und tiefer Spiritualität könnte sein Traum wahr werden. Die Inspiration lieferte ihm der Fast-Food-Riese McDonald’s.

Von Wolfgang Kerler

Die Karriere von Dr. Govindappa Venkataswamy begann erst, als sie schon vorbei war. 1976 musste er im Alter von 58 in den Ruhestand. An den staatlichen Krankenhäusern in Indien war das damals üblich. Doch der Augenarzt hatte seine Mission noch nicht erfüllt. Er wollte so viele Menschen wie möglich vor dem Erblinden retten.

Allein in seinem Heimatland lebten zwölf Millionen Menschen, die ihr Augenlicht verloren hatten, obwohl es bei den meisten von ihnen hätte verhindert werden können. Denn sie litten am Grauen Star, der häufigsten Augenkrankheit der Welt. Dabei trübt sich die Linse immer stärker ein. Betroffene sehen zunächst wie durch einen Schleier. Irgendwann sehen sie gar nichts mehr.

Während in Deutschland Grauer-Star- oder Katarakt-Operationen längst Standard waren, konnte sich in Indien 1976 kaum jemand die Eingriffe leisten. Außerdem fehlte es an Kliniken und Ärzten. Zusammen mit seinen Geschwistern eröffnete Venkataswamy, genannt Dr. V., daher eine kleine Augenklinik in der südindischen Stadt Madurai.

Sie starteten mit nur elf Betten, von denen sechs für Patienten reserviert waren, die kostenlos behandelt wurden. Nur weil sie Hypotheken aufnahmen und immer wieder den Schmuck der Familie verpfändeten, konnten sie ihre Klinik mit dem Namen „Aravind“ überhaupt am Laufen halten.

Aber Dr. V. war überzeugt, dass aus dem winzigen Projekt etwas Großes werden würde. Denn er hatte vor, die Methoden eines ungewöhnlichen Vorbilds zu übernehmen. Deswegen sprach er – zum Erstaunen seiner Freunde und Kollegen – sehr häufig von Hamburgern.

Dr. V. kopierte das Erfolgsrezept von McDonald‘s

„Das Konzept von McDonald’s ist ziemlich einfach“, sagte Dr. V. vor 15 Jahren in einem Interview. „Auf der ganzen Welt bilden sie Menschen unabhängig von ihrer Religion oder Kultur aus, um an hunderten verschiedenen Orten ein identisches Produkt herzustellen und anzubieten.“

Die wichtigsten Lehren, die er sich aus dem Burger-Geschäft abschaute: Effizienz wie am Fließband, hohe Stückzahlen, knallharte Kostenkontrolle, Standardisierung und unumstößliche Qualitätsstandards.

Zu diesem unternehmerischen Denken kam seine innere Einstellung. Habe jemand ein „spirituelles Bewusstsein“ entwickelt, sagte er, so könne er gar nicht anders, als sich für seine Mitmenschen einzusetzen. „Wir helfen dabei uns selbst. Wir heilen uns selbst.“

Mehr über seinen Antrieb erzählte Dr. V. in der sehr sehenswerten Dokumentation Infinite Vision von 2004. Zwei Jahre später starb er im Alter von 87 Jahren und hinterließ ein gemeinnütziges Klinikimperium.

500.000 Augenoperationen pro Jahr

Aus einer Klinik mit elf Betten sind inzwischen 13 Kliniken mit über 4000 Betten geworden, die ein Einzugsgebiet mit über 100 Millionen Einwohnern abdecken. Pro Jahr finden dort etwa 500.000 Katarakt-Operationen statt. Aravind ist damit Weltmarktführer und die Versorgung in Indien um ein Vielfaches besser als beispielsweise in China.

Nach wie vor werden die meisten Patienten bei Aravind gratis behandelt. Denn trotz des Aufschwungs der vergangenen Jahre bleibt Indien ein armes Land. Das durchschnittliche Einkommen pro Jahr liegt bei etwa 2.000 Euro. Nur wer es sich leisten kann, muss für Operationen zahlen. Doch das reicht den Aravind-Häusern, um profitabel zu sein, da sie die Kosten minimiert haben, ohne die Qualität zu vernachlässigen. Denn noch immer gilt das McDonald’s-Prinzip.

Bemerkbar macht sich das, zum Beispiel, im OP-Saal. Auf jeden Arzt kommen dort zwei Operationstische und vier Assistenten, die vorher in einem der eigenen Trainingscenter ausgebildet wurden. Während ein Patient operiert wird, bereiten die Assistenten den nächsten bereits vor. Ist der erste Eingriff beendet, muss sich der Arzt nur umdrehen und kann weitermachen. Statt einer Operation pro Stunde, schaffen die Aravind-Mediziner sieben bis acht. Das senkt die Kosten pro Patient gewaltig.

Als es in den 1980er-Jahren üblich wurde, nach der Entfernung der getrübten Augenlinsen künstliche Linsen einzusetzen, stand das Aravind-System vor einer Herausforderung. Aus dem Westen importierte Linsen kosteten damals 200 Dollar und waren für indische Kliniken damit unbezahlbar. Also stieg Dr. V. 1992 selbst in die Produktion ein und schaffte es, den Preis für eine Linse auf zwei Dollar zu drücken. Heute exportiert Aravind seine Linsen in über 130 Länder.

Aravind experimentiert mit Künstlicher Intelligenz

Die medizinische Versorgung in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ist auch deshalb oft schwierig, weil es zu wenig Ärzte gibt, Millionen von Menschen aber in Dörfern abseits der Metropolen leben.

Von Anfang an setzte Dr. V. daher auf „Eye Camps“, bei denen Mitarbeiter der Klinik aufs Land fahren und dort mobile Screening Center aufbauen. Die Einheimischen werden untersucht. Alle, die eine Operation brauchen, werden mit dem Bus ins Krankenhaus gebracht und nach der OP und ein paar Tagen der Überwachung zurückgebracht. Aus eigener Tasche könnten sie sich die Fahrt meist nicht leisten.

Mit dem Aufkommen von Webcams führten die Aravind-Kliniken zügig auch Telemedizin ein. In einigen Regionen eröffneten sie sogenannte Vision Centers. Dort arbeiten medizinische Assistenten, die einfache Untersuchungen selbst durchführen können. Zur Diagnose und Beratung werden per Videoschalte Ärzte aus dem Krankenhaus zugeschaltet.

Derzeit testet Aravind, ob sich Künstliche Intelligenz einsetzen lässt, um Patienten in ländlichen Gegenden noch besser zu versorgen. „Wir arbeiten mit Google und anderen Anbietern zusammen,“ erzählt Dr. Aravind Srinivasan im Gespräch mit 1E9. Er ist der Neffe von Dr. V., hat den Namen der Kliniken als Vornamen und gehört wie über 30 andere Familienmitglieder zum Leitungsteam des Unternehmens.

„Der Verlauf vieler Augenkrankheiten muss regelmäßig überwacht werden“, sagt der Augenarzt, der auch einen MBA von der Universität von Michigan hat. „Wir suchen nach Wegen, wie Patienten das mit ihren Smartphones oder in kleinen Kiosken machen können.“

Aravind Srinivasan kann sich gut vorstellen, dass der Fortschritt bei KI in Zukunft nicht nur zu einer individuellen, sondern auch einer frühzeitigen Behandlung führen wird. „Heute sind wir im Krankheiten-Behandeln-Modus“, sagt er. „Aber wir könnten es schaffen, den Ausbruch von Krankheiten besser vorherzusagen und ihren Ausbruch zu verhindern oder zu verzögern. Ich bin wirklich optimistisch, dass wir das mit Technologie schaffen können.“

Die erste Aravind-Klinik in Afrika

Bei diesen Experimenten verliert er aber nicht die Vision des Gründers Dr. V. aus den Augen: die Welt von vermeidbarer Blindheit zu befreien. Nach Angaben der WHO leiden 1,3 Milliarden Menschen an einer Sehbehinderung. 36 Millionen sind blind. Immer noch ließen sich 80 Prozent aller Einschränkungen durch die richtige und rechtzeitige medizinische Versorgung vermeiden.

Die Gewinne, die die Kliniken erzielen, fließen in die weitere Expansion. Das erfolgreiche Geschäftsmodell teilt Aravind Eye Care mit hunderten Kliniken auf der ganzen Welt – und wird nun auch selbst im Ausland aktiv. Eine Stiftung hat in Abuja, einer Stadt in Nigeria, eine Augenklinik errichtet, die von Aravind seit Anfang dieses Jahres betrieben wird.

„Ich halte es wirklich für möglich, dass alle Menschen die augenmedizinische Versorgung bekommen können, die sie brauchen“, sagt Aravind Srinivasan. „Wir haben schließlich bewiesen, dass dies auch in Ländern mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen möglich ist. Jetzt braucht es nur noch den politischen Willen, das woanders zu wiederholen.“

Teaser-Bild: Aravind Eye Care

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