Das Videospiel „The Invincible“ erweckt die Welt von Stanisław Lem zum Leben

In einem Videospiel lässt ein Studio aus Polen die Science-Fiction-Welt des Autors Stanisław Lem aufleben. Als Astronautin folgt der Spieler darin der Handlung aus dem Kultroman Der Unbesiegbare. Das Ergebnis ist vor allem optisch und ästhetisch ein einzigartiges Erlebnis.

Von Michael Förtsch

Der Planet Regis III ist eine raue, aber auf seine Weise auch wunderschöne Welt. Die Oberfläche ist von ausgedehnten Wüsten und schroffen Felsebenen gezeichnet. Immer wieder brechen brutale Stürme los, die einem die Haut von den Knochen zu reißen drohen. Gleichzeitig verfügt Regis III über ein Meer mit blauem Wasser und eine Atmosphäre, die über Sauerstoff und Stickstoff verfügt und zumindest zeitweise für Menschen erträglich ist. Doch da ist auch noch irgendetwas anderes, wie die Crew des Forschungsschiffs Firefly feststellen muss, die den Planeten im Auftrag des Interplanetaren Commonwealth untersuchen soll.

Als die Wissenschaftlerin Yasna wieder zu Bewusstsein kommt, kann sie sich nicht entsinnen, was ihr geschehen ist oder wo die Kollegen abgeblieben sind, die mit ihr auf dem in Orange- und Brauntönen getünchten Felsbrocken gelandet sind. Nachdem sich Yasma aufgerafft und kurz orientiert hat, blitzen kurz einige Erinnerungen auf. Der Trupp hatte ein Camp errichtet und sie in einem Logbuch zur Orientierung einige markante Felsformationen auf einer Karte eingezeichnet. Daraufhin marschiert Yasna los.

Das Game des Studios Starward Industries besteht vor allem aus Laufen, Wege und Zielpunkte finden, um nach und nach das Rätsel von Regis III zu lösen. Denn The Invincible – auf Deutsch: Der Unbesiegbare – ist kein Actiontitel, sondern orientiert sich an den gerne als Walking Simulator bezeichneten Adventure-Titeln mit Ego-Perspektive, die sich in den 2010er Jahren mit Gone Home, Dear Esther, The Stanley Parable und Firewatch eine kulturell beachtete Nische erarbeiteten. Denn sie stellten sich als ideale Werkzeuge heraus, um auch weniger ambitionierte und erfahrene Spieler interaktive Geschichten erleben zu lassen.

Obwohl während der sieben bis zehn Stunden Spielzeit viel gelaufen wird, wird es dabei nicht langweilig. Yasna stößt auf das zurückgelassene Camp, einen defekten Roboter und den ersten Forscherkollegen aus ihrer Crew. Letzterer befindet sich in einem besorgniserregenden Zustand. Körperlich scheint ihm nichts zu fehlen, allerdings kann er nicht sprechen und reagiert nicht auf Yasna – es scheint fast, als wäre sein gesamtes Gehirn gelöscht worden wie eine Festplatte. Immerhin hat die Raumfahrerin bald Kontakt zu ihrem Kommandanten, dem Astrogator Novak, der auf dem Schiff zurückgeblieben ist. Er weist sie an, auch die weiteren Mitglieder des Forschungstrupps zu finden, um sie in einer Rückholkapsel auf die Firefly zu bringen, wo sie versorgt werden können.

Wo ist die Crew?

Die Suche nach den verschwundenen Raumfahrern führt Yasna immer weiter ins Landesinnere, wo sie den Spuren ihres offenbar besonders eifrigen Kollegen Gorsky folgt. Mal nutzt sie ein Peilgerät, das die grobe Richtung der Sender in den Raumanzügen verorten lässt, mal einen Scanner, der eine mysteriöse Struktur erkennen lässt, der ihr Kollege offenbar nachgehen wollte. Bei dieser Struktur handelt sich um ein Gewirr aus metallenen Stäben und Pflanzen, die tief in die Erde reichen und genauso hoch hinauswachsen. Während dieser Wanderungen stößt die Raumfahrerin immer wieder an ihre physischen und psychischen Grenzen.

Die Wissenschaftlerin gerät außer Atem, stürzt, rutscht ab und muss sich selbst Mut zusprechen, weiterzumachen. Wenn sie sich hochziehen muss oder auch nur eine Tür öffnet, wird die Anstrengung sicht- und hörbar. Im Gespräch mit Novak lässt sich zudem in Yasnas Gefühlswelt blicken, die je nach Wahl der Antwortmöglichkeiten mal mehr, mal weniger stark offenbar wird. Im Laufe des Spiels erlebt die Astronautin drückende Kopfschmerzen, ist entkräftet und dehydriert. Ihr wird immer wieder schwarz vor Augen. Der Spieler muss dazu für Yasna an mehreren Stellen moralische Entscheidungen treffen, die den Ausgang der Handlung bestimmen – allerdings keine allzu großen Auswirkungen haben.

Schon bald ahnt Yasna, dass ihr dasselbe Schicksal wie ihren Kollegen droht – was auch immer dessen Ursache ist. Ein Schicksal, das, wie sich bald herausstellt, auch die Besatzung eines anderen Raumschiffs ereilte: des riesigen Raumkreuzers Der Unbesiegbare, der von der konkurrierenden Fraktion der Allianz auf die Oberfläche geschickt wurde. The Invincible – oder eben auf Deutsch: Der Unbesiegbare – basiert auf dem gleichnamigen Roman von Stanisław Lem aus dem Jahr 1964, der nach jenem Raumschiff benannt wurde. Jedoch trafen die Entwickler die Entscheidung, keine direkte Nacherzählung des Romans zu liefern.

Die Story von Yasna und ihrem Team wurde vom Studio selbst erdacht. Sie spielt parallel zur Handlung des Romans, die sich um den Offizier Rohan dreht. Dieser spürt mit der Crew des Unbesiegbaren dem Schicksal des Schwesterschiffs Kondor nach und trifft dabei auf die gleichen Anomalien wie Yasna. Tatsächlich scheinen sich die Wege der beiden – für jene, die den Roman kennen – bereits früh an der ein oder anderen Stelle zu kreuzen. Fast so, als hätten sie sich nur um einige Stunden verpasst.

Die oft sehr ruhige, nachdenkliche und unaufgeregte Gangart des Videospiels wird immer wieder von überraschend cineastischen Momenten unterbrochen. Zum Beispiel, wenn Yasna tief in einen Abgrund stürzt oder wenn sich plötzlich ein gigantischer Roboter inmitten eines schrecklichen Unwetters mit seiner Kanone durch eine Felswand brennt und droht, die Forscherin zu zertrampeln. Genauso beeindruckend und bildgewaltig inszeniert ist es, wenn Yasna das erste Mal auf die Ursache all der Merkwürdigkeiten auf Regis III trifft.

Äußerst schick

In spielerischer Hinsicht bringt The Invincible nichts Neues. Das Spiel ist auch nicht sonderlich abwechslungsreich – abgesehen von einigen Momenten, in denen ein Offroad-Fahrzeug gelenkt werden kann. Ein großer Makel ist das allerdings nicht. Jedoch kann es manchmal etwas frustrieren, wenn Yasna einen Vorsprung nicht hoch- oder runterklettern kann, weil sie wenige Zentimeter zu weit links oder rechts positioniert ist, oder das Symbol für eine Aktion nicht aufblinkt, weil der Blick nicht punktgenau auf einen Schalter gerichtet ist. Doch all das fällt nur wenig ins Gewicht, da das Abenteuer mit seiner einzigartigen Atmosphäre gewinnt und zum Weiterspielen reizt.

Den polnischen Entwicklern von Starward Industries ist es gelungen, eine vor allem optisch unverwechselbare Science-Fiction-Welt zu erschaffen. Denn was sie präsentieren, ist eine wilde, aber dennoch harmonische Mischung aus sowjetischem Retrofuturismus, der Ästhetik von 60er-Jahre-Pulp-Romanen und modernem Atompunk. Das manifestiert sich in Dartpfeil-artigen Raumschiffen, elegant geformten Spinnen-Robotern mit wuchtigen Kanonen und in Raumanzügen, die aussehen, als wären sie aus einem russischen Raumfahrtmuseum stibitzt worden. Touchscreens und Hologramme? Die sucht man vergeblich. Stattdessen finden sich überall breite Kipp- und Drehschalter und flimmernde Röhrenmonitore.

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In seinen besten Momenten lässt The Invincible wahrlich daran glauben, in einen Roman von Stanisław Lem einzutauchen – und eine Zukunftswelt zu erleben, wie sie sich der polnische Autor wohl vorgestellt hätte. Die mysteriöse und aufgeladene Atmosphäre des Romans wird gut in die interaktive Welt übersetzt. In manchen Passagen scheitert das Videospiel jedoch daran, die Glaubwürdigkeit seiner Welt aufrechtzuerhalten. Auch die großen Fragen, die Lem in seiner Romanvorlage stellt – und die Antwortoptionen, die er gefunden hat –, finden sich zwar im Spiel wieder, werden jedoch eher über Yasna als Sprecherin präsentiert, statt vom Spieler selbst entdeckt zu werden. Diese kleinen Schwächen motiviert allerdings dazu, nach dem Durchspielen auch mal wieder zum Roman zu greifen.

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