Die Stalker und die Zone: Ein Science-Fiction-Mythos als Stoff für Filme und Games

Vor mehr als einem halben Jahrhundert erschien der Roman Picknick am Wegesrand. Er wurde zur Vorlage für den Science-Fiction-Klassiker Stalker, der ein ganzes Subgenre begründete. Dieses hat in jüngster Zeit zahlreiche erfolgreiche Romane und vor allem Videospiele hervorgebracht.

Von Michael Förtsch

Es ist ein Schritt zu viel. Und sie wissen es. Jeder weitere Schritt kann tödlich sein. Und doch wagen sie es und gehen hinein. Hinein in die Zone. In einen Ort, der sowohl unheimlich vertraut als auch fremd erscheint. Denn mal gibt es dort Häuser, Wiesen und Wälder. Mal vielleicht sogar einen kleinen Vergnügungspark oder einen herrlichen Sandstrand, von dem man sich vorstellen kann, wie sich dort an einem Sommertag Menschen vergnügen und schöne Erinnerungen sammeln. Aber dort, in der Zone, sind keine Menschen. Jedenfalls nicht viele. Dafür aber jede Menge tödliche Gefahren. Seien es unsichtbare Anomalien, die die Gesetze der Physik verdrehen und einen Menschen wie ein Blatt Papier zerreißen oder zerknüllen können. Oder Kräfte, die unmerklich die eigene DNA umschreiben. Oder Wesen, bei denen das längst geschehen ist und die unerbittlich Jagd auf jeden machen, der sich in ihr Territorium wagt.

Die Menschen, die sich diesen Gefahren stellen und sich in die Zone wagen, sind die Stalker. Sie sind Schatzgräber, Forscher, Abenteurer, aber auch gebrochene Geister. Der Stalker ist eine Figur, eine Schablone, vielleicht sogar ein Archetyp für eine Heldenfigur, die keine Heldenfigur ist und nur im Zusammenspiel mit der wohl ebenso archetypischen Zone lebendig wird und funktionieren kann. Eine Dynamik, die immer wieder aufs Neue fasziniert und in immer neuen Iterationen und Interpretationen zu fassen versucht wird. Erdacht wurden der Stalker und die Zone von den Brüdern Arkadi und Boris Strugazki in ihrem Roman Picknick am Wegesrand, der erstmals 1972 in der russischen Zeitschrift Aurora erschien. Die beiden sowjetischen Schriftsteller waren damals mit Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein und Praktikanten bereits zu einer Institution der phantastischen Literatur geworden.

Das Brüderpaar war bekannt dafür, mit Metaphern und Metaphorik nicht nur große Fragen zu stellen, sondern auch das System der Sowjetunion und das sozialistische Menschenbild gut getarnt in Frage zu stellen. So auch in Picknick am Wegesrand, das zwischen den Zeilen den Kontrast zwischen dem permanenten Kalten Krieg, dem immer sichtbarer werdenden Verfall der Sowjetunion und der von der sowjetischen Führung propagierten und institutionell verordneten Normalität kontrastierte. Eine Hypernormalität, wie sie der Berkley-Professor Alexei Yurchak in seiner Geschichtskritik Everything Was Forever, Until It Was No More nannte. Picknick am Wegesrand ist aber auch ein allgemeines Gedankenexperiment, eine Übung darin, zu erforschen, was wäre, wenn Gesellschaft und Individuum plötzlich das Unvorstellbare vor ihrer Haustür vorfänden.

Genau das geschieht im Roman der Brüder. An sechs Orten auf der Erde haben sich quasi über Nacht bizarre Zonen gebildet. Kosmische Besucher, so scheint es, sind dort gelandet und haben, wie die Menschen nach einem Picknick, ihren Müll zurückgelassen. Müll allerdings, der weit über das technische Verständnis der Menschen hinausgeht und an manchen Stellen dieser Zonen die Naturgesetze verbiegt oder ganz außer Kraft setzt. An manchen Stellen dieser Zonen spielt die Zeit verrückt und der Raum wird gekrümmt und gequetscht. Oder bizarre, nahezu unsichtbare Spinnennetze durchziehen Gebäude und schneiden durch Fleisch und Knochen wie ein heißer Draht durch Butter. Die Zonen sind also sowohl Horte unglaublichen Wissens und potentieller Erkenntnis als auch Todesfallen. Regierungen haben sie eingezäunt und abgeriegelt, damit niemand hineinkommt, der nicht hinein soll. Aber natürlich schaffen es immer wieder welche, trotzdem hinein zu gelangen: Stalker wie Roderic Schuchart, die sich über die Hinterlassenschaften hermachen wie Ameisen über den Abfall.

Picknick am Wegesrand

Schuchart ist ein einfacher Mann, dessen Heimatstadt Harmont am Rande einer Zone liegt. Zunächst ist es die Aussicht, mit seinen Ausflügen und dem Fund und Verkauf seltener Artefakte seine kleine Familie ernähren zu können, die ihn das Risiko eingehen lässt. Doch bald entsteht eine Verbindung zwischen der Zone und dem Stalker. Sie lockt ihn hinein. Und jedes Mal, wenn er in die Zone eindringt, dringt die Zone mehr und mehr in ihn und seinen Alltag ein. Es wird immer schwieriger, sie wieder loszuwerden. Die Zone verändert nicht nur ihn und seine Seele, sie verwandelt auch seine kleine Tochter und holt den toten Vater zurück, der vor Jahren begraben wurde. Schuchart ist weniger ein Bezwinger der Zone als ein Gefangener ihrer verführerischen, aber auch zersetzenden Kräfte. Zugleich ist die Zone seine einzige Chance auf Erlösung. Oder genauer: ein Artefakt, das sich irgendwo in ihr befinden soll und angeblich alle Wünsche erfüllt.

Genau diese Dynamik faszinierte auch Andrei Tarkowski, der mit Stalker 1979 den Film drehte, der das Konzept der Zone und des Stalkers erst richtig bekannt machte. Arkadi und Boris Strugazki selbst hatten das Drehbuch auf der Grundlage des letzten Kapitels ihres Romans geschrieben. Und doch ist Stalker anders. Der Film ist auf das Nötigste reduziert, hüllt die Natur der Zone in ein Mysterium, deutet nur die Motivation des Stalkers an, der sich im Kultfilm mit einem Professor und einem Schriftsteller auf die Suche nach einem Raum macht, der angeblich die sehnlichsten Wünsche erfüllen kann. Der Film ist kein fantastisches Abenteuerdrama, sondern eher eine minimalistische, elegische und fast poetische Meditation über Zeit, Sehnsucht, Leidenschaft und Verlust. Es gibt keine aufreibende Action oder spektakuläre Effekte.

Dennoch gelang es Tarkowski, mit Hilfe einiger origineller Kameratricks und der bewussten Wahl der Schauplätze die entrückte Natur der Zone zu inszenieren. In einer Szene stehen die drei Männer in ihren abgetragenen Kleidern auf einer grünen Wiese. Ein Bach schlängelt sich hindurch. Gräser und Kräuter wiegen sich langsam im Wind. Dann beginnt es zu schneien. Zumindest sieht es so aus. Eine weiße Flocke taumelt langsam vom Himmel herab, senkt sich auf die Gesichter der Männer. Es ist eine unwirkliche Szenerie und einer der eindringlichsten Momente in Stalker. Doch es war kein Schnee, der in dieser Einstellung in der Nähe von Tallinn in Estland vom Himmel rieselte. Es waren, wie sich der Tontechniker Vladimir Sharun später in einem Interview mit der russischen Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda erinnerte, Partikel aus den Schornsteinen eines Chemiewerks, das nur wenige Kilometer entfernt seine Arbeit verrichtete.

Dieselbe Chemiefabrik leitete auch giftige Abwässer in einen Fluss, den die Schauspieler für mehrere Aufnahmen immer wieder durchwaten mussten. Schon während der Dreharbeiten traten allergische Reaktionen auf das „schreckliche Gift“ der Chemiefabrik auf, wie Sharun sagt. Mehrere Frauen aus der Crew bekamen juckende Rötungen und Ausschläge im Gesicht und an den Armen. Doch dabei blieb es vielleicht nicht. Bis heute hält sich die Vermutung, dass die Dreharbeiten an eben diesem Ort für die spätere Krebserkrankung von Andrei Tarkowski, seiner Frau Larissa und des Schauspielers Anatoli Solonizyn verantwortlich waren. Gedreht wurde an einem Ort, den die Menschen aus Tallinn und Umgebung bewusst mieden, weil sie um seine seltsame Wirkung wussten, wussten, dass das Wasser verseucht und die Luft voller Gift war. Fast wie die Zone in Andrei Tarkowskis Stalker selbst.

Ein Archetyp

Was Andrej Tarkowski mit Stalker gelang, war nicht nur die Verfestigung des Archetyps der Zone. Sondern vor allem eine Faszination für ihre Fremdheit zu entfesseln. An dieser Faszination ist wohl nicht zuletzt die Tatsache schuld, dass die Zone Wirklichkeit geworden ist. Zumindest in gewisser Weise. Nach der Kernschmelze im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl 1986 wurde eine Sperrzone von 30 Kilometern beschlossen. Dazu gehört auch die menschenleere Stadt Prypjat, die so hastig verlassen wurde, dass in einigen Häusern noch gedeckte Tische stehen. Bekannt wurden auch die Bilder eines kleinen Rummelplatzes, der wenige Tage nach der Katastrophe eröffnet werden sollte. Teile dieses Gebietes sind noch heute Todeszonen. Der Rote Wald, dessen Kiefern durch die hohe Strahlung abstarben und sich rot färbten, ist einer der gefährlichsten Orte der Welt.

Das Kellerabteil im Hospital von Prypjat in dem die Kleidung der strahlenkranken Feuerwehrmänner geworfen wurde, die den Reaktorblock zu kühlen versuchten, ist derart kontaminiert, dass es „der Höllenraum“ getauft wurde. Es musste daher wohl so kommen, dass Picknick am Wegesrand, Stalker und die Katastrophe von Tschernobyl zusammenfanden. Und zwar in STALKER: Shadow of Chernobyl, einem 2007 veröffentlichten Horror- und Überlebensvideospiel, in dem die Spieler als ein Stalker die Umgebung des havarierten Atomkraftwerks erkunden. Die wurde in der Historie des vom ukrainischen Studio GSC Game World entwickelten Werkes in Teilen wieder bevölkert – bis es 20 Jahre nach der ersten Katastrophe plötzlich zu einer neuen Explosion des Reaktorblocks kam, die die Umgebung gleich dem Strugatzki-Roman mit gefährlichen Anomalien und Artefakten sprenkelte – und Tiere und Menschen in blutrünstige Ungeheuer verwandelte.

Die Stalker in Shadow of Chernobyl und seinen bisher zwei Ablegern sind sowohl Einzelgänger als auch in Banden und Fraktionen unterwegs. Wie die in schmutzigen Mänteln und geflickten Schutzanzügen umherirrenden Schatzsucher bei Gesprächen am Lagerfeuer immer mal wieder verlauten lassen, ist die Zone für sie die einzige Chance auf ein besseres Leben. Sie hoffen auf wertvolle Artefakte, die ihnen Firmen und Wissenschaftler für teures Geld abkaufen. Doch viele der Stalker werden nie ein besseres Leben finden, denn sie werden die Zone nicht lebend verlassen. Das ist eine Gewissheit, der sich keiner stellen will und die deshalb im Alkohol ertränkt und auf den Märschen durch die unwirtlichen Gegenden von der allgegenwärtigen Gefahr verdrängt wird.

U-Bahnen und Monster

Nicht nur, aber vor allem wegen der mystisch-nihilistischen Atmosphäre gelten die Stalker-Videospiele heute als Kultklassiker. Nicht wenige Entwickler haben versucht, dem nachzueifern und das Erfolgsrezept neu zu interpretieren. Dazu gehört das ebenfalls in der Ukraine von ehemaligen Stalker-Programmierern gegründete Studio 4A Games, das 2010 Metro 2033 veröffentlichte, das der Handlung des gleichnamigen Romans des Journalisten und Schriftstellers Dmitri Alexejewitsch Gluchowski folgt. Demnach kam es im Jahr 2013 zu einem Atomkrieg, der einen Großteil der Menschheit auslöschte. In Moskau konnten sich jedoch viele Menschen in die Tunnel der weit verzweigten Metro retten, wo sich im Laufe der Jahre eine eigene Zivilisation entwickelte.

Die Zone ist in Metro 2033 und seinen Nachfolgern in Spiel- und Romanform nicht irgendein abgegrenztes Gebiet, sondern die gesamte Erdoberfläche. Radioaktive Strahlung, giftige Luft, Eis, Schnee, mutierte Tiere und Menschen machen sie zur Todesfalle. Es ist eine Umkehrung. Nicht die normale Welt umhüllt eine gefährliche Zone, sondern die gefährliche Zone umhüllt die normale Welt – oder zumindest die Reste davon, die die Überlebenden in den Tunneln retten und konservieren konnten. In Chernobylite vom polnischen Studio The Farm 51 hingegen muss ein Atomphysiker nach Tschernobyl reisen, um seine Verlobte zu finden – und dabei möglichst die Chernobylites meiden, mysteriöse Anomalien, die durch die konzentrierte radioaktive Strahlung entstanden sind.

Kleinere Games, die von Stalker inspiriert wurden, sind Tunguska: The Visitation und ZERO Sievert. Ersteres ist ein Rollenspiel mit isometrischer Perspektive ähnlich den 1990er-Rollenspielen der Fallout-Reihe, das in einer Sperrzone in Tunguska angesiedelt ist, wo 1908 ein Meteorit über der Oberfläche explodiert ist. Auch ZERO Sievert ist von klassischen Rollenspielen inspiriert und transportiert den Helden in ein Ödland, das von Monstern und mysteriösen Phänomen und gefährlicher Strahlung geprägt ist.

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Zurück in die Zone

Derzeit arbeitet das 2014 neugegründete Studio GSC Game World mit Stalker: Heart of Chornobyl an einem offiziellen neuen Ableger der Stalker-Saga, der noch im November dieses Jahres erscheinen soll. Nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine wurde die Arbeit vorübergehend pausiert, da einige der Entwickler zum Militärdienst eingezogen wurden. Im Mai zogen das Studio und ein Gros der Entwickler von Kiew nach Prag in der Tschechischen Republik, um die Arbeit dort zu beenden. Das Team fühlte sich in der Ukraine nicht mehr sicher. Doch auch in Prag geriet das Team ins Fadenkreuz. Russische Hacker griffen das Studio an, stahlen Daten, wollten die Stalker-Entwickler erpressen. Einige der Spielemacher blieben aber auch bewusst in der Ukraine zurück, um Familie und Freunde zu unterstützen und als Freiwillige zu helfen.

In Stalker 2 verschlägt es einen unerfahrenen Neuling in das Gebiet rund um das Kernkraftwerk, das in vielen Fällen mit realen Orten identisch sein soll. Für viele der Entwickler ist das Gebiet um das Kernkraftwerk, das sich auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und der heutigen Ukraine befindet, ein Teil ihrer eigenen Geschichte oder der Geschichte ihrer Familie – und damit ein ganz persönlicher Mythos. Ein Mythos, der erschreckt und fasziniert. Einige der Entwickler sind deshalb selbst zu Stalkern geworden. Sie haben das Gebiet auf geführten Touren erkundet, fotografiert und dokumentiert, um der geschichtsträchtigen Region und dem belasteten Erbe der ehemaligen Sowjetrepublik, das so viele Leben gekostet und geprägt hat, gerecht zu werden. So wie auch die Stalker in der Buchvorlage, der Verfilmung und den Spielen von der Zone geprägt wurden. Im Guten wie im Schlechten.

Auf kuriose Art und Weise steht die Zone symbolisch dadurch auch für unsere moderne Zeit. Sie ist ein ambivalentes Kontinuum, das Hoffnung und Verzweiflung, Wissen und Nichtwissen, Erlösung und Zerstörung verknüpft. Sie ist ein Spiegel für das Unbekannte, das sich sowohl im Äußeren als auch im Inneren jedes Menschen verbirgt. Die Faszination, die sie ausübt, ist zeitlos, weil sie die existenziellen Fragen des Lebens in eine greifbare, doch unergründliche Form gießt. Wie die Stalker selbst, die sich immer wieder in ihre gefährlichen Tiefen wagen, suchen wir in der Zone nach Antworten, nach Sinn – und nicht selten nach uns selbst.

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