Es war ein bemerkenswerter Abend gestern in der neuen Social-Media-App Clubhouse, die nur auf Audio, also Gespräche, setzt und derzeit ausschließlich für Leute mit iPhone und einer Einladung zugänglich ist.
Gehässige Naturen würden sagen, dass die selbstbezüglichen Metadiskussionen einer iPhone-Elite im Corona-Koller ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden haben, während in den Krankenhäusern viele Menschen sterben und sich durch die Ernennung eines neuen US-Präsidenten vermutlich der Weltgeist nicht wenig änderte.
Mit einem bisschen Wohlwollen aber konnte man einen ganzen Berufsstand, den der Journalisten, um ein neues Selbstverständnis ringen hören – in einer Zeit, die sich sehr um Inklusion bemüht, dabei aber immer wieder auch neue Ausschlüsse produziert. In einer Welt, die natürlich im Takt läuft mit den lange evolvierten kulturellen Eigenheiten ihrer Nationalstaaten, dies aber auf einem zunehmend digital-globalen Paket, deren Regeln nun immer öfter innovative Butzen aus dem Sillicon Valley vorgeben, die vor einigen Monaten noch keine Sau kannte.
Was also war passiert? In einer Diskussionsrunde zum Thema „Lügenpresse“ laden die Moderatoren eine Teilnehmerin aufs Podium, die sich selbst als neoliberale Journalistin und Model bezeichnet, in der Welt der sozialen Medien aber als bedeutende Influencerin der neuen Rechten verschrien ist (bzw. dafür von vielen ihrer zigtausend Follower bewundert wird).
Schockiert über die Plattform, die man durch die Clubhouse-Debatte dem Rechtspopulismus bietet, twittert eine Journalistin Folgendes:
Die Reaktionen sind wie erwartet: Empörung auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Auf der einen, dass man aus den langjährigen Erfahrungen mit der AFD nichts gelernt habe und der politischen Korrumpierung der neuen Plattform Clubhouse wie schon so oft tatenlos zusähe. Auf der anderen, dass hier erneut ein Beweis für einen Cancel-Versuch vorläge und die neue Plattform Clubhouse gleich zu Beginn von einer intoleranten Linken vereinnahmt würde. Und die abgebildeten Journalisten zeigen sich empört, vor der versammelten Twitter-Mannschaft an eine Art Pranger gestellt zu werden, ohne dass der Kontext der Diskussion durch den kurzen Tweet klar würde.
Dieser Tweet nun findet seinen Weg – und hier wird die Spirale der sozialmedialen Selbstreferenzialität ein gutes Stück weiter gedreht – zurück in einen Diskussionsraum bei Clubhouse, in dem sich Dutzende Journalisten, viele vom Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunk und der BILD-Zeitung, zum Thema „Fluch oder Segen - was ist Clubhouse für den Journalismus?“ tummeln.
Dort wird nun, während sich der Raum zunehmend mit immer mehr Zuhörern füllt, in der Spitze weit über 2000, engagiert über den Tweet debattiert. Es geht zunächst darum, ob es gerechtfertigt sei, Screenshots aus einer Audio-App ohne Kontext von einem Netzwerk in das andere schwappen zu lassen. Es geht um die Association Fallacy, um den medialen Umgang mit Rechten im Allgemeinen und eben jener Anabel Schunke im Speziellen. Und letztlich geht es um die Frage, wer denn für die ganze Chose eigentlich die Regeln machen und welche Rolle der Journalismus dabei spielen solle.
Nun bekommt die Urheberin des Tweets von der neuen Diskussion Wind und meldet sich, um auf das Podium zu kommen und sich erklären zu dürfen. Die Diskussion geht weiter, ausgewogen und besonnen, wie es die Regeln des Clubhouse vorschreiben. Keiner fällt ins Wort. Eine neue Teilnehmerin, erstmals keine Journalistin, wirft als neuen Aspekt die Solidarität in den Raum, die die Journalisten gegenüber den Opfern rechter Politik zu zeigen habe. Und weiter geht es: Wie solidarisch sollten, können Journalisten sein? Welche Grenzen sollten von vorne herein als gesteckt gelten? Ein Gesetzestext zur Meinungsfreiheit wird verlesen. Und man merkt: Hier geht es wirklich ums Eingemachte, um den Grundsatz. Wie kann und muss Journalismus heute sein?
Und dann wird es, man spürt das Knistern förmlich im Raum, plötzlich spannend: Der Moderator vermeldet, dass die neoliberale, faschistische, neurechte, wertkonservative Influencer-Hassprediger-Journalistin über die man gerade zwei Stunden trefflich gestritten hat, nun ebenfalls im Raum sei und sich gemeldet habe, um an der Diskussion teilzunehmen.
Erneut wird engagiert von der einzigen Nicht-Journalistin, die sich selbst als BPOC, also Black Person Of Color, bezeichnet, Solidarität gefordert, die Teilnehmer werden aufgeregter, der Ton kurz lauter, am Ende wird Schunke der Zugang nicht erteilt. Die Diskussion indes geht weiter, erst gegen 1 Uhr nachts fällt der Vorhang. Die Ermüdung der Teilnehmer ist zu spüren. Einer macht im Anschluss einen neuen Raum auf. Es soll um einen gemeinsamen Verdauungsschnaps gehen. Rund 600 Teilnehmer folgen.
Währenddessen hat der Stein des Anstoßes, also Schunke, einen empörten Post für ihre Fans auf Facebook verfasst und auf Twitter geteilt. Kurz danach eröffnet sie bei Clubhouse eine neue Diskussionsrunde: „Cancel Culture auf Clubhouse“. Anscheinend wird ihr Profil nun von vielen Teilnehmern als anstößig gemeldet. Ihr Account wird temporär gesperrt, die Cancel-Culture-Session ist gecancelt, die Debatte geht auf anderen Kanälen weiter.
Und die Moral von der Geschicht? Vermutlich wird jeder, der sie liest, mit seiner ureigenen politischen Position seine ganze eigene Bewertung vornehmen. Für mich ist folgendes entscheidend: Es ist gut, wenn neben den Dopamin-getriebenen Like-Optimierungsorgien von Twitter und Co. neue Incentives entstehen, sich an öffentlichen Debatten in sozialen Medien zu beteiligen. Politiker und Medienvertreter machen das gerade auf Clubhouse vor. Es ist generell gut, wenn Menschen miteinander reden. Dazu hat sich Sprache entwickelt. Und es ist gut, wenn man erkennt, dass Meinungen immer ihren Weg finden. Sie fließen immer irgendwohin. Und genau das ist vermutlich Demokratie. Let’s face it.