Der Milliardär Elon Musk gilt mit seiner Raketenfirma SpaceX als Pionier der privaten Raumfahrtindustrie. Doch gab es bereits vor ihm einen wagemutigen Unternehmer, der mit selbst entwickelten Raketen in den Weltraum vorstoßen wollte: Lutz Kayser. Der Gründer der westdeutschen Orbital Transport und Raketen Aktiengesellschaft, kurz: OTRAG, wagte sich in den 1970ern auf unbekanntes Terrain, um seine Vision einer Bündelrakete umzusetzen. Der waghalsige Plan scheiterte jedoch.
Von Moritz Müller-Freitag
Zaire im Jahr 1977. Ein Mann steht auf einem entlegenen Felsplateau im afrikanischen Buschland. Sein Blick schweift über den weiten Dschungel der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Zusammen mit einer Gruppe eigenwilliger Ingenieure hat er die Firma OTRAG gegründet, ein Raketen-Start-up aus Westdeutschland, das von dem Diktator Mobutu Sese Seko unterstützt wird. Nach Monaten harter Arbeit soll hier die erste privat entwickelte Trägerrakete getestet werden – ein neun Meter hoher Moloch, der aus der Ferne an ein Bündel von Aluminiumstiften mit Raketenspitze erinnert. Der Countdown verläuft ohne Probleme. Mit einem röhrenden Fauchen hebt sich die Rakete nach dem Start von der Rampe und steigt zwölf Kilometer in die Höhe, bevor sie zurück zur Erde taumelt. Das ganze Plateau bricht in Jubel aus.
Dieses Szenario klingt unglaublich, bizarr, sogar verrückt. Eine Raketenfirma aus Westdeutschland soll Ende der 1970er versucht haben, eine Rakete ins All zu schießen? Das wären knapp drei Jahrzehnte bevor Elon Musk mit seinem Raumfahrtunternehmen SpaceX die Falcon 1 erstmals ins All beförderte. Ja, das hört sich unwahrscheinlich an. Aber die unglaublichen Geschehnisse haben tatsächlich stattgefunden und wurden nun im Dokumentarfilm Fly Rocket Fly aufgearbeitet. Der Film wurde 2018 auf dem Filmfest München uraufgeführt und ist mittlerweile auf Amazon Prime und Vimeo als Stream verfügbar.
Der Aufstieg und Fall der OTRAG ist eine der seltsamsten, aber auch bemerkenswertesten Gründungsgeschichten überhaupt. Es ist eine Odyssee voller Abenteuer und Ambitionen, die verblüffende Parallelen zu Werner Herzogs Fitzcarraldo aufzeigt: In Herzogs Monumentalstreifen verkörpert der unvergessliche Klaus Kinski einen exzentrischen Abenteurer, der inmitten des Amazonas ein Opernhaus errichten will – und dafür sogar ein Dampfschiff über einen steilen Hügel ziehen lässt, der ihm den Weg versperrt. Trotz der erstaunlichen Ingenieursleistung scheitert die Mission von Fitzcarraldo – Herzog selbst bezeichnete sie gar als „Eroberung des Nutzlosen“. Dasselbe ließe sich auch über die OTRAG sagen. Trotz mehrerer erfolgreicher Raketentests war OTRAG ein spektakulärer Misserfolg. Die Firma verbrannte Unmengen an Investorengeldern und verhedderte sich im Politgespinst des Kalten Krieges. Ihr Niedergang zeigt was mit Start-ups passieren kann, wenn das „Timing“ falsch, die Technologie spekulativ und der Markt nicht gewillt ist, bahnbrechende Innovationen anzunehmen.
Das Kayserreich der OTRAG
Der Mann auf dem Plateau im Dschungel war Lutz Kayser, ein deutscher Luft- und Raumfahrtingenieur, der gut und gerne als der Elon Musk des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Bereits seit den 1960er Jahren verfolgte Kayser seinen Traum einer kostengünstigen Trägerrakete für den Weltraumtransport. Als Schüler des Raketenpioniers Eugen Sänger experimentierte er mit neuartigen Antriebssystemen, die durch Verwendung kommerziell verfügbarer Technologien und preiswerter Treibstoffe die Herstellungskosten um ein Vielfaches senken würden. Die Zusammenarbeit mit Sänger mündete in Kaysers erstem Start-up: die 1970 gegründete Technologieforschung GmbH. Die Firma strich 4,5 Millionen Deutsche Mark an Forschungsgeldern ein und wurde von der Regierung der Bundesrepublik angeheuert, um eine erschwingliche Alternative zum von Problemen geplagten Europa-2-Raketenprogramm anzubieten.
In dieser Zeit entwarf Kayser seine Vision für ein modulares Raketensystem, mit dem Satelliten kostengünstig in den Weltraum transportiert werden sollten. Die Idee war so einfach wie revolutionär: Kayser plante die Bündelung vieler einfacher Tank- und Triebwerksmodule zu einer Bündelrakete. Das kleinste Raketenmodul sollte aus vier verbundenen Tankeinheiten und vier Triebwerken bestehen. Größere und damit leistungsfähigere Trägerraketen wurden ermöglicht, in dem größere Mengen an Tank- und Triebwerksmodulen zusammengebaut werden. Die größte Konfiguration, die sich Kayser auf dem Papier ausmalte, hätte bis zu 600 Triebwerksmodule umfasst! Und das war nicht die einzige Besonderheit: Statt die Stufen übereinander zu stapeln, sollten sie ineinander geschachtelt und nach dem Ausbrennen wie Zwiebelschichten abgeworfen werden. Diese Anordnung machte die Rakete nicht gerade zu einem schönen Vehikel – gerne wurde das eigenartige Design mit einem Bund Spargel verglichen. Doch Ästhetik war nicht das Ziel, die Devise lautete: „low cost statt high tech“.
Das Rezept, um die Kosten gering zu halten, lag in drei einfachen Konstruktionsprinzipien, von denen einige durch die neue Riege an New-Space-Firmen wiederentdeckt wurden:
Das erste Konstruktionsprinzip von Kaysers Billigrakete war in der modularen Plattformarchitektur verankert. Der Bau einer ganzen Familie von Trägerraketen basierend auf den gleichen Tank- und Triebwerksmodulen vereinfachte die Raketengestaltung enorm und sparte Millionen an Entwicklungskosten. Es bedeutete auch, dass viele Tanks und Triebwerke gleichzeitig in Produktion sein konnten, was Massenherstellung und niedrige Preise ermöglichte. Die gleiche Konstruktionsphilosophie findet heute bei SpaceX Anwendung: Die Falcon 9 verwendet neun identische Triebwerke, plus ein weiteres für den Antrieb der zweiten Stufe, während die Falcon Heavy 27 Einheiten dieses Triebwerks nutzt. Das schafft einen Kreislauf, in dem das Betriebsmodell das Geschäftsmodell vorantreibt: Als billigster Anbieter am Markt kann sich SpaceX eine größere Anzahl von Start-Verträgen sichern, was wiederum zu höheren Stückzahlen und Skaleneffekten führt. Sobald sich dieses „Flywheel“ in Bewegung gesetzt hat, wird es mit der Zeit einfacher und effizienter das Geschäft zu betreiben.
Das zweite Konstruktionsprinzip bestand darin, kommerziell verfügbare Komponenten statt teurer „weltraumtauglicher“ Bauelemente zu verwenden. Die Tankeinheiten wurden etwa aus langen Pipelinerohren gefertigt, die vom deutschen Stahlunternehmen Krupp für die Erdölindustrie hergestellt wurden. Für das Öffnen der Treibstoffventile wurde ein VW-Scheibenwischermotor umfunktioniert. Auf allzu komplexe und störanfällige Bauteile wie Turbopumpen und Schubvektorsteuerung wurde ganz verzichtet. Stattdessen wurden die Treibstofftanks teilweise mit Druckluft gefüllt, die den Treibstoff in die Triebwerke presste. Die Steuerung der Rakete erfolgte wiederum durch Drosselung einzelner Triebwerke. Auch SpaceX sollte später Bauelemente aus bestehenden Lieferketten verwenden und Komponenten einfach umnutzen: Bei der Falcon 1 wurden beispielsweise leicht erhältliche Autowaschventile mit modifizierten Dichtungen verwendet, um den Treibstoff in die Triebwerke einzuspeisen. Die erste Generation des Dragon-Raumschiffs verwendete einen modifizierten Badezimmertür-Riegel zur Sicherung der Ladeschließfächer.
Das dritte Konstruktionsprinzip war, ein einfaches Raketentriebwerk mit extrem kostengünstigen Treibstoffen zu betreiben. Die grundlegende Aufgabe eines Raketenbrennstoffs besteht darin, in Kombination mit einem Oxidationsmittel gleichmäßig und intensiv zu verbrennen. Sobald der Brennstoff und das Oxidationsmittel durch ein Einspritzventil in die Brennkammer gelangen, erzeugen sie ein heißes Gas, das unten aus der glockenförmigen Auslassdüse schießt. Das erzeugt den notwendigen Schub, um die Rakete nach oben zu befördern. Der heute gebräuchlichste Raketentreibstoff ist eine Mischung aus hochraffiniertem Kerosin – genannt RP-1 – und flüssigem Sauerstoff – auch LOX genannt. SpaceX, Rocket Lab und viele andere Raumfahrtunternehmen arbeiten heute mit diesem Treibstoffmix. Kayser entschied sich für eine wesentlich billigere Kombination: Dieselöl als Brennstoff und Salpetersäure als Oxidator. Diese Mischung war zwar kostengünstig und leicht erhältlich, erzeugte jedoch gleichzeitig weniger Schub pro Kilogramm als RP-1 und LOX und war extrem giftig.
Eine gefährliche Mischung
Ein Großteil der frühen Arbeiten am neuen Raketenkonzept wurden seinerzeit auf einem vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gemieteten Prüfstand in Lampoldshausen, nördlich von Stuttgart, durchgeführt. Über einen Zeitraum von vier Jahren führten Kaysers Ingenieure Hunderte von Triebwerkstests durch, um den Dieselöl-Salpetersäure-Cocktail zu perfektionieren. Die größte Herausforderung dabei war die „Hypergolität“ des Treibstoffs. Dieselöl und Salpetersäure entzünden sich bei Kontakt sofort und verbrennen höchst ungleichmäßig. Dadurch war das bloße Anlassen des Triebwerks eine echte Herausforderung. Erfolgte die Zündung zu spät, hatte sich ein Teil des Treibstoffgemisch bereits in der Brennkammer angesammelt und explodierte, was das Triebwerk in der Regel zerstörte. Die Gruppe erzielte letztlich den Durchbruch, indem sie ein radiales Kraftstoffeinspritzsystem entwickelte, mit dem ein ideales Dampfgemisch aus Kraftstoff und Oxidationsmittel erzeugt werden konnte.
Nach diesem Erfolg kam ein unerwarteter Rückschlag. Denn 1974 hatte die westdeutsche Regierung das Interesse an dem Projekt verloren und beschloss, die Raketenforschung auf eine neue, europaweite Trägerrakete, die Ariane 1, zu konzentrieren. Der Technologieforschung GmbH wurden prompt die Mittel entzogen. Doch Kayser ließ sich nicht beirren. Er begann, nach privaten Geldgebern zu suchen, was sich jedoch als schwierig herausstellte. Risikokapitalgeber, wie wir sie heute kennen, gab es 1974 in Deutschland noch nicht. Auch in den USA steckten Firmen wie Kleiner Perkins und Sequoia, beide 1972 gegründet, noch in den Kinderschuhen – und waren für einen kaum bekannten Unternehmer aus Westdeutschland unerreichbar.
Kayser entschloss sich zu einer Finanzierungsart, die man heute als Crowdfunding bezeichnen würde. Dafür sammelte er Geld von wohlhabenden Einzelpersonen ein, welche ihre Investitionen als steuerliche Verluste abschreiben konnten. Nur wenige Investoren glaubten, dass Kaysers Unternehmen erfolgreich sein würde. Aber das spielte keine Rolle, denn sie konnten einen Verlust von bis zu 275 Prozent des eingesetzten Kapitals steuerlich geltend machen. So unüblich diese Strategie war, so erlaubte sie Kayser eine der größten Finanzierungsrunden durch „Business Angels“ auf die Beine zu stellen: Er konnte von insgesamt 1.500 Einzelpersonen – darunter viele Zahnärzte und Rechtsanwälte – 173 Millionen D-Mark einsammeln. Das wären heute knapp 270 Millionen Euro.
So entstand 1975 mit der OTRAG das erste private Raumfahrtunternehmen der Welt. Der obskure Name stand für Orbital Transport- und Raketen Aktiengesellschaft. Das Ziel der neuen Firma war, die erste Billigfluglinie für den Weltraum zu werden – mit deutlich niedrigeren Preisen und für Kunden, die bisher keinen Zugang zum Weltraum hatten (darunter etwa Regierungen von Entwicklungs- und Schwellenländern oder kommerzielle Satellitenanbieter). „Wir wollen die Startkosten auf ein kommerziell vernünftiges Verhältnis zu den Satellitenkosten senken“, sagte Kayser 1978 im Gespräch mit dem amerikanischen Journalisten John Dornberg. „Da die Satelliten selbst immer billiger werden und die Trägerraketen immer teurer, hat man das Gefühl als würde man Zementsäcke in einem Rolls-Royce transportieren. Aber um Zement zu transportieren, sollte man einen Lastwagen benutzen. Und genau den bauen wir: einen Weltraumlastwagen.“ Um seinen Plänen mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, heuerte er kurz nach Gründung Kurt Debus als Vorstandsvorsitzenden an. Er war der ehemalige Direktor des Kennedy Space Center der NASA und ein langjähriger Kollege von Wernher von Braun. Die Raumfahrt Community blieb dennoch skeptisch und scherzte, dass „der Spargel niemals fliegen wird“.
Die Finanzierung war jedoch nicht die einzige Hürde, die die OTRAG zu überwinden hatte. Der Brüsseler Vertrag von 1954 untersagte den Start von Langstreckenraketen auf deutschem Territorium. Kayser machte sich daher auf die Suche nach einem großen, dünn besiedelten Startplatz entlang des Äquators, wo die Erdumdrehung es erleichtert Raketen in die Umlaufbahn zu befördern. Er verhandelte mit mehreren Ländern, darunter Brasilien und Indonesien, bevor er sich schließlich auf ein Land festlegte, das man kaum als politisch stabil bezeichnen konnte: die Republik Zaire – die heutige Demokratische Republik Kongo. In einem verblüffenden Geschäft mit dem Diktator Mobutu erhielt OTRAG das Exklusivrecht, ein riesiges Gebiet von 100.000 Quadratkilometern für bis zu 25 Jahre zu pachten. Hierbei handelte es sich um eine Fläche so groß wie die ehemalige DDR. Vor allem aber konnte OTRAG das Gebiet mietfrei nutzen, zumindest bis das Unternehmen rentabel wurde. Die Nachbarstaaten Zaires kritisierten dieses Geschäft prompt als eine Art neuen Kolonialismus. Auch die ehemalige Sowjetunion protestierte und trat eine „Fake News“ Kampagne los, die suggerierte, dass Westdeutschland die OTRAG als Scheingesellschaft benutzen würde, um Militärraketen in Afrika zu entwickeln.
Kayser ignorierte all diese Warnzeichen und begann, Material nach Zaire zu fliegen. Innerhalb weniger Monate hatte sein Team einen privaten Weltraumbahnhof im kongolesischen Dschungel eingerichtet – inklusive einer provisorischen Startrampe, einem Kontrollbunker und einer Wohnanlage. Der Bauingenieur Victor Löbermann blickt im Dokumentarfilm auf die Anfänge in Zaire zurück: „Ich habe die anfangs für Spinner gehalten. Es war so unwirklich – am Arsch der Welt im Busch wollten die Raketen zünden! Doch mit der Zeit leckte ich Blut. Wann bekommt man noch mal die Chance im Niemandsland was zu bauen?“
Eine Skandalfirma
Im Mai 1977 war die OTRAG dann endlich bereit für die erste öffentliche Demonstration einer einstufigen Flüssigrakete mit vier Triebwerken. Obwohl dessen Tanks nur zu 20 Prozent gefüllt waren und die Rakete nur eine Höhe von zwölf Kilometern erreichte, erregte der Jungfernflug weltweit Aufmerksamkeit. Und falls danach noch jemand Zweifel hatte, dass Kaysers Spargel fliegen konnten, wurden diese beim nächsten Start des Unternehmens im März 1978 endgültig beerdigt. Die zweite Rakete, identisch mit der ersten aber mit vollen Tanks, erreichte eine Höhe von 30 Kilometern, bevor die Triebwerke ausgingen. In der anschließenden Pressekonferenz teilte Kayser den Journalisten mit, dass die OTRAG bis 1981 voll einsatzbereit sein und zehn kommerzielle Starts pro Jahr durchführen würde. Er kündigte auch an, dass der Start der größten Trägerrakete des Unternehmens zum halben Startpreis des Space Shuttle der NASA oder der Ariane 1 der ESA geordert werden könnte. Was konnte jetzt noch schief gehen?
Wie sich herausstellte, eine ganze Menge. Die beiden Supermächte, die USA und die Sowjetunion, machten sich wegen des Privatunternehmens, das möglicherweise Spionagesatelliten in den Orbit transportieren könnte, zunehmend Sorgen. Frankreich beäugte die Entwicklung der OTRAG als größter Anteilseigner am Ariane-Raketenprogramm ebenfalls mit Misstrauen. Dadurch geriet das deutsche Raketenunternehmen zunehmend ins Kreuzfeuer von Washington, Moskau und Paris. Weitere schlechte Nachrichten standen an, als Mobutu im Juni 1978 den Startplatz mit einem großen Pressekorps im Schlepptau besuchte. Sie kamen, um den dritten Testflug zu bestaunen, wurden jedoch Zeugen einer Katastrophe: Kurz nach dem Start drehte die Testrakete nach links und rauschte in den einige Kilometer entfernten Luvua Fluss. Es war eine schmerzhafte Erinnerung daran, wie schmal die Fehlertoleranz bei der Entwicklung von Raketen ist. Aber schlimmer noch: Die Medienberichte von diesem Tag ließen es so aussehen, als ob die OTRAG hier einen Marschflugkörper statt einen Weltraum-LKW gestartet hätte. Entsprechend schnell entfachte ein politischer Hagelsturm. Die Sowjetunion und Frankreich erhöhten ihren Druck auf Mobutu und stellten ihm eine millionenschwere Entwicklungshilfe in Aussicht. Mobutu löste den Pachtvertrag mit der OTRAG schlussendlich auf und forderte das Unternehmen auf, seine Anlagen in Zaire bis zum Ende des Jahres zu schließen.
Im Jahr 1979 musste sich Kayser somit erneut auf die Suche nach einem Startplatz begeben. Nach erfolglosen Gesprächen mit Brasilien und Frankreich verlegte er die Anlage in aller Stille in die Sahara in Libyen. Kaysers Entscheidung, sich mit dem Machthaber Muammar Gaddafi einzulassen, war ein ernüchternder Beweis dafür, dass er einen weiteren Teufelspakt mit einem Diktator in Kauf nahm. Die Verbindung zu Libyen war der Tropfen, der das Fass dann aber zum Überlaufen brachte. Der OTRAG-Vorstand entließ Kayser umgehend und ernannte Frank Wukasch zum neuen Geschäftsführer. Unter ihm startete die OTRAG mehrere weitere Raketen, aber gelangte aus ganz anderen Gründen in die Nachrichtensendungen: Mitte der 1980er Jahre begann der Bundesfinanzhof die finanzielle Situation des Unternehmens zu durchleuchten. Das Gericht kam zum Schluss, dass die OTRAG eine reine Abschreibungsgesellschaft war und schloss das Schlupfloch, das die Investoren einst gelockt hatte.
Ohne neue Finanzmittel und öffentliche Unterstützung gingen der OTRAG die Möglichkeiten aus, weiter zu operieren. Im Jahre 1987 wurde das Unternehmen schließlich abgewickelt. Der OTRAG-Gründer Kayser starb 2017 kurz nach Fertigstellung des Dokumentarfilms Fly Rocket Fly.
Das Vermächtnis von OTRAG
Wenn uns die OTRAG-Saga eines lehrt, dann dass es bei einem erfolgreichen Start-up ebenso sehr auf das Timing ankommt wie auf die richtige Vision: Ist man zu früh dran, ist der Markt noch nicht reif; ist man dagegen zu spät dran, kämpft man einen aussichtslosen Kampf gegen die Platzhirsche. Leider ist das Timing für den Unternehmer oft schwer zu bestimmen, geschweige denn zu kontrollieren. Zwei der bekanntesten Misserfolge aus dem Silicon Valley zeigen dies eindrucksvoll: Sowohl GO Corp als auch General Magic versuchten zu Beginn der 1990er Jahre einen Tablet-Computer wie das spätere iPad auf den Markt zu bringen. Beide Konzepte waren zwar visionär, aber das Timing und die Technologie stellten sich als unausgereift heraus. Letztendlich gingen beide Unternehmen pleite, ohne jemals ein marktfähiges Produkt veröffentlicht zu haben. „Es ist wie beim Surfen“, schrieb GO-Corp-Gründer Jerry Kaplan später über das Scheitern. „Es kann viele Surfer auf ihren Brettern geben. Aber man muss genau an der richtigen Stelle sein, um die Welle ganz oben zu erwischen.“
Lutz Kayser erkannte als Erster das Potenzial der privaten Raumfahrt – lange bevor die Welle ihren Scheitelpunkt erreicht hatte. Er hatte die richtige Idee zum falschen Zeitpunkt. Weitaus beunruhigender war jedoch seine Skrupellosigkeit, sich mit afrikanischen Diktatoren einzulassen und in ein politisches Minenfeld zu spazieren. Kaysers eigenwillige Naivität wirkt auf Außenstehende verblüffend; in der Start-up-Welt ist sie tatsächlich nicht so ungewöhnlich. Elon Musk ist der beste Beweis dafür, dass erfolgreiche Unternehmer nicht immer rationale Entscheidungen treffen: Kein klar denkender Mensch würde sein gesamtes Vermögen in zwei Firmen investieren, um parallel die Raumfahrt- und die Automobilindustrie zu revolutionieren. Marc Porat, der ehemalige CEO von General Magic, kommentiert dieses Verhalten wie folgt: „Eine Firma zu gründen erfordert einen enormen Antrieb. Und dieser Antrieb wurzelt teilweise in einer selektive Wahrnehmung und der unterdrückte Selbstbeobachtung.“ Doch auch hier gibt es Grenzen: Start-up scheitern zwangsläufig, wenn Irrationalität und Naivität mit einem völligen Mangel an Urteilsvermögen zusammenkommen.
OTRAG war auch aus anderen Gründen zum Scheitern verurteilt. Zum einen war die Technologie extrem spekulativ. Kaysers Konstruktionsprinzipien sind aus heutiger Sicht bemerkenswert und weitsichtig, die Umsetzung wies jedoch Mängel auf. Am problematischsten war das Gewicht der Rakete, was auf die unkonventionelle Architektur und das geringe Schub-/Gewichtsverhältnis der Treibstoffe zurückzuführen ist. Die Trägerrakete wäre bei gleicher Nutzlastkapazität doppelt so schwer wie konventionelle Raketen gewesen. Zudem wurde die Steuerung der Rakete durch das selektive Drosseln von vielen Einzeltriebwerken nie erprobt und hätte sich sicherlich als schwierig erwiesen.
Darüber hinaus traf Kaysers Idee auf einen Markt, der nicht reif für die Entwicklung kommerzieller Raketen war. Jason Calacanis hat sich hierzu wie folgt geäußert: „Es kommt nicht darauf an, wer zuerst am Markt ist, sondern wer an den Start geht, wenn der Markt bereit ist.“ Kayser setzte auf die These, dass eine drastische Senkung der Startkosten einen Markt für kommerzielle Nutzlasten aus der Taufe heben würde. Diese Annahme erscheint aus heutiger Sicht unrealistisch, selbst wenn die Technologie funktioniert hätte oder die politische Lage eine andere gewesen wäre. Die großen Satellitenflottenbetreiber von heute gab es in den 1970er Jahren noch nicht. Der europäische Satellitengigant SES – einer der wichtigsten Kunden von SpaceX – wurde beispielsweise erst 1985 gegründet. Außerdem dauerte es weitere drei Jahrzehnte bis Technologieunternehmen wie Facebook oder Amazon damit begannen, Trägerraketen für ihre eigenen Internetsatelliten zu buchen. Kayser gibt zum Ende des Dokumentarfilms zu: „Das ist wie bei einem Kamel – man kann es zum Wasser bringen, aber man kann es nicht saufen machen. Wenn der Markt keine günstigen Transportmöglichkeiten in den Weltraum verlangt, dann gibts eben noch keinen Markt.”
Das Timing von SpaceX erwies sich als weitaus besser, da es mit stetig steigenden Startpreisen und reduzierten Optionen in der Raketenwelt zusammenfiel. Dies hatte zur Folge, dass Kunden wie NASA eher bereit waren, in kommerzielle Konzepte zu investieren, welche die Kosten für den Transport von Personen und Fracht in den Weltraum senken könnten. Auch kam es Anfang der 2000er Jahre zu einem kulturellen und institutionellen Wandel innerhalb der staatlichen Raumfahrtprogramme. Im Jahr 2006 beschloss NASA, von ihren traditionellen Cost-plus-Fee-Verträgen abzuweichen und ihren Auftragnehmern keinen Gewinn auf die anfallenden Kosten zu garantieren. Stattdessen begann die Behörde, Festpreisverträge an eine Reihe von konkurrierenden Anbietern zu vergeben. Dadurch verlagerte sich das Risiko von NASA auf private Unternehmen und machte die Behörde von einem Aufseher privater Auftragnehmer zum Hauptkunden für „New Space“-Start-ups. Für den letztendlichen Erfolg von SpaceX kann man die Bedeutung dieser Neuordnung kaum überbewerten. Immerhin war es das „Weihnachtsgeschenk“ der NASA – ein 1,6 Milliarden US-Dollar schwerer Vertrag für Missionen zur Versorgung der ISS –, das SpaceX 2008 vor dem Bankrott bewahrte.
Das soll jedoch nicht heißen, dass Elon Musk nicht die volle Anerkennung für den Erfolg von SpaceX zusteht. Niemand hat seinen Beitrag als Gründer besser auf den Punkt gebracht als der Mars-Visionär Robert Zubrin:
„Im Gegensatz zu anderen Raumfahrt-Magnaten investierte Musk nicht einfach einen entbehrlichen Teil seines Vermögens, sondern widmete sich dem Projekt mit all seinem Talent und seiner Leidenschaft. Als ich Musk im Jahr 2001 zum ersten Mal traf, hatte er ein gutes Verständnis für wissenschaftliche Prinzipien, wusste aber kaum etwas über Raketenmotoren. Als ich ihn 2005 dann in seiner ersten kleinen Fabrik in Los Angeles besuchte, war er zu einem Experten für Raketentriebwerke gereift. Bei meinem nächsten Besuch einige Jahre später hatte er zwei Misserfolge seiner ersten Trägerrakete, der Falcon 1, erlebt. Und trotz dieser Rückschläge und den Strapazen auf sein Vermögen und seinen Ruf war er fest entschlossen, weiterzumachen. Dieser grenzenlose Einsatz machte letztendlich den Unterschied.“
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Obwohl Deutschland nun mit Isar Aerospace wieder in das kommerzielle Weltraumrennen einsteigen will, kann man das Münchner Unternehmen kaum als ein „Null-zu-Eins-Start-up“ wie OTRAG bezeichnen. Inzwischen gibt es weltweit über 100 kommerzielle Anbieter von Raketenstarts und nicht genug Nachfrage für alle. Experten sehen eine Marktbereinigung auf weniger als zehn Unternehmen voraus. SpaceX-Präsidentin Gwynne Shotwell geht sogar noch weiter, indem sie meint, es gebe nicht genug Platz „für mehr als zwei, vielleicht drei dieser Mikro-Trägerraketen“. Es gibt jedoch einen Hoffnungsschimmer: In einer Welt, in der sich die geopolitische Großwetterlage zunehmend verschlechtert, könnte sich Isar Aerospace nichtsdestotrotz als Erfolg herausstellen, indem es Europa ein unabhängiges und kostengünstiges Tor zum Weltraum bietet. Sollte dies gelingen, würde sich der Kreis schließen, den Kayser vor einem halben Jahrhundert begonnen hat: Sein Neffe Lin Kayser sitzt nämlich im Beirat von Isar Aerospace.
Dieser Essay erschien zuerst auf Englisch auf muellerfreitag.com. Michael Förtsch hat ihn für 1E9 übersetzt.
Titelbild: Lutz Kayser, der Gründer der OTRAG. OTRAG